Religion ist Gedächtnis - Predigt zu Jesaja 52,7-10 von Christoph Dinkel
52,7-10

Religion ist Gedächtnis - Predigt zu Jesaja 52,7-10 von Christoph Dinkel

Religion ist Gedächtnis

Der Predigttext für den 4. Advent steht in Jesaja 52,7-10. Es ist ein politischer Text, eingebettet in eine genau fassbare historische Situation. Das Volk Israel befindet sich noch im Exil in Babylon, wohin es nach der katastrophalen Niederlage im Jahr 587 verschleppt worden war. Doch die politischen Umstände haben sich seitdem geändert. Wir befinden uns fast 40 Jahre nach der Katastrophe, etwa im Jahr 540 vor Christus. Statt des babylonischen Königs Nebukadnezars herrscht inzwischen der persische König Kyros. Er verfolgt eine liberale Religionspolitik. Für die im Exil befindlichen Israeliten gibt es eine neue Perspektive: Sie haben Aussicht zurückzukehren in ihre Heimat, nach Israel, nach Jerusalem, auf den Tempelberg, den Zion. Politische und religiöse Träume beginnen in Erfüllung zu gehen und so dichtet der unbekannte Prophet voller Freude und mit viel Anmut:

Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König! Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und rühmen miteinander; denn alle Augen werden es sehen, wenn der HERR nach Zion zurückkehrt. Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der HERR hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst. Der HERR hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.

Liebe Gemeinde!

(1) Religion ist Gedächtnis. Natürlich ist Religion auch noch anderes. Sie ist Glaube, Hingabe, Wissen, Gefühl und – das Wichtigste – Gottvertrauen. Aber Religion ist eben auch Gedächtnis – und das sehen wir, wenn wir auf die Worte unseres unbekannten Propheten hören, die im Buch Jesaja überliefert sind.

Religion ist Gedächtnis, sie gehört zum sogenannten kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft. In ihrem kulturellen Gedächtnis speichert eine Gesellschaft grundlegende Orientierungen und Werte, kollektive Erfahrungen und Erinnerungen. Rechtstraditionen gehören dazu, Sitten und Gebräuche, aber auch Geschmackseigenheiten einer Kultur wie die Liebe der Deutschen zu Bäumen und Pferden und Blasmusik. Unser kulturelles Gedächtnis prägt unser Zeitempfinden, ganz speziell in der Advents- und Weihnachtszeit: Weihnachtsmärkte prägen die Innenstädte, Weihnachtsbäume schmücken die Wohnzimmer, auch bei manchen muslimischen Mitbürgern. Überall sieht man Engel und Sterne, die wenigstens den Kundigen an den Stern und das Hirtenfeld von Bethlehem erinnern. Die Weihnachtsgeschichte der christlichen Tradition prägt den ganzen Dezember und vergleichbar verhält es sich im Frühjahr mit der Osterzeit. Unsere Kultur ist von christlichen Traditionen imprägniert, sie transportiert das Gedächtnis der großen christlichen Erzähltraditionen seit Jahrhunderten – und keine noch so schwere Armut und keine noch so zerstörerische Diktatur konnte daran etwas ändern. Die christliche Religion ist Teil der Kultur und Teil des Gedächtnisses unserer Gesellschaft.

(2) Religion ist Gedächtnis. Das ist keinesfalls immer angenehm. Denn speziell die christlich-jüdische Tradition bewahrt nicht nur gute Erinnerungen. Im Gegenteil: Unsere Tradition bewahrt ganz gezielt gerade auch die schlimmsten Erinnerungen auf. Im Kern unseres Glaubens steht ein zu Tode Gefolterter, ein Gekreuzigter. Das hat Konsequenzen: Wer sich im Namen des Schmerzensmannes versammelt, der wird sensibel für Schmerzen überhaupt: Gequälte Menschen, gequälte Tiere – sie gehen uns an, wenn wir uns ernsthaft Christen nennen wollen.

