Predigtreihe Katharina von Bora und Martin Luther

Predigtreihe Katharina von Bora und Martin Luther

Predigtreihe Katharina von Bora und Martin Luther

 

Ein ganzes Leben leben

Predigt zu Lukas 10, 38-42

Pfarrerin Kathrin Oxen, Lutherstadt Wittenberg

 

Ob sie eigentlich jemals Sehnsucht gehabt hat nach der Stille zwischen den Mauern des Klosters in Nimbschen? Nach der Ordnung ihrer Tage zwischen Beten und Arbeiten und nach dem Schweigen? Katharina von Bora kannte nichts anderes als das Leben im Kloster. Schon als kleines Mädchen wurde sie dorthin gegeben. Die Zisterzienserinnen in Nimbschen versorgten sich weitgehend selbst. Katharina lernte dort neben Lesen und Schreiben auch Haus- und Landwirtschaft. 1515 legte sie ihre ewigen Gelübde ab. Keine Entscheidung aus eigenem Antrieb, sondern ein vorgezeichneter Weg. Ein Leben, das ohne Umwege in den Himmel führen sollte.

„Wir schenken dir das ewige Leben, Katharina“. Aber die kleine Katharina weint und wehrt sich, als ihr Vater sie an der Klosterpforte abgibt. Der Satz war als Trost gemeint. Er hat niemanden getröstet, auch nicht den Vater.

 

Eine Szene aus dem Film über Katharina von Bora. Er war im Fernsehen zu sehen. Katharina hatte ihr ganzes Leben im Kloster verbracht. Sie kannte kein anderes Leben. Aber sie hatte trotzdem Sehnsucht danach. Die Ideen Martin Luthers dringen durch die Klostermauern bis zu ihr. An Ostern 1523 schickt Luther selbst einen Vertrauten mit einem Fuhrwerk nach Nimbschen. Der holt zwölf Nonnen ab und fährt sie nach Wittenberg. Und aus der Nonne Katharina von Bora wird eine Ehefrau und Mutter von sechs Kindern. Auf der Predella des Reformationsaltars hat Lucas Cranach sie gemalt.

 

Wir machen uns Bilder von Katharina. Wir glauben ja beinahe, sie persönlich zu kennen. Bei ihrer Hochzeit sind wir hier in Wittenberg in jedem Jahr dabei. Wir kennen ihre sagenumwobene Tüchtigkeit, auch Geschäftstüchtigkeit. Ihr Verständnis für ihren Mann, dem stets überarbeiteten Doktor Martinus. Sie hält ihm den Rücken freihält und regelt die Widrigkeiten des Alltags geräuschlos für ihn. Sie willigt ein, die Frau an seiner Seite zu sein und darin ihre Erfüllung zu finden. Der Film über sie findet eindrucksvolle und schöne Bilder dafür.

Wir machen uns eigene Bilder. Und ich frage mich: Hatte Katharina im Schwarzen Kloster in Wittenberg, in ihrem neuen Leben eigentlich manchmal Sehnsucht nach der Stille in dem Kloster, aus dem sie kam?

„Ich will das ganze Leben leben“. Diesen Satz bekommt sie im Film in den Mund gelegt. Katharina von Bora hatte ein Leben. Und dann kam ein anderes, höchst bemerkenswertes, bis heute unvergessenes. Aber sind zwei Hälften schon ein ganzes Leben? Und hört die Sehnsucht nach dem anderen Leben irgendwann auf?

 

Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf.

Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf.

Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria;

die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu.

Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen.

Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach,

dass mich meine Schwester lässt allein dienen?

Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll!

Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr:

Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe.

Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt;

das soll nicht von ihr genommen werden.

 

Diese Geschichte hat Katharina ins Kloster gebracht. Über Jahrhunderte wurde sie als Geschichte von zwei Schwestern gelesen, die zwei gegensätzliche Leben leben. Marta steht in dieser Lesart für das Leben in der Welt mit dem Alltag und seinen täglichen Herausforderungen. Maria steht für ein Leben in der Abwendung von der Welt und ihren Notwendigkeiten, für ein ganz auf Gott gerichtetes Leben. Und das kann man am besten hinter den Mauern eines Klosters führen, in Armut, Keuschheit und Gehorsam, in der Stille und Ordnung der Tage zwischen Arbeit und Gebet. Und viele Jahrhunderte lang es schien klar zu sein, welcher Weg der bessere ist.

Wenn Jesus schon sagt, dass Maria das gute Teil erwählt hat, dann muss es doch wohl das bessere sein. Zwei Schwestern und zwei Leben.

 

„Ich will das ganze Leben leben“. Das war Katharinas Satz im Film. Aber das ist auch schon Martas Satz. „Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester allein lässt dienen?“ Marta ist nicht zufrieden. An ihrer Schwester Maria sieht sie, dass es auch etwas anderes gibt als Sorge und Mühe des Alltags. Ungeteilte Aufmerksamkeit für den Gast. So zuhören, als sei alles andere völlig unwichtig. Jesus zu Füßen liegen.

Davon, wie es Maria geht, erzählt die Geschichte nichts. Ob sie auch etwas vermisst? Das gute Gefühl, genau zu wissen, was zu tun ist und kräftig anzupacken, zum Beispiel. Die anerkennenden Blicke für die eigene Tüchtigkeit und die Dankbarkeit im Gesicht des Gastes. Jesus war doch bestimmt auch hungrig und durstig. Zwei Schwestern und zwei Leben. Und immer die Sehnsucht nach dem anderen Leben.

