Reminiscere – Gedenke
5,1-5

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geists sei mit euch allen. Amen.

I.

„Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit!“ so heißt es in Psalm 25 im sechsten Vers. Von diesem Vers leitet sich der Name des zweiten Sonntags in der Pas­sionszeit ab. Nach dem lateinischen Wort Reminiscere – Gedenke ist der heutige Sonntag benannt.

Wenn ich das Wort gedenke höre, entsteht das Bild des Regenbogens vor meinem inneren Auge. Nach der Sintflut hat Gott ihn über der Erde ausgespannt, mit den Worten:

„Darum soll mein Bogen in den Wolken sein, dass ich ihn ansehe und gedenke an den ewigen Bund zwischen Gott und allem, was lebt.“

Der Regenbogen – Ein Zeichen der Barmherzigkeit Gottes: Er lässt den Himmel wieder aufgehen nach den Stürmen und den Leiden der Zeit.

Reminiscere. Denkt daran und bewahrt es im Herzen: Der Himmel voll neuer Hoffnung geht auf – über allen Menschen. Ein Regenbogen kennt keine Gren­zen. Der Bogen am Himmel ist Gottes Zeichen der Hoffnung, des Friedens und der Liebe für die ganze Welt. Ein Regenbogen leuchtet nicht nur für einzelne Menschen und er macht nicht Halt an Grenzbefestigungen oder Zäunen, die hochgezogen werden.

II.

An diese weltumspannende Dimension der Liebe Gottes wollen wir heute beson­ders erinnern, wenn wir in diesem Gottesdienst für und mit bedrängten und verfolgten Christinnen und Christen beten. Wir spannen einen Bogen von uns selbst – den eigenen Herausforde­rungen in unseren Ge­meinden und in unserem Land – hin zu den Christinnen und Christen und zu allen bedrängten Menschen in der Welt. Ihr Schicksal ist uns nicht egal.

Ja, wir müssen unserer Verantwortung hier vor Ort gerecht werden, wenn Men­schen bei uns Zuflucht suchen, weil sie vor Krieg und Gewalt fliehen mussten. Aber zugleich erheben wir unsere Stimme für diejenigen, die in ihren Ländern verfolgt und bedrängt werden. Wir verschließen die Augen nicht. Schon zum siebten Mal nehmen wir hier in St. Marien diesen zweiten Sonntag in der Passi­onszeit zum Anlass, um an das Leiden unserer bedrängten und verfolgten Glau­bens­geschwister zu erinnern und für sie zu beten.

Wir dürfen es nicht hinnehmen, wenn Menschen aufgrund ihres Glaubens ver­folgt werden. Es ist wichtig, klar zu benennen, wo Länder und politische Sys­teme Menschen aufgrund ihrer Religion bedrängen. Und wir müssen auch hier bei uns für diese Fragen sensibel sein. Wir beobachten mit Sorge, dass es auch in Flüchtlingsunterkünften bei uns Vorfälle gibt, wo Christen bedrängt werden. Wir weisen darauf hin, sorgen dort, wo wir können, dafür, dass Konflikte bei­ge­legt werden, wie etwa in den Unterkünften der Stadtmission. Aber wissen auch, dass es Menschen gibt, die diese Vorfälle dazu benutzen wollen, Misstrauen zu schüren, weil sie eben nicht das Ziel des friedlichen Zusammenlebens von Men­schen unterschiedlicher Religion und Kultur vor Augen haben, sondern bewusst Stimmung machen wol­len gegen Flüchtlinge und besonders gegen die Muslime unter den Flüchtlinge. – Wer sich aber an Gottes Verheißungen ausrichtet, der hat den Regenbogen vor Augen: Der Bogen am Himmel ist Zeichen der allum­spannenden Barmher­zig­keit Gottes, die jedem Menschen gilt. Und das Ziel ist deshalb der Friede, der jedem Menschen gilt, gleich welcher Religion er oder sie angehört. Und deshalb ist es ein gefährliches Unterfangen, wenn gefordert wird, Men­sch­en, die nach Deutschland kommen, nach ihrer Religion zu trennen. Wir müssen vielmehr von Anfang an klar machen, dass das Zusammenleben nur fried­lich und in Anerken­nung der anderen Person möglich ist. Wo Menschen bedrängt werden, müssen wir sie schützen; aber wir dürfen das nicht zum Anlass nehmen, um die Religio­nen gegeneinander auszuspielen. Denn wir sind in dieser globa­li­sierten Welt mehr denn je darauf ange­wie­sen, unter dem einen Himmel zu leben.

III.

