„Richtstatt“: zuletzt Würde in alle Ewigkeit – Predigt zu Johannes 18,28-19,5 von Ulrich Kappes
18,28-19,5

Es ist der „Rüsttag“. Am darauf folgenden Tag, einem Freitag, ist Passahfest, Ein Lamm ist zu kaufen, der koschere Wein ist zu erwerben und alle, die zu einer Familie gehören, sind spätestens jetzt einzuladen … Vorschrift für den „Rüsttag“ ist an oberster Stelle, unter keinen  Umständen das Haus eines Heiden zu betreten und sich dadurch „zu verunreinigen“. Deshalb blieben die Juden, die gekommen waren, um Jesus kreuzigen zu lassen, dem Palast des Pilatus fern und standen „draußen“.

 

Als man Jesus zu Pilatus brachte und ihm den „Fall“ Jesus von Nazareth sozusagen vor die Füße legte, wehrte er ab. Er wollte ihn nicht verurteilen. „Das geht mich nichts an!“

Er ist mit Rücksicht auf die Menge mal drinnen und mal draußen, pendelt ständig hin und her. Zweimal geht er „nach draußen“, um der Menge zu sagen: „Ich finde keine Schuld an diesem Menschen.“ Dann geht er wieder in den Palast zurück. Dieses „Tür auf und Tür zu“ ist wie eine Welle, die immer stärker wird und aus der heraus es für Jesus schließlich kein Entrinnen mehr gab.

 

Waren es die „Juden“, die Pilatus vor sich her trieben, bis er machte, was sie wollten? Das hat sich so in das kollektive Gedächtnis bis hin zur Johannespassion von Johann Sebastian Bach eingegraben. Auf die Frage von Pilatus, ob er nicht Jesus am Passahtag begnadigen kann, singt der Chor grauenhaft und entfesselt: „Weg, weg mit dem, weg, weg!“ Das waren „die Juden“.

Lesen wir den Text des Johannesevangeliums aber genau, so heißt es unmittelbar vor dem Urteilsspruch: „Da (Pilatus) die Hohenpriester und deren Diener sah, schrien sie und sprachen: Kreuzige! Kreuzige!“ (Joh. 19,6) Werden wir dem Wortlaut des Evangeliums gerecht, so waren es nicht die „Juden“ als Volk, sondern ein Mob von „Hohenpriestern und deren Diener“, die Pilatus schließlich zum Todesurteil trieben. („Das Volk der Juden“ hatte ohnehin gar keinen Platz vor dem Gerichtspalast.)

 

Vor der Geißelung des Angeklagten findet ein Zwiegespräch zwischen Pilatus und Jesus statt. Pilatus fragt Jesus, ob er, unabhängig von der von ihm benutzten Verhöhnung als „König der Juden“, ein König sei. Jesus antwortete: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll.“

 

Das ist wohl eine der dichtesten Beschreibungen der Mission des Jesus von Nazareth im Johannesevangelium. Indem Pilatus Jesus nicht unterbrach und ins Wort fiel, kann man vermuten, dass er für einen Moment erkannte, dass Jesus etwas ganz anderes ist als es der äußere Schein hergibt. Er erkannte die große Würde dieses Menschen wohl, wagte aber keine Schlussfolgerungen zu ziehen. Das ist seine tiefe Tragik.

‚Ich bin in diese Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit zeugen soll, und darin bin ich der König.’ Was heißt das?

Zunächst: „Ich bin in diese Welt gekommen …“ Die Wahrheit dieses Jesus ist „nicht von dieser Welt“. Sie ist aus einem anderen Kontext. Sonst hätte der „König der Wahrheit“ nicht in die Welt kommen müssen, wäre sie von der Welt. Wir müssen das sehen und wir müssen das festhalten. Es wird mit Christus etwas in unsere Welt gebracht und gesenkt, das den Maßstäben dieser Welt nie gerecht wird. „Liebet eure Feinde … Vergebt, so wird euch vergeben … Richtet nicht …“, um nur einiges zu nennen, folgt nicht den Maximen der „Welt“. Unterwerfen wir seine Wahrheit unseren Dimensionen, vergessen wir ihren Ursprung, so werden wir keinen Zugang finden.

 

„Ich bin ein König … und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit zeugen soll.“ Der „König der Wahrheit“ leitet an, in seinen Worten „die Wahrheit“ zu suchen. Wahrheit ist, blicken wir auf sein Leben, nicht Halbheit und nicht Resonanz auf das, was gehört werden will. Wahrheit ist keine Halbheit. Sie geht keine krummen Wege. Das ist der Anspruch, der vom König der Wahrheit an uns ausgeht. ‚Suche die Wahrheit und nichts als die Wahrheit und meide die Halbheit und eine Rede, die anderen bloß zu Gefallen dient.’ Wer dem König der Wahrheit angehört, ist ein unablässig um die Wahrheit ringender Mensch.