 

Diese Geschichte hat Katharina ins Kloster gebracht. Und wieder heraus. Sie war eine Maria und sie wurde eine Marta. Und in den Jahrhunderten danach haben wir uns Bilder von ihr gemacht, von der starken Frau an der Seite des großen Reformators. Das Schwarze Kloster als Ort professioneller Gastfreundschaft mit Unterkunft und Vollverpflegung. Die Gäste, die Studenten, die Dienstboten, dazwischen die Kinder und der Mann. Der darf natürlich nicht gestört werden. Aber sie muss alles aushalten. Besuch, Gespräche, Kindergeschrei und abends noch die Tischreden. Ich sehe sie manchmal in der Küche stehen und denken: Wenn es doch endlich einmal still wäre. Und trotzdem: Sie will hier sein und nirgendwo anders.

 

Und dann ist sie meine Schwester. Dann sind wir alle Schwestern, Maria und Martha und Katharina und Kathrin. Wir wollen alle das ganze Leben leben. Wir wollen Stille und Lärm. Wir wollen alleine sein und mit anderen. Ich bin ihre Schwester, die abends mit dem Laptop am Küchentisch sitzt, um noch eine Predigt fertig zu schreiben, diese zum Beispiel. Und dann die dann denkt, dass das mit dem Kloster eigentlich gar keine schlechte Idee wäre, denn da wäre es still und ich hätte meine Ruhe und wäre sicher schon längst fertig gewesen.

Aber das denke ich meistens nicht sehr lange. Ich will ja hier sein, in meiner Küche, trotz allem. Ich will Kinderlärm und die stille Stunde am Schreibtisch. Ich will mir alleine Gedanken machen und jemanden haben, der mir zuhört. Denn das ist mein Leben. Und es fühlt sich wie ein ganzes Leben an.

Maria und Marta sind Schwestern. Manchmal geht es gut mit ihnen und manchmal geraten sie aneinander. Jesus wendet sich ihnen beiden zu. Er genießt die Aufmerksamkeit Marias. Ihm schmeckt das Essen, für das Marta sorgt. Er will nicht die eine gegen die andere Schwester ausspielen.

Und er zeigt Marta, dass man ein ganzes Leben leben kann. Wenn man erkennt, wann das eine dran ist und wann das andere. Die Liebe hat das stille Gesicht Marias, die nichts anderes tut als Jesus zuzuhören. Die Liebe hat die rauen Hände Martas. Zur gleichen Zeit.

 

Ich will ein ganzes Leben leben. Und ich bin dankbar für Martin und für Katharina. Mit ihrem Leben haben sie gezeigt, dass man Gott auf verschiedene Weisen lieben kann. Schon vor seiner Hochzeit hatte Martin Luther geschrieben, dass „Windeln waschen, Betten machen, die Nächte durchwachen“ Gott genauso gut gefällt wie ein Leben als Mönch oder Nonne im Kloster.[1] Das ist keine Idee geblieben. Er hat ernst gemacht damit, als er eine der entlaufenen Nonnen aus Nimbschen geheiratet hat. Daraus ist ein gemeinsames Leben geworden. Ein ganzes Leben. Und wir wissen, dass es trotz aller Sorge und Mühe sehr glücklich war.

 

Wir haben nur ein Leben. Und das ist ein Haus, in dem sie beide wohnen, Maria und Marta. Da ist es still ist und laut und der Tisch ist schön gedeckt und der Abwasch ist nicht gemacht. Jesus kommt zu Besuch. Und dann ist alles bereit.

 

Amen.

 

 

 

Mit Küssen

Predigt zu 2. Kor 13, 11-13

Pfarrerin Kathrin Oxen, Lutherstadt Wittenberg

 

Es ist noch hell an diesem Abend im frühen Sommer. Das Licht reicht lange. Gegen Abend geht es einmal durch die Stadt. Von Haus und Hof des Lucas Cranach zum Schwarzen Kloster, die Braut, das Gesinde mit der Aussteuer, ein kleiner Zug, von neugierigen Blicken verfolgt. Das ist doch eine der Nonnen aus Nimbschen, die bei Cranachs Unterschlupf gefunden hat? Nur wenige Menschen schließen sich der kleinen Gruppe noch an. An der Stadtkirche kommt Johannes Bugenhagen dazu,

der sie trauen wird, an der Universität Justus Jonas und ein paar von Luthers Freunden. An Philipp Melanchthons Haus gehen sie vorbei. Sie brauchen nicht warten, er wird heute nicht kommen. Seinen Segen haben die beiden nicht.

Der Kurfürst dagegen zeigt sich wieder einmal so, wie man ihn kennt und schickt die Ringe. Die sind eine Spur zu prächtig für den ehemaligen Mönch und die ehemalige Nonne. Arm sind die beiden zwar noch, gehorsam schon nicht mehr und keusch auch nicht mehr lange. Nach der Trauung wird die Ehe vollzogen. Unter Zeugen schlafen die beiden miteinander. So ist es üblich. Kein schöner Anblick sei das gewesen, wird Justus Jonas später erzählen, mehr Peinlichkeit als Leidenschaft. Ob sie sich geküsst haben, die beiden? Er weiß es nicht, er hat lieber nicht so genau hingesehen da im Dämmerlicht der Schlafkammer.

 

Es war ein langer Weg durch die Zeiten, viel länger als der Weg durch die Stadt, bis wir so groß und fröhlich Hochzeiten feiern. Luthers Hochzeit an diesem Wochenende in Wittenberg, aber auch die Hochzeiten unter uns. Katharina und Martin haben „in aller Stille“ geheiratet und dennoch hat ihre Hochzeit solchen Anstoß erregt wie selten eine. Auch engste Freunde wie Philipp Melanchthon waren sich nicht sicher, ob es nicht doch besser sei, ehelos zu leben, ob dies wirklich der richtige Weg sei. Dieser Weg hat begonnen mit Katharina und Martin. Ihre Liebe soll noch sehr gewachsen sein über die Jahre.

