Liebe Weihnachtsgemeinde!
I.
Ich war tief berührt von meinen Begegnungen im Aufenthaltsraum unseres Flüchtlingshauses in Osnabrück: Eine afghanische Frau säugte ihr Neugeborenes. Es war drei Wochen alt, wie sie mir im perfekten Englisch mitteilte. Ich schluckte: „Also ist es auf der Flucht geboren?“ Die entkräftete Frau nickte unter ihrem hängenden Kopftuch. Ich fragte nach dem Entbindungskrankenhaus. Sie lächelte. Ein rührender Arzt hätte ihr auf einer Decke in einem Zelt bei der Geburt geholfen. Sie hätte in ihm einen von Allah geschickten Engel erblickt.
Ich kam mit ihr ins Gespräch: „Warum sind Sie geflohen, - im schwangeren Zustand?“ „Der Tod klopfte täglich an unsere Tür!“ erklärte sie mit feuchten Augen. „Mein Mann wurde zu Al Quaida gezwungen. Ich auch. Aber ich konnte fliehen. Mein Mann nicht.“ Wir schwiegen. „Was erwarten Sie hier in Europa?“ wagte ich zu fragen. Ihre Augen strahlten: „Einen Neuanfang. Eine Art Neugeburt – oder Wiedergeburt. Neu geboren werden, wie mein Kind, im sicheren Europa. Das erhoffe ich mir, ein neues Leben hier beginnen zu können.“ Und dann leise: „Hoffentlich mit meinem Mann!“ – Ich wurde nachdenklich: Neu anfangen, neu geboren werden…Ist das realisierbar?
Am Nebentisch spielten vier Jungs Tischfußball. Ich stellte mich daneben und kam mit einem 10-Jährigen ins Gespräch, mit der Übersetzungshilfe der jungen Frau, mit der ich gerade geredet hatte. „Woher kommst Du?“ fragte ich. „Aus Syrien, aus Aleppo!“ „Und wo sind Deine Eltern?“ Er schaute traurig zur Seite: „Die haben mich vorgeschickt. Ich sollte rauskriegen, wie’s in Europa aussieht.“ Ich wurde neugierig: „Haben Sie Dich nach Deutschland geschickt?“ Er: „Nein, nicht nach Deutschland. Ich soll meinen Onkel in Norwegen besuchen.“ „In Norwegen? Wie willst Du denn dahin kommen?“ fragte ich ungläubig. Er zuckte die Achseln: „Weiß nicht!“ Ich war überzeugt: Er würde es schaffen, dieser kleine Junge ohne Eltern und ohne Begleiter.
Ich fragte auch ihn: „Was versprichst Du Dir von einem Leben bei Deinem Onkel in Norwegen?“ Er zögerte: „Ein Leben ohne Flugzeuge und Bomben. Ich will neu anfangen – in der Schule und mit den Kindern von mein’m Onkel!“ Und er fügte hinzu: „Hoffentlich kommen meine Eltern bald…“ Tränen sollten an seiner Wange hinunter.
II.
Liebe Weihnachtsgemeinde! Warum berichte ich von diesen zwei ergreifenden Schicksalen? Ich sag’s Ihnen ehrlich: Weil sie mir einen Zugang zu unserem Predigttext heute am 1. Weihnachtstag eröffnen. Unser Predigt-Text aus dem Titus-Brief ist nämlich sperrig, schwierig und schwer zugänglich. Er steht in
Titus 3, 4-7:
4 „Als aber erschienen war die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unsres Heilandes, 5 machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan haben, sondern nach seine Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, 6 den er über uns reichlich ausgegossen hat, durch Jesus Christus , unsern Heiland, 7 damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des Ewigen Lebens würden nach unserer Hoffnung.“
Ein schwieriger, aber anrührender Text. Der Verfasser bekennt Gottes „Freundlichkeit und Menschenliebe“. Er erklärt: „Wir sind „selig“ geworden, nicht aufgrund unserer guten Taten und Werke, sondern aufgrund von Gottes Barmherzigkeit (typisch paulinisch; ein späterer Einschub?). Und dann kommt der Höhepunkt im Text: Gott hat uns selig gemacht durch das „Bad der Wiedergeburt“ und durch unsere „Erneuerung im Heiligen Geist“. Und zum Schluss spricht der Verfasser eine Verheißung aus: Wenn wir darauf hoffen, werden wir „Ewiges Leben“ empfangen.
Ich muss hier, liebe Weihnachtschristen, eine historische Erklärung einblenden: Mit dem „Bad der Wiedergeburt“ ist hier das „Bad der Taufe“ gemeint. Damals, im 2. Jahrhundert, wurden ja keine Säuglinge oder Kinder, sondern Erwachsene getauft. Und nicht durch ein nur so maues Kreuzzeichen mit Wasser auf der Stirn, wie wir es heute praktizieren, sondern durch ein kräftiges Untertauchen des ganzen Leibes im Wasser. Der alte Adam sollte ersäuft und ein neuer Mensch sollte als Christ wiedergeboren werden. – Genau das beschreibt der Verfasser des Titus-Briefes mit den Worten vom „Bad der Wiedergeburt“, von der „Erneuerung des Menschen im Heiligen Geist“ und vom „Ewigen Leben“.
