Predigt zur Jahreslosung 2012 von Dörte Gebhard
12,9

Predigt zur Jahreslosung 2012 von Dörte Gebhard

Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
                                                                                              (2. Kor 12,9)
Gnade sei mit euch und Friede, von dem, der da ist, der da war und der da kommt.                                                                       Amen.
Liebe Gemeinde,
Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Ein altes Wort, aber genauso jung, paradox und noch immer unerfahren wie das neue Jahr.
Nur zehn Wörter. Paulus schrieb griechisch, da sind es nur sechs. Mitten in der Masse, mitten in den rauschenden und lauten Wörterfluten trifft uns eine echte Herausforderung. Schaffen wir es noch heraus aus unserer überwörterten, überbilderten Welt? Horchen wir für einen kleinen Moment hinüber, hinein in eine andere Welt? Dorthin, wo man hören kann, dass die Schwachen Macht haben, in eine Welt hinein, in der es lohnt, ein ganzes Jahr über einen Satz nachzudenken, der nicht einmal eine ganze Zeile lang ist?!
Natürlich kann man auch sofort mit den paar Buchstaben fertig sein, man muss dann nur schnell ein paar Wörtchen mit ihnen reden, sich fix einen Reim darauf machen. Möglicherweise so:
Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
 - Ach, ist Gottes Kraft nur schwach mächtig? So fragen die anderen, die Spötter.
 - Hat Jesus nicht eigentlich alles richtig falsch [!] gemacht? So fragen die anderen, die sich selbst für viel stärker als wiederum die anderen halten.
- Wo ist überhaupt Gottes Kraft? So fragen die anderen, umringt von Ängsten und Sorgen, von Furcht und Bitterkeit.
- Was gehen mich die anderen an? So fragen die anderen, die die anderen gar nicht kennen.
Natürlich, das sind die alten Fragen im jungen Jahr. Es sind aber vor allem Fragen für ein ganzes Jahr und wir könnten nicht nur Zeilen, sondern Seiten, Bücherbände, Festplatten damit füllen.
Paulus fasst sich kurz, wenn er Gottes Antwort in unsere Welt hinein hören lässt: Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Zehn Wörter, auf Griechisch nur sechs.
Ich predige deshalb über alles, was – Gott sei Dank – nicht gesagt wird. Die Predigt geht drei Dimensionen nach, die in diesen wenigen Wörtern frei bleiben. Damit fängt das Verstehen des Paradoxen an.
Es geht – erstens – nicht um unsere Willenskraft (1).
Es gibt sie  – zweitens – nicht, die Starken hier und die Schwachen dort (2).
Es geht – drittens – überhaupt nicht. Es geht nicht dahin, sondern kommt auf uns zu. Gottes Dynamik ist im Werden (3).
(1) Weil alles davon abhängt, dass nichts von uns abhängt, beginnt die Predigt mit Gottes Unabhängigkeit von unserem Willen.
Es geht nicht um unsere Willenskraft. Es heißt gerade nicht: Wenn ihr euch anstrengt, wenn ihr eure guten Vorsätze durchhaltet, wenn … wenn … wenn … dann …
Ein Menschenwille ist eine schwache Sache.
Ein Menschenwille verliert sich oft in schiere Gier.
Ein Menschenwille sucht und findet – nicht selten – eine Sucht.
Ein Märchen, das die Brüder Grimm in Nordostdeutschland gefunden haben, erzählt grausam und tröstlich, wie es um den menschlichen Willen bestellt sein kann. „De Fischer un sin Fru“ sind mit ihrem Gewille und Gewolle verwildert, so wie es Paulus gegen Ende seiner Schaffenskraft über sich selbst schrieb: Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich (Röm7, 18b-19)
Das Märchen verteilt diesen Zwiespalt auf seine zwei „Helden“: Die Frau will mehr als alles und tut nichts, der Mann will’s nicht und tut doch alles dafür.
Der Fischer wird von seiner Frau unentwegt zu einem Butt, einem fetten, hässlichen Fisch geschickt, der ihrem Wollen scheinbar zu willen ist, und muss so sprechen:
„Manntje, Manntje, Timpe Te,
  Buttje, Buttje in der See,
  mine Fru, de Ilsebill,
  will nich so, as ik wol will."