Die Peinlichkeit des Anfangs verwandelt in Leidenschaft, kein loderndes Feuer, aber eine stille und beständige Glut.  So ist's ja besser zu zweien als allein; denn sie haben guten Lohn für ihre Mühe. Auch, wenn zwei beieinander liegen, wärmen sie sich; wie kann ein Einzelner warm werden?

Als Martin später diese Zeilen aus der Bibel übersetzt, da weiß er schon lange, wovon da geredet wird. Seit Katharina neben ihm liegt im Schwarzen Kloster.

Es war der richtige Weg. Heute wissen wir das. Die Ehe von Katharina und Martin hat nicht nur das Gebot der Ehelosigkeit für Priester beendet, sie hat insgesamt die Ehe aufgewertet. Von Peinlichkeit keine Spur mehr, nicht einmal von der wirtschaftlichen und sonstigen Notwendigkeit, die Jahrhunderte lang bestimmend dafür war, dass und wer heiratet. Heute muss niemand mehr heiraten. Kein Paar braucht einen Grund dafür. Aber viele tun es trotzdem.

Und längst gehört in den Gottesdienst zur Trauung auch ein Kuss. Dieser Kuss sagt: Wir sind zwei Menschen und was wir zusammen haben, das ist mehr als gemeinsame Interessen oder eine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft. Wir sind als Menschen gemacht. Gott hat uns Fleisch und Blut werden lassen und das spüren wir, wenn wir zusammen sind. Wir sind Körper und wollen berührt werden. Leidenschaft, nicht Peinlichkeit. Und der Kuss ist der Vorgeschmack darauf.

 

Im Übrigen, lieber Bruder, liebe Schwester, freut euch, lasst euch zurechtbringen, lasst euch zureden, seid eines Sinnes, haltet Frieden - und der Gott der Liebe und des Friedens wird mit euch sein.

Grüßt einander mit dem heiligen Kuss. Es grüßen euch alle Heiligen.

Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch.

 

Ein anderer guter Freund Luthers schreibt heute. Paulus hätte seine Grüße auch direkt nach Wittenberg an Katharina und Martin schicken können. Es sind Grüße mit guten Wünschen. Sie verschweigen auch nicht, dass die „Küssenwochen“, wie Martin sie nannte, irgendwann zu Ende gehen werden und der Alltag beginnt.

Von Beziehungen zwischen zwei Menschen und auch von der Ehe hat Paulus ja nicht besonders viel gehalten. Er wäre wohl einer von den Freunden, die nicht mitgegangen sind zur Trauung von Katharina und Martin. Aber worum es geht in Beziehungen, das weiß er genau. Das zeigen die Briefe an seine Gemeinden. Darin ist er selbst zu sehen, mit der ganzen Bandbreite seiner Gefühle, zwischen Peinlichkeit und Leidenschaft: Gar nicht ankommen beim anderen, nicht so ankommen, wie man es sich wünscht, angenommen sein und verstanden werden, missverstanden werden, sich abwenden, einen neuen Anfang versuchen, um den anderen kämpfen, resignieren, sich aneinander freuen, den anderen langsam gut kennen, Neues entdecken, ziemlich genau wissen, was einen stört, trotzdem zueinander halten, nicht aufgeben, schon glauben, aufgeben zu müssen, dranbleiben, investieren und etwas zurückbekommen, investieren und nichts zurückbekommen, etwas geschenkt bekommen, nichts geschenkt kriegen, enttäuscht werden, überrascht werden.

So ist das in Beziehungen. So ist es Paulus gegangen, besonders mit der Gemeinde in Korinth, an die er schreibt.

Und so ist es auch mit den Küssen. Flüchtig, gierig, nur auf die Wange, brennend, vorsichtig. Küßchen links, Küßchen rechts, Bruderkuss. Noch einmal voller Bedauern, mit schlechtem Gewissen, wie dafür bezahlt, nur für besonders liebe Freunde, bei jeder Gelegenheit. Eilig am Morgen, tief in der Nacht. Der erste Kuss. Der letzte Kuss. Der Kuss, den du nie bekommen hast.

 

Trotz aller Schwierigkeiten, die die Gemeinde mit sich selbst und mit Paulus hatte, stehen am Ende des Briefes seine guten Wünsche. Die „Küssenwochen“ sind vorbei in Korinth, mit dem Frieden ist es so eine Sache, aber Liebe haben sie noch füreinander. Es gibt Küsse, vielleicht nur flüchtig und auch mit schlechtem Gewissen, aber immerhin: richtige Küsse. Unter Christen, zur Begrüßung und zum Abschied.

 

Grüßt einander mit dem heiligen Kuss. Peinlichkeit, nicht Leidenschaft bei der Vorstellung, wie es wäre, wenn das heute noch üblich wäre. Auf dem Weg durch die Zeiten hat sich der Kuss verwandelt, von einem richtigen Kuss zum Friedensgruß beim Abendmahl. Da reicht man dann einander die Hand und sagt „Friede sei mit dir“. Die man kennt, die lächelt man einfach ein bisschen mehr an als die, die heute nur zu Besuch sind im Gottesdienst. Aber bitte alles in Grenzen, es bleibt in der Regel natürlich beim Händeschütteln. Weil wir doch noch denken, dass es zwei Sorten Liebe gibt. Eine mit Leidenschaft, eine eher ohne. Eine mit Küssen, eine eher ohne. Eros und Agape auf Griechisch, amor und caritas auf Latein, auf Deutsch Liebe, mit Küssen und ohne. Jeder weiß dann schon, was wann dran ist.

