„Purpur-Lydia“ – Predigt zu Apostelgeschichte 16,9-15 von Rainer Claus
16,9-15

Purpur

Sie schließt die Augen und greift in den Stoff. Seidenstoff. Wallend weich und purpurfarben. Die Seide knistert, knirscht, ein Geräusch, wie erste Schritte am Morgen durch unberührten Schnee. Sie öffnet die Augen. Purpur hat die Seide durchdrungen. Ihr prüfender Blick sieht die Feinheiten, Purpur ist nicht gleich Purpur. Lydia, die Purpurhändlerin kennt die Uneinigkeit dieser Farbe zwischen blauem Rot und rotem Blau. Gerade diese Farbreize am Rande des Sichtbaren faszinieren Lydia. Es ist ihre Seelenfarbe. Lydia, die Suchende am Rande des Sichtbaren. Eine Gottesfürchtige, so wird sie genannt. Sie weiß, welche Götter in ihrer Stadt verehrt werden. In Philippi sind viele Religionen zu Hause. Noch steht sie am Rande. Sie hat den einen Gott im Blick, den die Juden verehren. Einen Gott der Freiheit, der die Sklaven durch die Fluten geführt hat. Vielleicht ist es das, was sie anrührt. Sie war einmal selbst Sklavin, verkauft auf einem Markt, verschleppt fern der Heimat, im Dienst eines Purpurhändlers. Sie ist die Frau aus Lydien. Lydia benannt nach einer Landschaft in Kleinasien, denn Sklaven tragen keinen eigenen Namen. Die Frau ohne Namen und mit einer verlorenen Heimat.

Lydia nimmt den Seidenschal und legt ihn über das weiße Kleid. Alle sollen es sehen. Lydia, die Purpurhändlerin wird getauft. Der Schal liegt wie eine Stola über ihrem Kleid. Lydia ist längst keine Sklavin mehr. Jetzt handelt sie selbst mit Purpur. Ein Luxusgut. Es ist die Farbe der Mächtigen. Sie wird gewonnen aus Purpurschnecken. Die Farbe ist so kostbar wie Gold. Die Senatoren tragen diese Farbe, Könige und später Kardinäle. Lydia ist Händlerin, Hausherrin und wird schon bald die erste Christin in Philippi. und somit erste Christin in Europa. Paulus hat sie getauft. Und das kam so:


Lesung

Lesung Predigttext Lektor

In der Nacht hatte Paulus eine Erscheinung. Ein Mann aus Mazedonien stand vor ihm und bat: »Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!« Gleich nachdem Paulus die Erscheinung gehabt hatte, suchten wir nach einer Möglichkeit, um nach Mazedonien zu gelangen. Denn wir waren sicher: Gott hatte uns dazu berufen, den Menschen dort die Gute Nachricht zu verkünden. Von Troas aus setzten wir auf dem kürzesten Weg nach Samothrake über. Einen Tag später erreichten wir Neapolis. Von dort gingen wir nach Philippi. Das ist eine bedeutende Stadt in diesem Bezirk Mazedoniens und römische Kolonie. In dieser Stadt blieben wir einige Zeit.

Am Sabbat gingen wir durch das Stadttor hinaus an den Fluss. Wir nahmen an, dass dort eine jüdische Gebetsstätte war. Wir setzten uns und sprachen zu den Frauen, die an diesem Ort zusammengekommen waren. Unter den Zuhörerinnen war auch eine Frau namens Lydia. Sie handelte mit Purpurstoffen und kam aus der Stadt Thyatira. Lydia glaubte an den Gott Israels. Der Herr öffnete ihr das Herz, sodass sie die Worte des Paulus gerne aufnahm. Sie ließ sich taufen zusammen mit allen, die in ihrem Haus lebten. Danach bat sie: »Wenn ihr überzeugt seid, dass ich wirklich an den Herrn glaube, dann kommt in mein Haus. Ihr könnt bei mir wohnen!« Und sie drängte uns förmlich dazu.

Paulus und Lydia

Paulus hatte geträumt. Ein Hilferuf: „Komm herüber“. Europa war bisher nicht im Blick von Paulus gewesen.  Er nahm diesen Wegweiser in seiner Seele ernst, bestieg ein Schiff und kam schließlich nach Philippi. Und hier kommt Lydia in die Geschichte. Hier wird es ihre Geschichte. Paulus und sein Begleiter wohnten einige Zeit in der Stadt. Eine Stadt voller Götter und Versprechen. Eine römische Kolonie. Die etablierten Religionen hatten Häuser und Statuen aus Marmor. Paulus aber ging vor die Stadt, an die Grenze. Dort am Fluss trafen sich Frauen zum Gebet. Ohne festes Haus, das Fließen im Ohr. Ein Fluss als Treffpunkt, der sich ständig verändert vor ihren Augen. Du kannst nie zweimal in denselben Fluss steigen. Ein guter Ort für die suchenden Frauen. Ein guter Ort, für die mit offenen Herzen. Die Worte des Paulus trafen auf fruchtbaren Boden, bei Lydia. In ihrem Herzen wächst der Glaube. Es fügt sich etwas zusammen, Fäden verknüpfen sich. Sie wird Christin und will sich taufen lassen.