Wir spannen einen Bogen, hinein in die Welt. Ich freue mich besonders, dass wir diesen Gottesdienst heute mit Geschwistern aus der eritreisch-orthodoxen Gemeinde von Berlin feiern. Den Chor der Gemeinde haben wir schon gehört. Und ich bin dankbar, dass auch Almaz Haile und Priester Msgun Tamzgi diesen Gottesdienst mitgestalten. Wir sind verbunden im Gebet. Etwa 400 Mitglieder umfasst ihre Gemeinde in Berlin derzeit. Und ich bin sicher, Sie schauen mit großer Sorge auf Eritrea. Sieben Prozent der Bevölkerung sind auf der Flucht. Ungefähr 11.000 Menschen sind im vergangenen Jahr aus Eritrea nach Deut­sch­land geflohen, circa 1.000 davon sind nach Berlin ge­kommen. Oft sind es junge Männer, die sich dem totalitären Regime und dem zeit­lich unbegrenzten mili­tärischen Pflichtdienst entziehen, zu dem alle gezwun­gen werden. Das Land ist stark abgeschirmt und mittlerweile international iso­liert. So ist es oftmals schwie­rig, überhaupt an verlässliche Informationen zu kommen. Die Men­sch­en­rechte sind stark eingeschränkt und auch die Religions­freiheit ist davon be­trof­fen. Es sind oftmals die Angehörigen religiöser Minder­heiten, darunter viele christ­liche Glaubensgeschwister, die unter dem Regime leiden. Etwa zwei- bis dreitausend Menschen sind um ihres Glaubens willen in Haft.

Reminiscere – Betend gedenken und erinnern wir miteinander, was noch aus­steht in Eritrea und in der gesamten, globalen krisengeschüttelten Welt. Der Regenbogen erinnert uns dabei daran, dass die Welt ein Ziel hat, sie lebt auf die Barmherzigkeit und Liebe Gottes zu. So spannen wir betend einen Bogen zu Gott, der unser Herz schon jetzt mit Hoffnung füllt.

IV.

Auch Paulus spannt im Predigttext für den heutigen Sonntag einen großen Bo­gen zu dem Frieden, der durch die Barmherzigkeit Gottes kommt. Dort heißt es:

„Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frie­den mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus; durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben wird.“

So wie der Regenbogen, so kennt auch Gottes Gerechtigkeit keine Begrenzun­gen. Das macht Paulus in den ersten vier Kapiteln des Römer­briefes deutlich. Paulus betont, dass Gottes Recht­ferti­gung unab­hängig von der religiösen Praxis der Tora gelte und auch die Völker einbeziehe. Denn Abraham ist auch der Vater der nicht-jüdi­sch­en Gläubigen. Und mit der Auferstehung Jesu Christi be­ginnt eine neue Welt­zeit, eine neue Schöpfung Gottes. Die Auferstehung Jesu von den Toten, das ist der Anbruch einer neuen Welt, in der neue Maßstäbe gel­ten. Frieden mit Gott zu haben be­deutet, mit­ten in der alten gewalttätigen Welt, bereits in der neuen Welt des Frie­dens zu leben und das Leben nach neuen Maß­stäben auszurichten. Frie­den mit Gott ist das wichtigste Merk­mal der kommen­den Zeit. Wir Christinnen und Christen können aus dieser Perspektive leben und auch in den aktuellen, bedrängenden Erfahrungen die Hoffnung bewahren.

V.

Als die Menschen in der Gemeinde in Rom das Wort „Frieden“ hörten, hatten sie sicherlich die Propaganda des römischen Imperiums in Ohr. Der Kaiser ver­sprach Frieden und Sicherheit: „Pax et securitas“, das war der Kern der römisch­en Staatsideologie. Hochaktuell ist das, denn die Pax Romana war auf Kosten von Abschottung und Krieg an den Außengrenzen er­kauft. Diesem abgründigen Frieden stellt Paulus in seinem Brief nun eine Gegen­realität gegenüber. Leben aus Rechtfertigung. Ein anderer Friede kommt da zum Vorschein. Einer, der aus der Zuversicht des Glaubens lebt. „Shalom“ – ein umfassender Friede, der die Beziehung zu sich selbst, zur Welt und den Mit­menschen und zu Gott um­fasst. Paulus bekennt diesen Frieden, obgleich er ihn in seinem äußeren Leben wohl kaum jemals erfahren hat. Erst hatte er selbst die Minderheit der Christen ver­folgt, getrieben von der fanatischen Überzeugung, er müsse diese neue Denk­ungs­art ausrotten. Dann fand er seinen Frieden in Chris­tus und wurde zum Pre­diger des Shalom, allerdings, nun selbst ohne Ruhe, ver­folgt von Anders­denken­den, Anders­glaubenden. Aber in seinem getriebenen, gehetzten Leben hält er daran fest: In der Gnade stehe ich schon jetzt gegründet in diesem umfassenden Frieden. – Paulus hat ein Bild vor Augen, das die Juden seiner Zeit, die in der griechischen Kultur gebildet waren, gerne benutzten: Ein Mensch gewinnt Halt und Kraft, wenn er in Gott seinen Standpunkt gefunden hat. Er ist wie ein Fels in der Brandung, der trotz der Stürme und Wellen fest bleibt. In Christus hat Paulus diesen Fels gefunden.