  Dann kommt der Butt geschwommen und sagt: „Na, was will sie denn?" „Ach", sagt der Mann, „nun sagt meine Frau, ich hätt mir doch was wünschen sollen. Sie mag nicht mehr in ihrer Hütte wohnen, sie will gern ein kleines Häuschen." „Geh nur hin", sagt der Butt, „sie hat es schon." So geht es jede schlaflose Nacht für die beiden, bis die Frau im Palast König, Kaiser, zuletzt Papst ist …
Aber auch als Papst hat sie eine unruhige Nacht, sie denkt immer noch, was sie noch werden könnte, und kann sich doch auf nichts mehr besinnen. Indessen will die Sonne aufgehen, und als sie das Morgenrot sieht, setzt sie sich aufrecht im Bett hin und sieht starr hinaus. Und als sie aus dem Fenster die Sonne so heraufkommen sieht, denkt sie, „Ha, kann ich nicht auch die Sonne und den Mond aufgehen lassen?" „Mann“, sagt sie und stößt ihn mit dem Ellenbogen in die Rippen, „wach auf, geh hin zum Butt, ich will werden wie der liebe Gott!" Der Mann ist noch ganz schlaftrunken, aber er erschrickt so, dass er aus dem Bett fällt. Er meint, er hat sich verhört, reibt sich die Augen aus und sagt: „Ach, Frau, was willst du?“ „Mann“, sagte sie, „wenn ich nicht die Sonne und den Mond aufgehen lassen kann –das halte ich nicht aus. Ich habe dann keine ruhige Stunde mehr.“ Dabei sieht sie ihn böse an. „Gleich geh hin; ich will werden wie der liebe Gott!“ „Ach, Frau“, sagte der Mann und fällt vor ihr auf die Knie, „das kann der Butt nicht. Kaiser und Papst kann er machen; ich bitte dich, geh in dich und bleibe Papst!“ Da kommt die Bosheit über sie; die Haare fliegen ihr wild um den Kopf, und sie schreit: „Ich halte das nicht aus! Ich halte das nicht länger aus; willst du hingehen?“
Da zieht er sich die Hosen an und läuft davon wie unsinnig. Draußen geht der Sturm und braust, daß er sich kaum auf den Füßen halten kann. Die Häuser und die Bäume werden umgeweht, und die Berge beben, und die Felsenstücke rollen ins Meer, und der Himmel ist pechschwarz, und es donnert und blitzt. Da schreit  er, und er kann sein eigenes Wort nicht hören:
  „Manntje, Manntje, Timpe Te,
  Buttje, Buttje in der See,
  mine Fru, de Ilsebill,
  will nich so, as ik wol will."
  „Na, was will sie denn?" sagt der Butt. „Ach“, sagte er, „sie will werden wie der liebe Gott.“ „Geh nur hin, sie sitzt schon wieder in der Fischerhütte." [plattdeutsch: „im Pisspott“].
  Da sitzen sie noch bis auf den heutigen Tag.
Liebe Gemeinde,
das Märchen ist grausam, weil es im „Pisspott“ endet, das Märchen ist tröstlich, weil Gott – nach seinem Willen – bei den Schwachen ist und darum im Elend wohnt.
Es geht nicht um unseren Willen – dann hätte Gottes Kraft keine Chance in der Welt, dann könnte aus allem nichts werden.
Wenn aber Gott seinen Willen geschehen lässt, wie wir unentwegt bitten, werden wir unabhängig von unserem zu schwachen oder zu starken Willen.
Es wird nicht appelliert, niemand wird unter Druck gesetzt. Ehrlich betrachtet kennen wir die Grenzen unseres Vermögens, auch wenn wir uns Mühe geben. Wie weit muss man gehen, um diese kleine Konsequenz aus Worten zu finden: Ich muss nicht, deshalb kann ich!?
Paulus, der nicht zurückhaltend ist mit guten Ratschlägen, mit Ermahnungen, strengen Ermunterungen und deutlichen Anweisungen, der noch in den Grüßen am Schluss eines Briefes wenig harmlose Forderungen stellt, wie es in den Gemeinden und bei den Christen laufen sollte, sagt hier Gottes Kraft an und überliefert keine Bedingungen. Gottes Kraft war in ihm mächtig, den Zeigefinger zwar zu heben, aber nur, um heraus und hinauf  in den Himmel zu zeigen.
Es geht nicht nach deinem Willen. Es geht nicht um meine Willenskraft. Es geht um Jesu göttliche Willensfreiheit, mit der er – freilich nur kurz – auf Erden gelebt hat.
(2) Es kann also – zweitens – nicht darum gehen, die Menschheit in stark und schwach auseinanderzudividieren. Es sind nie die einen hier und die anderen da, es gibt sie überhaupt so nicht: die Starken und die Schwachen. Alle sind beides.