 

Unter anderem, weil Paulus es nicht so hatte mit den Beziehungen zwischen zwei Menschen, wurde unter Christen lange Zeit nicht nur unterschieden zwischen der Liebe mit und ohne Küssen. Es wurde lange Zeit auch gesagt, dass die Liebe ohne Küssen die bessere sei, eine Tugend. Die andere Liebe dagegen – so unberechenbar, immer gefährlich, eine Sünde.

Das saß Katharina und Martin als Angst im Nacken, als sie geheiratet haben. Und zu ihrem und zu unserem Glück haben sie erfahren, dass das nicht stimmt. Sie haben Freude gehabt aneinander, nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht. Es war besser zu zweien als allein. Weil wir Menschen sind. Weil wir Körper sind und berührt werden möchten. Leidenschaft, nicht Peinlichkeit. Wenn wir in Wittenberg das ganze Wochenende feiern, dass Katharina und Martin geheiratet haben, dann feiern wir auch, dass die beiden zusammengebracht haben, was zusammengehört und was man nicht trennen kann: Die Liebe mit und ohne Küssen.

 

Gar nicht ankommen bei den anderen, nicht so ankommen, wie man es sich wünscht, angenommen sein und verstanden werden, missverstanden werden, sich abwenden, einen neuen Anfang versuchen, um die anderen kämpfen, resignieren, sich aneinander freuen, die anderen langsam gut kennen, Neues entdecken, ziemlich genau wissen, was einen stört, trotzdem zueinander halten, nicht aufgeben, schon glauben, aufgeben zu müssen, dranbleiben, investieren und etwas zurückbekommen, investieren und nichts zurückbekommen, etwas geschenkt bekommen, nichts geschenkt kriegen, enttäuscht werden, überrascht werden.

So ist das in Beziehungen. Und so ist es unter Christen. Da gibt es keine Unterschiede. Was wir haben, ist doch mehr als gemeinsame Interessen. Es geht um Leidenschaft füreinander. Um Liebe. Ohne Küssen und mit.

 

Mit der Liebe ist es wie mit Gott selbst. Der Gott der Liebe und des Friedens ist ein Gott voller Beziehungen. Auch so kann man das Geheimnis der Trinität verstehen. Und es lässt sich nicht trennen, was zusammengehört, Gott als Vater, als Sohn und als Heiliger Geist. Die Liebe lässt sich nicht trennen in verschiedene Sorten, die zu verschiedenen Zeiten dran sind. Ubi caritas et amor, deus ibi est. Wo Liebe ist, mit Küssen, ohne Küssen, da ist Gott.

 

Ich vergesse nicht, was ich einmal erlebt habe bei einem Abendmahl. Da war eine alte Frau im Kreis. Sie war bei den Abkündigungen mit Namen genannt und aus der Gemeinde verabschiedet worden, weil sie nicht mehr länger alleine leben konnte. Sie würde zu ihren Kindern ziehen, weiter entfernt. Wir alle standen da und ein Mann aus dem Kirchgemeinderat teilte das Brot aus. Als er zu ihr kam, sah er sie einen Moment lang an und streichelte ihr die Wange, ganz kurz nur, bevor er ihr das Brot gab. Das war Liebe ohne Küssen. Und mit.

 

Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.

 

Amen.

 

 

Das allerliebste Wort

Predigt zu Röm 3, 21-28 am 30. Juli 2017

Pfarrer Dr. Karl Friedrich Ulrichs, Lutherstadt Wittenberg

 

Über 500 Jahre Reformation denken wir nach in unserer Predigtreihe, wir vergegenwärtigen uns Martin Luther. Und wenn ich Martin etwas mitbringen wollte, aus Dankbarkeit darüber, dass es ihn gab – ich brächte ihm meine Bibeln.

 

Eine Kinderbibel mit den Bildern und Geschichten, die mich gestärkt und beflügelt haben, meine Phantasie angeregt, als ich ein Kind war. Geschichten, die mich wünschen ließen, es spräche einmal Gott direkt auch zu mir, so wie er zu den Menschen in der Bibel sprach, zu dem mit mir gleichaltrigen Jungen Samuel beispielsweise, für den er einen Plan für sein Leben hatte.

Ich brächte ihm die kleine rote Bibel, die in jeden Rucksack passt und aus der ich mühelos noch ohne Brille lesen konnte, damals vor über dreißig Jahren, bei den Andachten auf unseren Jugendfahrten.

Ich trüge das dicke Alte Testament auf Hebräisch herbei und das kleine blaue Neue Testament auf Griechisch. Und ich würde mich bei der Gelegenheit auch gleich bedanken bei ihm, dass er mir jahrelanges Vokabelnlernen eingebrockt hat für das Studium. Weil er meinte, dass ich die Sprachen kennen müsste, in denen die Bibel geschrieben wurde.

Ich würde ihm auch meine Bibel zeigen, die jetzt bald auseinanderfällt, weil ich sie so oft schnell in die Tasche gesteckt oder mit dem Rücken nach oben auf dem Schreibtisch liegen gelassen habe. Was man ja nie, nie machen soll, aber was ich oft tue. Weil ich mit ihr umgehe, wie ein Handwerker mit einem Werkzeug umgeht, das er jeden Tag braucht und das er deswegen auch nicht immer ordentlich an seinen Platz zurückräumt.

Ich brächte ihm die nach ihm benannte Bibel. Und ich schlüge sie auf, weiter hinten, bei Paulus‘ Brief an die Gemeinde in Rom, bei seinem Lieblingsbrief. Der kann, sagt er, „nie zu viel und zu sehr gelesen oder betrachtet werden“. Ich schlüge dem Martin also die Bibel auf und den Römerbrief bei seiner Lieblingsstelle und läse die ihm vor, sein – wie er selbst sagt – „allerliebstes Wort“:

 

21 Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt,

offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten.