VI.

Auch wir brauchen diese Standfestigkeit, um in einer offensichtlich unver­söhn­ten Welt weiter an den Frieden zu glauben, für ihn zu beten und zu arbeiten. Wir haben es heute bei uns zwar nicht wie die ersten Christen mit einer Staatspro­pa­ganda zu tun, aber mit der Propaganda einer rechtspopulistischen Bewegung. Sie versucht sich christlich zu geben, aber säet doch nur Unfriede mit ihren Parolen. Inzwischen beschimpfen die führenden Köpfe dieser Bewegung in aller Offen­heit die Kir­chen. Verlogen seien wir. Für bedrängte Christen würden wir uns zu wenig einsetzen. Wir würden die Ängste der eigenen Bevöl­kerung nicht ernst nehmen. Alle diese Parolen zeigen nur, dass hier Menschen das Wort er­grei­fen, die weder Ahnung haben von dem, was die Kirchen in unserem Lande und welt­weit leisten, noch von der Botschaft Jesu Christi. Was wir für die christ­lichen Flüchtlinge tun, geschieht schon seit Jahren in enger Abstimmung mit den Bisch­öfen der Heimatländer. Wir erheben unsere Stimme für die Menschen, wie wir es heute in diesem Gottesdienst tun. Wir helfen mit der Diakoniekatas­tro­phen­hilfe in den Flüchtlingslagern weltweit. Wir unterstützen die Gemeinden fremder Sprache in Deutschland, die sich für die Flüchtlinge aus ihren Heimat­ländern ein­setzen. Rechtspopulisten geben vor, sich für das Chris­tentum und für die Christen einzusetzen, und verkehren dabei das Evangelium Jesu in sein Gegenteil: Denn das Besondere des Christentums ist es gerade, den anderen, den Fremden, denen, die in existentieller Not Hilfe brauchen, zu helfen. Natürlich müs­sen wir auch die Belastungen für unser Land im Blick behalten, die nicht übermäßig  werden dürfen. Natürlich brauchen wir geregelte Zugangs­wege für Asyl­suchen­de und Migranten. Und natürlich brauchen wir europäische Lösun­gen. Alle ver­antwortlichen Politiker arbeiten an diesen Lösungen. Nicht aber die Rechts­po­pulisten. Sie machen Stimmung, und säen Hass. Wer die Ängste der Menschen in unserem Land ernst nehmen will, muss deshalb vor den Rechtspo­pu­listen warnen: Denn sie nehmen die Ängste gerade nicht ernst, son­dern spie­len mit der Angst, ohne Lösungen anzubieten. Weil die Kirchen die Ängste der Menschen ernst nehmen, warnen sie klar und mit einer Stimme vor den unver­ant­wortlichen Parolen der Rechtspopulisten!

VII.

Sonntag Reminiscere. In dieser Welt der Bedrängnisse und der ge­fährlichen Stimmungsmacher suchen wir aus unserem christlichen Glauben her­aus nach Wegen des Friedens.

„Erinnert euch an den Regenbogen“ – so heißt ein Buch mit Gedichten und Tex­ten von Dorothee Sölle. Darin schreibt sie:

„Man kann das Geheimnis des Glau­bens nicht verstehen, wenn man nichts von den Schmerzen der Welt weiß […] Das Lamm Gottes trägt die Sünde der Welt ja nicht, damit wir sie über­sehen könnten oder aufhören könnten, an ihr zu leiden, sondern es will uns in den glei­chen Prozess des Tragens, des Für-andere-Daseins hineinziehen.“

Sonntag Reminiscere – Gedenktag für die bedrängten Christen. In der Passions­zeit lassen wir uns mit hineinnehmen in den Lei­dens­weg Jesu. Und zugleich gedenken wir an den Bogen der Hoffnung und der Barmherzig­keit, den Gott über den Himmel spannt. Auf ihn hin sind wir unter­wegs mit Jesus Christus. Er ist der Spannungsbogen unseres Lebens und der blei­ben­de Grund unserer Hoff­nung.

Amen.

Perikope
21.02.2016
5,1-5