Von den großen Schwächen spricht keiner gern, der doch stark sein will. Darum haben wir sie mit Wörtern überflutet. Unsere Schwächen sind überwörtert, aber darunter [!] leiden wir weiter – an burnout oder Sachzwängen ausgeliefert zu sein oder am Gefühl, untätig naher Menschen Leiden zusehen zu müssen.
Ein altes christliches Missverständnis sei nur am Rande erwähnt: Es geht weder darum, sich besonders kräftig schwach zu gebärden, noch bei aller Schwäche den Starken zu markieren. Menschen sollen sich auch nicht gegenseitig schwach machen, schon gar nicht vor oder für Gott. Paulus dachte keinesfalls an gewollte und gekonnte Selbstschwächungen, Selbstkasteiungen, wie spätere Asketen trainierten, sondern an seine Gefangenschaften, an seine Folterungen, an seine Verfolgungen und Ängste, an alles, was er von anderen zu erdulden hatte.
Gott wird nicht größer, wenn wir uns klein machen. Aber Gott wird auch nicht kleiner, wenn wir uns größer und mächtiger dünken als wir sind. Weder unsere Macht noch unsere Ohnmacht ändern etwas an der Kraft Gottes.
Es gibt sie nicht, die Starken und die Schwachen. Ob Menschen stark oder schwach sind, hängt vom Gegenüber ab.
Peter Sloterdijk hat herausphilosophiert: „Mit allem, was stärker ist als sie selbst, sind moderne Individuen tendenziell allein“.[1] Aber jedes denkende Wesen muss „sich in ein bewusstes Verhältnis zu dem bringen, von dem es weiß, dass es stärker ist als es selbst.“[2]
Stärker als jede und jeder von uns sind und bleiben Liebe und Tod, obwohl wir alle allnächtlich dieses grundlose Vertrauen trotz völliger Ohnmacht üben, üben, üben …
Denn eigentlich in jeder Nacht schenkt Gott uns die Erfahrung der Kraft, die in den Ohnmächtigen wirkt, wenn wir dem kleinen Bruder des Todes, dem Schlaf, begegnen müssen. Wenn wir einschlafen, geben wir alle unsere Kräfte, zuletzt uns selbst auf: „Die Welt hält mich nicht länger hier – sie geht aus mir fort, wie eine Schwester mit Flügelhaube und weiten Gewändern, die hinter sich das Licht ausmacht. Was kann ich anderes tun, als gutgläubig sie gehen zu lassen? Dass ich ein Weltkind bin, trotz allem – zeigt es sich nicht daran, dass mein Vertrauen ausreicht, um den Weltuntergang ohne Panik hinzunehmen? Bis morgen bin ich unsterblich. Die Welt, sie wird doch wiederkommen – wie ein alter Stern und ein neues Versprechen …“.[3]
So üben wir jeden Tag das Sterben, hoffentlich voller Hoffnung auf die Liebe, die uns wieder aufwachen und aufstehen lässt. Nichts macht uns so stark wie die Liebe, die Gott in unzähligen Formen und Farben, Arten und Sorten, Stärken und Schwächen in seine Welt hineinlegt, nichts lässt Gott und uns so ohnmächtig zurück, wenn sie nicht erwidert wird.
Das geht nicht.
(3) Es geht – drittens – überhaupt nicht, sondern „es“ kommt. Gottes Kraft – griechisch dynamis – ist im Werden.
Dynamischer, genauer gesagt: Gottes Kraft wird in den Schwachen mächtig. Gottes Kraft ist nicht deshalb nicht feststellbar, sie steht uns nicht zur Verfügung, wir können sie nicht halten wie Zepter oder Schwert oder Geld oder was auch immer wir für Zeichen von Macht halten mögen, wenn wir sie in den Händen halten mögen … Sie ist so flüchtig und so dynamisch, so schwach und so stark wie ein Wort.
Jesus Christus spricht – was ist ohnmächtiger als ein Wort, wenn es keiner weitersagt und keiner hört? Keine es aufschreibt, keine es vorliest.
Jesus Christus spricht – was ist kräftiger als ein Wort? Die Diktatoren der Welt fürchten nicht umsonst das Wahrheitsgezwitscher auf Twitter, sperren Menschen ein, die nur den Mund auftun, verbieten Bücher, hassen das Internet, weil es ihre Machtgrenzen überschreitet. Gottes Kraft ist schon in schwachen Worten mächtig.
Aber das geht nicht – das wird erst.
Ein gutes neues Jahr wird es werden, dank dem Frieden Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus stärkt und bewahrt,                                                                                         Amen.

  
  
    [1] Sloterdijk, Peter: Weltfremdheit, Frankfurt a. M., S. 143.
  
  
    [2] Sloterdijk, S. 141.
  
  
    [3] Sloterdijk, S. 332.