22 Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott,

die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben,

um nun, in dieser Zeit, seine Gerechtigkeit zu erweisen.

28 So halten wir nun dafür,

dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.

 

Und dann stünde ich da, an Martin denkend, mit all meinen Bibeln, dankbar dafür, dass es ihn gab. Und ich könnte hören, was er selbst zu dieser Stelle einmal gesagt hat und zu dem Wort von der Gerechtigkeit Gottes und zu seinem neuen Glauben:

 

„Tag und Nacht dachte ich unablässig darüber nach, bis Gott sich meiner erbarmte. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als die Gerechtigkeit zu verstehen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus dem Glauben. Da fühlte ich, dass ich geradezu neugeboren und durch die geöffneten Pforten in das Paradies selbst eingetreten war. Und mit welchem Hass ich vorher das Wort 'Gerechtigkeit Gottes' hasste, mit solcher Liebe schätzte ich es nun als allerliebstes Wort. So wurde mir jene Stelle bei Paulus wahrhaft die Pforte des Paradieses.“

 

Diesen Brief und auch andere Bücher der Bibel hatte er vorher ja schon so sorgfältig gelesen, wie man sie überhaupt nur lesen kann. Er hatte sie in Vorlesungen ausgelegt für seine Studenten in Wittenberg. Er hatte die Bibel jeden Tag aufgeschlagen, mehrmals, ihre Seiten immer wieder umgeblättert. Aber erst jetzt öffnete sich dieses Buch für ihn.

Als könnte er mit einem Mal Gott sehen, den doch kein Mensch sehen kann. So wie man einen Schatten sehen kann hinter einer Wand aus dünnem Papier, so dünn wie die Seiten in einer Bibel. Gott, auch hierin verborgen, nur wie im Umriss zu sehen. Aber ganz nah und ganz leise anwesend, wie der Atem eines anderen.

 

Und einmal wieder schlug Martin das Buch also auf und blätterte die Seite um und las: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde, allein durch den Glauben.“ Und das Buch öffnete sich. Und gleich hinter diesen Worten war Gott, nicht ganz genau zu sehen, aber ganz nah und noch leise. Und er begriff: Das ist die Tür. Das ist die Pforte, um dorthin zurück zu kommen, wo wir am Anfang waren als Menschen. Im Paradies, ganz nahe bei Gott, so nah, dass es leise sein konnte.

Und er stellte fest: Es ist anders, als ich all die Jahre gedacht habe. Gott ist anders. Seine Gerechtigkeit ist anders, nicht unerbittlich wie das Recht sein kann, sondern: Gott liebt uns. Und ich muss nichts tun für diese Liebe – wie es ja doch bei Liebe so ist. Die Angst, die ihm bis dahin jeden Tag im Nacken gesessen hatte, war verschwunden. Die Angst, für Gott nicht genug getan zu haben und deswegen nicht geliebt zu werden.

Manche sagen ja, das sei alles lange her und hätte mit uns gar nichts mehr zu tun. Ich glaube das nicht. Denn die Angst, dass ich nicht gut genug bin, so wie ich bin, die kenne ich. Auch die Versuche, etwas dafür zu tun, dass ich geliebt werde und angesehen bin. Und ich weiß, ich bin damit nicht alleine. Es gibt diese Angst, nicht geliebt zu sein und nicht gesehen zu werden. Irgendjemand soll doch da sein für mich, jemand, der mich sieht und liebt. Bei den meisten Menschen ist das eine stumme Angst, wie eine kleine graue Ecke im Herzen.

 

Aber manchmal, wenn sie zu groß wird, dann wird sie herausgeschrieen auf den Straßen, herausgeschrieben in grellen Hasskommentaren im Internet. Die große Angst, nicht geliebt zu sein, zu kurz zu kommen, spricht eine hässliche Sprache. Sie richtet sich gegen die anderen, gegen die Politiker, die angeblich alle nichts tun und sich um niemanden kümmern. Gegen die Flüchtlinge, die angeblich alles bekommen und einem alles wegnehmen werden. Das ist auch ein fester Glaube, denn es geht, wie wir wissen, nicht um Argumente dabei. Es geht um das Gefühl tief im Herzen, nicht gesehen und nicht geliebt zu werden. Ein grauer, trauriger Glaube, dem viele Menschen anhängen. Wie ein Schatten liegt er über viele Seelen und über unserem Land.

 

Aber Glaube ist etwas anderes. Das weiß ich von dir, Martin, und aus allen meinen Bibeln und durch dein allerliebstes Wort. Du hast das neu entdeckt und es hat dir die Angst genommen und dich frei gemacht. Du sagst:

„Glaube ist eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiss, dass er tausendmal darüber stürbe. Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, trotzig und voller Lust gegen Gott und alle Kreaturen. Daher wird der Mensch ohne Zwang willig und voller Lust, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden, Gott zu Liebe und zu Lob, der einem solche Gnade erzeigt hat.“

 

Ich stehe hier, mit all meinen Bibeln in Gedanken. Ich habe sie dir mitgebracht, weil ich sie genauso brauche, wie du sie gebraucht hast, Martin. Gott war für mich immer zu sehen, in all diesen Bibeln, auch ohne Bilder, hinter dem dünnen Papier ihrer Seiten, in Umrissen, aber nahe und leise. In der Kinderbibel, in der kleinen roten, der dicken hebräischen, der schmalen griechischen, in der, die jetzt bald auseinanderfällt. Gott war mir immer nahe: Dem Kind, das sich wünscht, dass es einen Platz findet in der Welt und eine Aufgabe für sein Leben. Dem Jugendlichen auf der Suche nach Gemeinschaft und Orientierung. Dem Studenten auf der Suche nach Erkenntnis und dem Pastor, für den die Bibel ein Werkzeug ist mit Gebrauchsspuren, und gleichzeitig die Quelle für alle meine Arbeit. Gott ist mir nahe in diesem Buch. Es ist mein allerliebstes Buch. Und auch mein allerliebstes Wort.

