"Regentropfen und Feuerwasser", Johannes 7, 37-39, Wolfgang Vögele
7,37

"Regentropfen und Feuerwasser", Johannes 7, 37-39, Wolfgang Vögele

„Aber am letzten Tag des Festes, der der höchste war, trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht.“

  1. Merkwürdiges über Regentropfen
   
Liebe Gemeinde,
  Gegen Regentropfen helfen ja bekanntlich Regenschirme. Sie schützen wirksam gegen die unangenehme Feuchtigkeit eines Regenschauers, wenn es nicht zu windig ist. Wer im heftigen Regen ohne Schirm naß wird, empfindet die feuchte Kälte eines Tiefdruckgebiets unmittelbar auf der ausgekühlten Haut. Man erkältet sich leicht in solchen Fällen.

  Ein einzelner Tropfen macht ja niemandem etwas aus. Oder haben Sie doch schon einmal die Wucht eines einzigen Regentropfens auf dem Handrücken gespürt? Den ersten dicken Tropfen eines kommenden Schauers, der in wenigen Augenblicken aus dunklen Wolkenungetümen mit aller Macht über Sie hereinbrechen wird? Der einzelne Tropfen, der auf dem Handrücken verfließt, ist leicht und schwer zugleich, den Regenflüchtling überfällt ein Gefühl von störendem Zufall und fehlender Absicht, während er in Eile den Schirm aufspannt, um sich vor den Strömen herabstürzenden Wassers zu schützen. Der einzelne Regentropfen kündigt einen Schauer an. Und den Passanten überfällt ein Gefühl von Eile und drohender Feuchtigkeit, ein Gefühl von Leichtigkeit und Schwere zugleich. Wer in einen Schauer gerät, der hat eben Pech gehabt, oder nicht? Aber ein einziger Regentropfen macht den Spaziergänger noch nicht zum Regenschirmhalter.
   
In manchen Filmen kommt dem kürzeren oder längeren Regenschauer eine wichtige Rolle zu. Vielleicht erinnern Sie sich an das wunderbare, noch in Schwarz-Weiß gefilmte Musical „Singin in the Rain“ aus dem Jahr 1952, mit Gene Kelly in der Hauptrolle. Gene Kelly, klein und elegant, spielt den Stummfilmstar Don Lockwood, der sich in seine Filmpartnerin verliebt. So glücklich ist er darüber, daß er singend auf den Bordsteinkanten der Pariser Boulevards tanzt und steppt, während er den strömenden Regen ganz vergißt: „I'm singin' in the rain!“ Das liebende Herz trotzt den kalten Regentropfen.

  In vielen anderen Filmen zeigt der Regen dem Zuschauer ja meistens an, daß der Hauptdarsteller nun unter Traurigkeit oder Depressionen leidet und vorübergehend nicht aus dieser Depression herausfindet. Tragische Unglücksfälle, langwierige Krankheiten, heimtückische Morde und unfaßbare Selbstmorde werden gerne mit strömendem Regen und melancholischer Musik unterlegt. Dem verliebten Amerikaner in Paris, den Gene Kelly spielt, können die Myriaden von platschenden Regentropfen nichts anhaben. Für ihn besiegt die Liebe die Feuchtigkeit. Die Liebe ist der Regenschirm gegen alles Ungemach drohender Gewitterwolken.

  Das könnte der Amerikaner in Paris von dem Lyriker Bertolt Brecht gelernt haben, dem Deutschen in Amerika. Der hat einmal in seinem kurzen Gedicht, „Morgens und abends zu lesen“, die folgenden Gedanken über den Zusammenhang von Liebe und Regentropfen notiert:

  „Der, den ich liebe
  Hat mir gesagt
  Daß er mich braucht.
  Darum
  Gebe ich auf mich acht
  Sehe auf meinen Weg und
  Fürchte mich vor jedem Regentropfen
  Daß er mich erschlagen könnte.“
   
Es geht um Liebe und Wasser. Nun ist Liebe ein Gefühl, eine Lebenseinstellung, eine Haltung, eine Entscheidung für einen Partner (oder eine Partnerin), eine Beziehung, ein Gespräch. Wasser ist eine chemische Verbindung, ein Nahrungsmittel, ein Durstlöscher. Liebe ist Zärtlichkeit, Zuneigung, Ekstase, Einfühlungsvermögen, nachhaltiges Zusammenleben. Wasser – das sind Eisberge, Stürme, Quellen, Teiche, Stromschnellen, Gewitterschauer und Brandungswellen. Wasser und Liebe zusammen gehen eine eigenartige Liaison ein, eine chemische Verbindung von Gefühl und Getränk.
   