Religion ist Gedächtnis und die christliche Religion erinnert sich gerade auch an die Katastrophen und Abgründe der Geschichte. Wir schließen dabei an die Gedächtnistradition des Judentums an. Für das Judentum ist die Zerstörung Jerusalems im Jahr 587 und das nachfolgende Exil die Urkatastrophe seiner Geschichte. Naheliegend wäre gewesen, die Katastrophe möglichst bald zu vergessen, die Ärmel hochzukrempeln, neu anzufangen und das Alte hinter sich zu lassen. Tausendfach sind besiegte Völker so mit ihren Niederlagen umgegangen. Doch das Judentum im Exil zog andere Konsequenzen. Gezielt wirkte man dem Vergessen entgegen. Man schrieb alles auf, was an Erinnerung da war. Mit ungeheurem Fleiß ging man an die Abfassung der Bücher, die bis heute den Kern des Alten Testaments bilden. Man war bereit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, aus den politischen, den religiösen, den ethischen, den sozialen Fehlern, die man gemacht hatte. Die Zehn Gebote wurden als Maßstab für die Zukunft entwickelt. Aus der Erinnerung an die Katastrophe wurde eine ethische Kraftquelle ohne Beispiel entwickelt. Wer die schlechten Erinnerungen nicht scheut, kann Klarheit und Orientierung für die Zukunft entwickeln.

(3) Religion ist Gedächtnis. Aber sie ist keinesfalls nur Gedächtnis für Katastrophen. Gerade die Worte unseres Propheten belegen das. Mit Anmut und Poesie stiftet der Prophet ein Gedächtnis für einen der besten Momente der Geschichte Israels: Die Ankündigung der Befreiung aus dem Exil. Was für ein Augenblick: Fast vierzig Jahre unfreiwillig in der Fremde – und nun die Aussicht nach Hause zu kommen. Wie sich das anfühlt? Vielleicht so wie es sich am 9. November 1989 angefühlt hat, als in Berlin die Mauer fiel und Hunderttausende sich in die Arme lagen, weil die DDR-Diktatur vorbei war. Vielleicht so wie es sich angefühlt hat, als Nelson Mandela die Nachricht bekam, dass er nach 28 Jahren Gefangenschaft freikommen würde und die Apartheid abgeschafft wird. Die Worte des Propheten hätten Mandelas Worte sein können: „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen“.

Religion ist Gedächtnis, gerade auch für die großen Momente des Gelingens, für die Momente des Glücks, der Befreiung, des großen Jubels: „Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der HERR hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst.“

(4) Religion ist Gedächtnis. Und was wären wir Menschen ohne das Gedächtnis der Religion! Die Erinnerung an den tiefsten Schmerz und an das höchste Glück hält die Religion für uns lebendig. Wir werden Zeitgenossen der exilierten Israeliten und begreifen uns so selbst neu, indem wir unsere Gegenwart einordnen und vergleichen können. Am Gedächtnis der Religion entwickeln wir unsere eigenen Maßstäbe für Gut und Böse, für Richtig und Falsch. Am Gedächtnis der Religion lernen wir die großen Gefühle mitzufühlen: Trauer und Schmerz, Glück und lauten Jubel. Wir leihen uns die poetischen Worte der Tradition für unsere eigene Seelenlage. Wir schlüpfen hinein in die Bilder und Gleichnisse der großen Sprachkünstler unseres Glaubens und finden bei ihnen Worte, die genauer sind und schöner als die Worte, die uns selbst aktuell zu Gebote steht.

Was wären wir Menschen ohne das Gedächtnis der Religion! Was wäre unser Glaube ohne dieses Gedächtnis! Viel zu sehr lassen wir uns oft von den Krisen der Gegenwart dominieren: von den großen politischen Krisen, aber auch von den kleinen, persönlichen. Sie nehmen uns gefangen, engen uns ein, machen uns klein und schwach. Voller Verzagtheit gehen wir oft durch den Tag, haben Angst vor dem Morgen, Angst vor der Klassenarbeit oder dem nächsten Konflikt. Kleinglauben nennt Jesus solch eine Haltung. Bei seinen Jüngern hat Jesus solchen Kleinglauben diagnostiziert. Auch bei uns würde er dieses Diagnose wohl immer wieder stellen können.

Gegen solchen Kleinglauben hilft das Gedächtnis der Religion. Sie erinnert uns an die großen Taten Gottes, an die Befreiung der Israeliten aus dem Exil, an die großen Worte und Taten Jesu, an die Befreiung von Diktatur, Apartheid und Unfreiheit. Gegen unseren Kleinglauben erinnert uns das Gedächtnis der Religion an die lieblichen Füße der Freudenboten, „die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!“ – Amen.