 

Und wenn ich dankbar bin für dein Leben, Martin, dann bin ich dir dankbar für deine Liebe zu diesem Buch und dein Vertrauen in die Kraft von Worten, von Worten auf dünnem Papier. Und ich bin dankbar für die Mühe und die Arbeit, die du dir mit diesem Buch gemacht hast, auf der Burg bei den Krähen und später in Wittenberg zusammen mit den anderen, als ihr um die richtigen Worte gerungen habt für eure Übersetzung.

Aber Martin, ich wünschte mir, du hättest nicht aufgehört damit, dieses Buch so genau zu lesen wie am Anfang. Du hättest doch gelesen, dass die selig sind, die Frieden stiften und die für die bitten, die sie verfolgen. Du hättest den Krieg nicht gutheißen können und die Gewalt gegen die Bauern. Und du hättest doch niemals diese schrecklichen Worte sagen können über die Juden, von denen wir doch Gottes Gebot haben und die Propheten und von dem Juden Paulus diesen Brief, mit deinem allerliebsten Wort darin.

 

Ich stehe hier, mit all meinen Bibeln in Gedanken und mit dem allerliebsten Wort. Und von daher habe und hege ich einen Wunsch: Dass wir diesen grauen, traurigen Glauben loswerden, der über vielen Seelen liegt und über unserem Land. Dass wir von dieser Angst frei werden, zu kurz zu kommen. Dass uns klar wird: Wir Christen werden gebraucht von den anderen. Wir haben eine Aufgabe für unser Leben, wir haben Gemeinschaft, wir wissen, was gut und was böse ist. Und unser Glaube soll fröhlich sein und trotzig und voller verwegener Zuversicht auf Gott. Dass wir Lust bekommen, jedermann Gutes zu tun. Es ist doch leicht, die anderen zu lieben. Weil Gott uns liebt, wie es das allerliebste Wort sagt.

 

Amen.

 

 

Novembermensch

Predigt zu Röm 3, 23f.

Pfarrer Dr. Karl Friedrich Ulrichs, Lutherstadt Wittenberg

 

Wie oft hatte er diese Zeilen aus dem Brief an die Römer gelesen – fest, auch hart wie in Stein gemeißelt – , wie oft gehört jene Sätze aus dem dritten Kapitel, erklärt und um die Ohren gehauen! Die Rechtfertigung aus dem Glauben – Martin wollte das ja auch hören und sich gesagt sein lassen. „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Durch den Glauben gerechtfertigt – das sollte auch ihm gelten und für ihn. Er las und hörte und erlebte in diesen Zeilen aber auch, was da über alle Menschen gesagt und geschrieben ist: Sie „ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ Und das war der Satz, der in ihm bohrte. Denn wenn er auf sein Leben blickte, schien ihm, als würde er beschrieben: Kein Ruhm bei Gott und keiner bei den Menschen. Ja, so war es in seinem ganzen Leben wohl gewesen: Er „ermangelte des Ruhmes“.

 

In der zweiten Novemberwoche geboren, wurde er nach althergebrachter Sitte am Tag und auf den Namen des heiligen Martin getauft und war damit gleichen Namens wie der Vater, er Martin Luther junior. Ein Novemberkind wie der Vater, und wie der mit dem unerbittlich wiederkehrenden November in der Seele. Dunkel und kalt war es dann, hinaus zu den Menschen konnte er nicht. Klamm fühlte er seine Hände und beklommen seine Brust.

 

Die Menschen „ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ Eine von Anfang an zutreffende Bewertung seines Lebens: Schon als Kleinkind das erste Malheur. Mochte der Vater in der Familie noch so liebevoll davon erzählen, er schämte sich als Kind, wenn Vater die alte Geschichte wieder einmal auftischte: Als Säugling sitzt er nackt auf Vaters Schoß – und er scheißt ihm aufs Gewand, wie der Vater sagte, nie um einen derben Spruch verlegen. Eine Lebensszene: Martin sollte das Kind bleiben, das Scheiße macht. Kein Ruhm bei Gott und keiner bei den Menschen. Und das bei diesem Vater, dem ruhmreichen Reformator! Die Rede jetzt ist von Martin Luther, Martin Luther dem Jüngeren, 1531 geboren als viertes Kind des großen Martin und der großen Käthe. Dieser Martin Luther war ein Novembermensch. Gerade an ihm können wir uns etwas vom Glauben des Reformators deutlich machen.

 

Dieser Martin – auch ein Gabenmensch, begabt mit Liebe und Gemüt: Als Freund seiner Kleinkindertage, als er noch auf allen vieren krabbelt, erwählt er sich den Familienhund Tölpel. Die Liebe der Kinder und Tiere zueinander – eine klein-große Gottesgabe. Als Martin später seine Puppe liebt, schimpft der Vater mit ihm; der große Martin findet es für einen Jungen ungehörig, mit einer Puppe zu spielen, zärtlich zu sein. Luther will einen richtigen Jungen. Was der kleine Martin liebt, verachtet der große Martin. Das Kind muss sich mit der verachteten Liebe selbst mit verachtet fühlen. Er ermangelt des Ruhmes, den er beim Vater haben sollte. Vom größeren Bruder Hans und dessen Freunden wird der kleine Martin gemieden; er spielt deshalb vor allem mit seinem kleineren Bruder Paul. Der Vater sieht in den beiden kleinen Jungs die „lieblichsten Närrlein“ und „feinsten Spielvögel“. Diese seltenen lieben Worte sind kostbar, wir wollen sie hören – wie jene seltenen oder häufigen lieben Worte, die über uns gesagt werden.