Taufe

Lydia ist bereit für die Taufe. Sie ist zu Paulus in den Fluss gestiegen. Das Wasser im Fluss umfließt ihren Körper, die Enden des purpurnen Seidenschals wimmen auf der Wasseroberfläche. Lydia, die ehemalige Sklavin. Lydia, die Purpurhändlerin Lydia, die Suchende, Gottesfürchtige Egal, was sie war und woher sie kommt. Hier beginnt etwas Neues, dass schon längst begonnen hat. In Christus ist weder Heide noch Jude, Sklave noch Freie. Lydia wird getauft.


Spurensuche

Was ist aus ihr geworden? Sie und ihr Haus werden eine große Rolle gespielt haben in Philippi. Ihr Haus, das meint die Menschen, mit denen sie gelebt hat und die sich auch haben taufen lassen. Eine erste Hausgemeinde entsteht. Haus meint aber auch ganz konkret ein Gebäude, ein Dach über den Kopf für Paulus und alle die noch  kommen werden. Lydia öffnet nicht nur ihr Herz, sondern auch ihr Haus für den neuen Glauben. Lydia könnte die Gemeinde mitgeleitet haben oder war vielleicht so eine Art erste Bischöfin. Ihre Geschichte bleibt so uneindeutig wie Purpur und ihre Spur verliert sich. Aber gerade das, macht sie für mich so spannend.

Lydia ist ein Bild für Menschen, die nach Gott fragen. Ein Bild für Gemeinden, die sich fragen, wie geht es mit uns weiter. Ein Bild für die Kirche, die sich gerade so verändert. Das Christentum in Europa ist wieder bei Lydia angekommen: suchend und tastend.  Lydias Anleitung für Suchende Ich stelle mir vor, Lydia hätte eine Anleitung geschrieben für Fragende. Für alle, die die ersten Schritte durch frischen Schnee lieben. Für alle, die es mögen, wenn es knistert, wenn fein und zart etwas passiert, wie beim Griff in Seide.

(von zwei Lektorinnen gelesen:)

Lydias Anleitung für alle Suchenden:

Verlass die Stadt. Geh an den Fluss. Dorthin, wo etwas in Bewegung ist, wo du es fließen hörst. Lass deine Statuen auf ihrem Sockel stehen. Sie tun dir nichts und können nichts für dich tun. Triff dich am Fluss mit anderen. Redet miteinander, hört zu, schweigt und betet. Meinetwegen auch die ganze Nacht, solange bis die Wolken wieder lila sind.  Öffne dein Herz. Richte es aus. Sei achtsam für die behutsamen Wegweiser Gottes am Tag und in der Nacht. Wenn es nicht mehr weiter geht, kann es sein, dass sich etwas Neues anbahnt.
Stell dich in den Regen. Schließ die Augen und stell dir vor: es wäre Purpur.

Wenn du die Augen schließt, klingt der Purpur-Regen wie Applaus. Für Dich Du geliebtes Kind Gottes.

Sei geduldig mit dir und deinem Glauben. Es braucht 12000 Schnecken für 1,5 Gramm Purpur. Alles braucht seine Zeit. Glaube ist kein Kraftakt.  Öffne dein Lebens-Haus für den Glauben. Trink mit Gott morgens einen Kaffee und frage ihn, was er sich bei diesem neuen Tag gedacht hat. Verabrede dich am Mittag mit Christus, indem du einfach dein Gesicht in die Sonne hältst. Ein Moment genügt. Mach am Nachmittag die Fenster auf und lass den Heiligen Geist durch dein Haus wehen. Kann sein, dass einige Quittungen und deine offenen Rechnungen durcheinander geweht werden. Macht nichts. Sieh hin! Sieh in dich hinein. Purpur ist nicht eindeutig. Du trägst mehr Farb-Nuancen in Dir als du denkst. Trage heute mal innerlich einen Streifen Purpur. Zeichen der Kraft, kannst du sie spüren? Sage dir: ich vermag alles durch den, der mir die Kraft dazu gibt, Christus.

Amen

Anmerkung: Zur narrativen Idee mit dem Seidenschal hat mich ein Roman inspiriert: Josef Spiegel: Lydia. Die Purpurhändlerin in Philippi

Perikope