2. Biblische Wasserstraßen

  Gene Kelly singt unvergeßlich: Liebe schützt vor Regentropfen, auch ohne Regenschirm. Bertolt Brecht schreibt: Wer geliebt wird, muß sich vor Regentropfen schützen. Und der Jesus des Johannesevangeliums sagt: Wer glaubt und liebt, der wird sein wie ein strömendes Wasser.

  Wasser, das fließt, sucht sich ja immer den Weg des geringsten Widerstandes, und das muß nicht immer der direkte Weg sein. Auch ich habe einen Umweg genommen, über Gene Kelly und Bertolt Brecht mitten hinein ins alte Johannesevangelium. Und ich will einen zweiten, innerbiblischen Umweg nehmen. Die Bibel ist ja voll von Wasserstraßen, Wasserflüssen und Wassergeschichten: Im Jordan wird Jesus getauft. Am See Genezareth läßt er Fische fangen. Am Teich Bethesda heilt er Kranke. Am Fluß Jabbok kämpft der Erzvater Jakob mit dem Gott, der ihn schließlich segnet. Am Brunnen hat er zuvor seine Frau Rebekka kennengelernt, an einem anderen Brunnen lernte Mose seine Frau Zippora kennen und am nächsten Brunnen sprach Jesus mit der samaritanischen Frau. Im Mittelmeer begegnet der Prophet Jona dem Walfisch, der ihn verschlingt. Vieles andere Wasserstellen wären aufzuzählen. Die Bibel ist sozusagen vollständig ver- und be-wässert.
  Und gleich am Anfang der Bibel heißt es (Gen 1,2): „Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“ (Gen 1,2) Die Erde ist also biblisch nicht, wie wir uns das manchmal zurechtlegen, aus dem Nichts erschaffen worden, sondern es gab vor dem Anfang mindestens dreierlei: wüstes und leeres Land, Wasser und den Geist Gottes. Und aus diesen Ingredienzien macht Gott die Schöpfung. Auf den Zusammenhang von Wasser und Geist komme ich gleich zurück.

  Springt man vom Anfang zum Ende der Bibel und vom Anfang der Schöpfung zu ihrer Erlösung, so heißt es im Buch der Offenbarung des Johannes: „Und wen dürstet, der komme; und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst.“ (Apk 22,17)
  Am Anfang der Welt Wasser und am Ende der Welt Wasser. Alle biblischen Autoren sind im Grunde nur mit einem einzigen Thema beschäftigt, das sie von ganzem Herzen und von ganzer Seele umtreibt: Gott verwandelt die Welt. Er hat sie geschaffen, und er wird sie auch erlösen. Und wie Gott das macht, davon erzählen Paulus und die Propheten, Markus und Maleachi, davon sprechen Johannes von Patmos und Johannes der Evangelist. Wasser, besonders Wasser des Lebens ist ein Bild für diese Verwandlung. Denn Wasser stillt den Durst. Wasser ist selbst formlos, wandelbar. Weil es flüssig ist, paßt es sich allen anderen Formen an.

  Über das Wasser denkt auch der Evangelist Johannes nach.
   
3. Feuerwasser

  Bei dem Evangelisten Johannes erscheint Jesus nicht so sehr als einfacher Galiläer mit dem einfachen Zimmermannshandwerk im Hintergrund, sondern als redender, diskutierender und predigender Philosoph, der die Zusammenhänge der Welt, besser der Schöpfung Gottes, erklärt und verständlich macht. Mehr als bei den anderen Evangelisten rücken die Lehre und die Person Jesu zusammen. Gleichzeitig sagt der Jesus des Johannesevangeliums vieles, was den unmittelbaren Hörern Jesu unverständlich geblieben sein muß, was aber den Lesern des Evangeliums umso mehr einleuchtete.