 

Dass niemand an ihn, sondern an einen anderen denkt, wenn sein Name gesagt wird und geschrieben, kann einen Menschen frieren machen. Vierzehn Jahre alt ist Martin, als er jene kalte Woche erlebt, in der sein Name, sein Name, tausendmal gesagt wird, geflüstert, geweint: Martin Luther, ach! Sein Vater hatte ihn und seine beiden Brüder auf eine Dienstreise mitgenommen. Und ausgerechnet in Vaters Heimatstadt Eisleben muss der Junge Martin erleben, wie der Vater stirbt. Fassungslos steht er am Bett, von den hochgelehrten, berühmten, aber nicht eben verständnisvollen Kollegen des Vaters an den Rand gedrängt – auch das wie immer. Den kleineren Bruder Paul nimmt Martin in den Arm, versucht ihm ein Tröster zu sein (das Wort hat übrigens auch der Vater erfunden; dem Vater entkommt er nicht einmal in der Muttersprache). Worte hat er nicht für den Bruder und für sich. Überhaupt ist uns kein Wort von ihm überliefert, kein Wort, mit dem er sich Ruhm hätte erwerben können, wie es sein Vater vermochte mit seiner Wortgewalt und Wortkunst. Ein respektheischender Zug von fünfundvierzig Pferden und über hundert Menschen überführt den toten Vater nach Wittenberg, überall Glockenläuten und Menschenmengen, was den Sohn Martin mehr einschüchtert als berührt. Beim Einzug in Wittenberg, in aller Öffentlichkeit sieht Martin seine zur Witwe gewordene Mutter. Vor den Augen der Stadtbewohner, der Professoren und Studenten verbietet er sich selbst das Weinen, versagt sich die Umarmung, die er auf dem langen Weg doch ersehnt hat. Vielleicht hofft er, dass ihm diese mannhafte Haltung zum Ruhm gereicht.

 

Martin studiert. Dem Kind aus dem Akademikerhaus fällt der Anfang leicht – es geht bei der Bildung ungerecht zu wie heute. Aber dann die wohl mehr aus Verlegenheit gewählte Theologie! Das wird nichts, da macht er wieder Scheiße auf Vaters Schoß. Martin wohnt weiter im Luther-Haus chez Mama und bei den Geschwistern, was noch heute einen Studenten um jeden Ruhm bei den Kommiliton/innen bringt. Das wird nichts, er wird nichts, kein Theologe jedenfalls, einen Studienabschluss wird er nie machen. Wie einen Refrain hört er im Hörsaal, was sein Vater mit jenen Zeilen des Paulus aus dem Brief an die Römer gemacht, gesagt, geschrieben hat über den Glauben, über den Menschen. Und darin auch über ihn, den Sohn: Mensch ist er und groß, weil Gott ihn liebt, weil Gott sein Leben will und dafür göttlich-menschliches Leben am Kreuz dahingibt. Glauben will er das, es als Wahrheit über sein Leben erfahren. Glauben wollen wir das, es als Wahrheit über unser Leben erfahren: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“

 

Gott,

warum muss ich diesen Tod auch noch sehen,

warum meinen Blick auf das ausgezerrte Gesicht der Mutter heften und ihre schwachen Hände halten?

War Vaters Tod nicht schon zu viel für mich?

Und war sein Ruhm nicht zu schwer für meine Seele?

Jetzt auch noch Mutters stille Verzweiflung erleben. Und ahnen, dass ihr trauriger Blick mir gilt,

meinem Leben, dem, was sie darin sieht,

und dem, was sie darin nicht sehen kann.

Gott, sei du mir Vater und Mutter! –

 

Wie ein Psalm klingen die Gedanken, die Martin am Krankenlager seiner Mutter umtreiben und ihn zu Gott treiben. Sie waren vor der Pest nach Torgau geflohen, unterwegs ist Martin Augenzeuge des Unfalls der Mutter. Nach drei Monaten Schmerzen stirbt sie. Zurückgekehrt nach Wittenberg versucht Martin ein Leben ohne Mutter. Mit der Sorge für seine Geschwister ist er überfordert, hat er doch mit sich selbst schon genug zu tun. Auch diese Bewährungsprobe für den jungen Mann ist kein Ruhmesblatt. Martin bewirtschaftet das Gut Wachsdorf, es gelingt ihm mehr schlecht als recht. Er soll immerhin ein ganz tüchtiger Bierbrauer geworden sein. Wir wollen das (wie alle Berufe) nicht verachten, das mag eine Kunst sein und unseren Martin Luther befriedigt haben. Hatte nicht auch der Vater so gerne Bier getrunken? Wird er ihm wenigstens mit der Brauerei gerecht? Nicht wenige Wittenberger Gelehrte aber und missgünstige Kommilitonen spotten darüber. Nach fünf Jahren ist es mit dem ohnehin nicht beschaulichen Landleben schon wieder vorbei, das Gut muss verkauft werden, Martin zieht wieder ins Elternhaus. Er lebt nicht vom Nachruhm der Eltern – was schon problematisch sein könnte! –, sondern von ihrem Nachlass, nicht von Vaters Geist, von Mutters Liebe, sondern bloß von ihrem Eigentum, das er aufzehrt.