Verstehen Sie jetzt, liebe Weihnachtsgemeinde, warum mir meine Begegnungen im Flüchtlingshaus diesen Weihnachtstext erschlossen haben? Die junge afghanische Mutter und der 10-jährige syrische Junge erhofften sich beide einen „Neuanfang“, ein „neues Leben in Sicherheit“, ja eine „Neugeburt“ und „Wiedergeburt“. Das neu geborene Kind war der erschöpften jungen Mutter zum Sinnbild für „neues Leben“ geworden. Neu anfangen! Das Alte hinter sich lassen! Wiedergeboren werden! Das waren ihre Wünsche!
Alle, die in der Flüchtlingsarbeit mit dabei sind und mithelfen, werden das bestätigen: Wer entkräftet und erschöpft hier ankommt, der erhofft sich ein neues Leben. Er/Sie möchte neu geboren werden. Neu anfangen!
Freilich: Die Flucht war keine Taufe. Und wahrscheinlich war sie auch nicht vom Heiligen Geist begleitet, - bzw. die meisten Flüchtlinge empfanden das Leid der Flucht nicht als Geschenk des Heiligen Geistes, sondern eher als diabolischen Schmerz. Aber die Hoffnung auf einen Neuanfang war und ist bestimmt bei allen Geflohenen vergleichbar mit der Hoffnung auf ein gelingendes Leben nach der Taufe.
III.
Was hat solche Hoffnung auf einen Neuanfang mit Weihnachten zu tun? Warum haben die Kirchenverantwortlichen diesen Text von der Erneuerung und Wiedergeburt als Predigt-Text für Weihnachten vorgeschlagen? Weil auch Weihnachten ein Fest der Erneuerung und der Wiedergeburt ist! Weil auch Weihnachten nicht nur eine Zeitenwende markiert, sondern möglicherweise auch eine Wende in unserem persönlichen Leben!
Eine Wende in unserem persönlichen Leben? Wiedergeburt und Erneuerung unseres Lebens ausgerechnet zu Weihnachten, der terminlich festgelegten Stresszeit? Sind die Weihnachtstage nicht die denkbar ungünstigste Zeit für solche Lebenserfahrungen? Ja, natürlich: Weihnachten ist nicht auf den 24. und 25. Dezember festgelegt. Weihnachten ist dann, wenn ich spüre, dass Gott eine Erneuerung und eine Wende in mir wirkt. Aber zu Weihnachten passiert eben doch viel. Wenn Sie auf die Weihnachtsfeiern in Ihrem Leben zurückblicken, was erinnern Sie dann besonders? (Kurze Stille) Sicherlich auch Zeiten der Erneuerung: Vielleicht haben Sie ein neues Verhältnis zu Ihren noch lebenden oder schon verstorbenen Eltern erspürt; oder ein neues Verhältnis zu Ihrem Partner oder Ihrer Freundin; oder ein neues Verhältnis zu Ihren Kindern; oder jetzt an diesem Weihnachtsfest: ein neues Verhältnis zu Flüchtlingen. Vielleicht sind Sie gerade zu Weihnachten von Dankbarkeit erfüllt. Vielleicht empfinden Sie die Liebe Ihrer Mitmenschen an diesem Tag ganz besonders. Unsere Weihnachts-Erinnerungen können ein Quell für neues Lebens sein. Und vielleicht führen sie uns zu einem Neuanfang.
Dietrich Bonhoeffer hat zu Weihnachten 1944 in seiner isolierten Gefängniszelle Wiedergeburt und Erneuerung erfahren. Er erlebte, wie er schrieb, die Gegenwart und Liebe seiner Eltern, Geschwister und seiner Verlobten Maria so intensiv wie selten zuvor. Er fühlte sich von Ihnen umfangen und nicht allein. Und er erklärte sich das mit Gottes Menschwerdung. Gott sei, so war er überzeugt, in der Liebe seiner Angehörigen direkt präsent! Weil Gott Mensch geworden sei, würde er, Dietrich Bonhoeffer, menschliche Liebe als göttliche Liebe Empfinden. Das sei ihm, so schrieb er, zu Weihnachten 1944 mitten im Bombardement auf Berlin neu aufgegangen.
Und noch mehr: Er glaube, so schrieb er, dass Friede möglich und wahrscheinlich sei, weil Gottes Friede eben Realität geworden und in die Geschichte eingegangen sei. „Gottes Friede ist auch in der Welt möglich, weil Gott Mensch geworden ist“ vermerkte er auf einem abgerissenen Zettel in seiner Gefängniszelle. Und dann schrieb er zur Jahreswende 1944/1945 das berühmte Gedicht:
Von guten Mächten, treu und still umgeben
behütet und getröstet wunderbar, -
So will ich diese Tage mit Euch leben
und mit Euch gehen in ein Neues Jahr…
Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all Deiner Kinder hohen Lobgesang.
Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Dietrich Bonhoeffer erlebte Weihnachten als Wiedergeburt und innere Erneuerung seines Lebens. Auch die junge afghanische Mutter und der 10-jährige syrische Junge erhofften sich Erneuerung und neues Leben. Wir sollten ihnen dabei zu einem von Gott gesandten helfenden Engel werden, - weil Gott Mensch geworden ist.