  In der Predigtgeschichte redet Jesus am Laubhüttenfest, das zugleich eine Erinnerung an den Auszug aus Ägypten und den Durchzug durchs Rote Meer, aber auch ein Erntefest war. Im subtropischen Mittelmeerraum ist die Versorgung von Agrarflächen mit Wasser ein schwieriges Problem, heute noch.

  Und Jesus beruft sich auf die Bibel, wenn er sagt: Wer glaubt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Allerdings haben die Ausleger stets gerätselt, welches Bibelwort Jesus damit gemeint haben könnte, denn als unmittelbares Zitat läßt sich solch eine Stelle nicht mehr finden. Trotzdem kann der Leser beruhigt davon ausgehen, daß dem Jesus des Johannesevangeliums die Fülle der biblischen Wasserstellen vertraut war.

  Trotzdem bleibt an diesen wenigen Worten etwas sehr Geheimnisvolles haften, das sich durch keine Auslegung in Eindeutigkeit überführen läßt. Wer sich tastend und vorsichtig auf diese Worte einläßt, der spürt in diesen kurzen und unbedingten Sätzen einen ungeheuren Anspruch: Der Glaube richtet sich nicht auf ein Lehrgebäude oder auf Liste von Geboten. Der Glaube richtet sich nach Johannes zunächst und vor allem auf eine Person, auf ein Gegenüber, das Gott und Mensch zugleich ist. Alles entscheidet sich an diesem Jesus von Nazareth.

  Und der Evangelist Johannes war von zwei Fragen bewegt: Wie kann ich zeigen, daß dieser Jesus von Nazareth die Verwandlungsgeschichte Gottes mit der Welt und den Menschen in ein – um im Bild zu bleiben – neues Fahrwasser bringt? Und wie können glaubende Menschen dieser entscheidenden Person Jesus von Nazareth begegnen, ohne daß sie ihn zu Lebzeiten kennengelernt hätten?

  Die erste Frage beantwortet sich schnell, denn nur im Johannesevangelium wird die enge Bindung Jesu von Nazareth an den Vater im Himmel so sehr herausgestellt und betont. Und für die zweite Frage entwickelt Johannes eine Theologie des Heiligen Geistes. Der Geist tröstet die Menschen und ersetzt die persönliche Anwesenheit des Gottessohnes. Dieses Wirken des Geistes nennt Johannes das Strömen lebendigen Wassers.
   
Zum einen ist der Geist Luft, griechisch pneuma, und dieser Geist weht, wo er will (Joh 3,8). Zum anderen aber kann er auch lebendiges Wasser sein. Wasser fließt, es strömt, und es erzeugt überraschende Sogwirkungen. Und damit kennt sich Johannes aus. Er ist nicht nur der Philosoph unter den Evangelisten, er ist auch der Theologe der Freundschaft.
Nirgendwo spielt die Gemeinschaft der Jünger, ihre Beziehung zu Jesus von Nazareth, die gemeinsame Lebensgestaltung in Gespräch und Alltag eine so große Rolle wie bei ihm.
  Leider kann man sich das Wasser des Lebens nicht portionsweise abfüllen wie die Flaschen heiligen Wassers aus den Wallfahrtsorten wie Lourdes.
   
Nein, Gottes Barmherzigkeit lebt aus der Überfülle. Im Heiligen Geist schenkt er Ströme lebendigen Wassers, und das läßt sich nicht portionieren. Und es kommt darauf an, solche Strömungen zu spüren und ihnen zu folgen, wenn in ihnen Gottes Barmherzigkeit und Gnade zum Ausdruck kommt. Um im Bild zu bleiben: Der Geist ist Brandungswelle oder Regenschauer, aber nicht Wassertropfen. Es ist entscheidend, diese Strömung zu spüren und ihr zu folgen.

  Wer ihm glaubt und folgt, den erschlägt kein Regentropfen. Amen.