 

Ein heller Tag im Leben des Novembermenschen ist der 2. September 1560, der Hochzeitstag. Da heiratet Martin seine Anna – eine gute Partie, die Tochter des Bürgermeisters. Der Glanz des Hochzeitstages verblasst aber nur allzu schnell. Die viereinhalb Jahre dauernde Ehe wird eine karge Zeit. Im zusehends heruntergewirtschafteten Luther-Haus bewohnt das Paar nur das Erdgeschoss. Martin Luther steigt weiter ab, sinkt soweit herab, dass er sich oft bei den adeligen Studenten im Hause zum Essen und Trinken einlädt. Peinlich ist ihm das – der Vater war noch der tonangebende Gastgeber einer großen Tischrunde. „Des Ruhmes ermangeln“ – jedes Glas Wein auf Kosten der Studenten und auf ihr Wohl führt ihm diese Zeile vor Augen: „des Ruhmes ermangeln“. Fällt ihm dabei nicht auch die andere Zeile ein, fällt sie uns nicht ein, wenn wir auf dieses Leben sehen: „dass der Mensch gerecht werde … durch Glauben allein“. 1564 muss Martin, völlig bankrott, mit seinen Geschwistern das Elternhaus an die Universität verkaufen. Sein Anteil am Erlös der väterlichen Bibliothek von etwa zweihundertfünfzig Gulden ist da schon lange aufgebraucht. Ich stelle mir vor, dass er wenigstens ein Buch des Vaters behalten hat und vielleicht sogar gelesen. Hat er beim Lesen Vaters Stimme gehört? Wo früher hunderte Bücher standen, Dutzende mit seinem Namen auf dem Titel, liegt jetzt noch ein Erinnerungsstück, das ihn gemahnt an jenen gerühmten Martin Luther, das ihn verzweifeln lässt an sich selbst, den ruhmlosen Martin Luther mit dem unruhigen Herzen und den leeren Händen. Nichts aus eigener Kraft hat er geschafft, nichts aus eigenem Geist, nichts von eigener Hand.

 

Kein Haus gebaut, keinen Baum gepflanzt, kein Buch geschrieben und auch kein Kind gezeugt. Ob sich das den Erfahrungen mit dem übermächtigen Vater schuldet? Am 4. März 1565 stirbt Martin Luther. Er braucht keinen Zettel zu schreiben mit der tiefsten Einsicht: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Dass das wahr ist, die Wahrheit seines Lebens, weiß Gott, weiß er, wissen die anderen Menschen. Am Ende nimmt Gott ihn mit Ehren an. Die alten Wittenberger kennen den Psalm 73 und diesen kostbaren Gedanken des Glaubens gut, viel hatte Martin Luther, der Alte, Große, Ruhmreiche, dazu gesagt und geschrieben. Gott nimmt uns am Ende mit Ehren an. Mit einer Ehre, die er unserem Leben beilegt, indem er sieht, was wir übersehen, indem er vollendet, was uns nicht gelingt, indem er heilt, was andere verletzen. Nach diesem Leben, nach diesen dreiunddreißig Jahren des jüngeren, des kleinen, des unbedeutenden, des ruhmlosen Martin Luther, müssen die Wittenberger darum noch etwas zeigen und tun. So wird Martin Luther ehrenvoll auf dem Friedhof an der Stadtkirche beigesetzt, als sei er ein Mann des Glaubens, der Gelehrsamkeit, des Geldes wenigstens. Und obwohl er nur ein Mensch des tastenden Glaubens war, ein Mensch der verfehlten Gelehrsamkeit und des verlorenen Geldes, wird er doch mit Ehren angenommen. Ein kleines Zeichen und ein Trost für die verzweifelte Anna. Dass die, die vor uns gehen, nicht verloren gehen, sondern angenommen und angekommen sind mit ihrem unruhigen Herzen in Gottes Ruhe. Wenn wir uns das Leben dieses Martin Luther vorstellen, hoffen wir, dass ihm dieses Psalmwort und die schweren Gedanken des Paulus und des Vaters geholfen haben, hoffen wir, dass er sein unruhiges Herz hat schlagen hören in der Sehnsucht nach der Ruhe bei Gott; die war ihm nicht erst für den März 1565 verheißen, sondern im November 1531 für alle dreiunddreißig November und alle Seelennovember. Seit Jahrhunderten liegt sein Grab heute unkenntlich unter dem Pflaster des Wittenberger Kirchplatzes. Wer noch heute in die Lutherstadt kommt, besucht auch diesen Martin Luther. Er ist uns näher, als wir denken.

 

Und näher, als wir denken, ist uns auch dieses Leben eines Novembermenschen. Sein Leben, das tatsächlich so war, und unser Leben, das uns immer wieder so zu sein scheint, unser Leben, das so zu werden droht. Kein Ruhm bei Gott und keiner bei den Menschen. Kein Ruhm, aber gerechtfertigt. Eine Hoffnung gegen die Erfahrung. Wo Ruhm war, wird Liebe sein. Wo der verzweifelte Versuch war, berühmt und gerühmt zu werden, wo die Sorge war, „des Ruhmes zu ermangeln“, wird Liebe erfahren werden und Ehre. Nicht erst am Grab – da aber gewiss auch! –, sondern auf jedem unserer Schritte dorthin, an jedem unserer Tage, bis unser Herz Ruhe findet. Auch heute also dieser andere Satz, der immer der andere Satz bleiben wird: „dass der Mensch gerecht werde … allein durch den Glauben.“

 

Amen.

 

 

 

Kontakt:

Kathrin.oxen@wittenberg.ekd.de

kfulrichs@gmx.de

 

 

[1] Martin Luther, Vom ehelichen Leben, 1520.