 

Pilatus fragt: „Was ist Wahrheit?“ Die Frage markiert, was Pilatus ausmacht. Sie ist echt. ‚Was ist Wahrheit für einen wie mich, den Pilatus? Heute dient das als Wahrheit, was mir weiter hilft, morgen jenes, dann etwas Anderes. Eine absolute Wahrheit gibt es nicht. Sie schadet, sie stört. Was soll ich bloß mit einem Wort wie Wahrheit?’

 

Was ist Wahrheit? Ich bin, sagen wir, Buchhalter und schaue auf die Liquidität meines Betriebes. Oder ich gehe täglich zur Arbeit am Fließband. Oder ich baue ein Haus. … Das ist es. Das ist mein Alltag, mein Leben. Was interessiert dann „Wahrheit“? Was für eine Wahrheit außerhalb der Grenzen, sein Leben gut zu organisieren und vernünftig zu führen, brauche ich? Ist Wahrheit ein Luxus, den der „praktische“ Mensch nicht braucht?  Wie groß, wie stark und wie mächtig fesseln uns die Erfordernisse des Alltags? Richtigkeit und Genauigkeit sind geboten, welchen Wert aber hat „Wahrheit“?

 

Der Disput zwischen Jesus und Pilatus muss in der Alten Kirche sehr hoch im Kurs gestanden haben. Irgendeine oder irgendeiner hat ihn offenbar über alles geschätzt. Diesem Umstand verdanken wir wohl, dass der Text als griechische Handschrift bewahrt wurde, und zwar als das älteste Stück einer Handschrift des Neuen Testamentes, das wir überhaupt besitzen. Das Fragment stammt aus den Jahren 100–125 n. Chr. 1

Wie gesagt: Offenbar muss es Christen gegeben haben, die gerade in diesem Text sich selbst wieder fanden und ihn darum besonders bewahrten, so dass er der Nachwelt erhalten blieb. ‚Wer sind wir, die Christinnen und Christen, im Unterschied zu der Welt um uns im Römischen Reich? Wir sind nicht mehr und nicht weniger als Gefolgsleute des Königs der Wahrheit.’

 

Pilatus befiehlt wie aus einer Laune heraus, Jesus zu geißeln. Die römischen Soldaten setzen der Geißelung ihrerseits die Krone mit einem Kranz aus geflochtenen Dornenzweigen und dem Umhängen eines Purpurmantels auf. Sie haben ihre viehische Freude, diesen königlichen Menschen zu misshandeln.

 

 Pilatus sagt, als der so geschundene Jesus vor der Menge steht: „Sehet, welch ein Mensch!“ Das ist die Übersetzung Martin Luthers. Im Urtext steht nur da: „Sehet, der Mensch!“

 

Was ist gemeint? Wir fragen als erstes, ob das der letzte Zynismus des Pilatus ist. „Sehet, so ist der Mensch!“ - Verhöhnt, geschlagen, von einem Wahn, er sei etwas Besonderes, getrieben, Opfer eines Gerichtsspruches, der keiner ist, weil der Richter ein Schwächling ist?’ Ist das gemeint? Es gibt prominente Ausleger, die diese Worte so interpretieren.2 Was ist der Mensch? ‚Er ist in diese Welt geworfen und ihr nur ausgeliefert. Keinen Wert hat dieses Menschsein als Qual und Elend.’ Ich verstehe diese Worte anders.

 

Bedenken wir:

Jesus sieht und weiß, dass er nunmehr einem furchtbaren, unbeschreiblich grausamen Tod entgegengeht. Er wird sich bewusst, dass er an die äußerste Grenze dessen, was ein Mensch ertragen kann, getrieben wird.

Und? Jesus schweigt. Der „König der Wahrheit“ verschmäht es, sich gegenüber Pilatus oder dem Mob da draußen zu äußern. Er sucht nicht ihr Mitleid oder wenigsten etwas Nachdenklichkeit über das, was sie tun. Er schweigt hoheitsvoll zu allem. Heißt das: So und nicht anders ist wahres Mensch-Sein? Einer, der Verhöhnung, Schmerzen und Tod mit königlicher Würde erträgt?

 

Ist „Sehet der Mensch!“ dann so zu verstehen, dass es eine letzte Verbeugung des Pilatus vor Jesus ist und es dann gleichzeitig an uns die Botschaft ist, diesen starken und diesen königlichen Menschen im Leiden und im Sterben vor Augen zu haben?

 

Wir halten inne und müssen nachfragen. Wird uns hier in einer biblischen Szene etwas gesagt, was wir aus unserer Erziehung heraus kennen: Weine nicht, zeig keine Schwächen, blamier dich nicht? Ist Jesus der Mensch, der allen Leidenden vorlebt, wie man das Sterben aushält und erträgt? Müssen wir diese Worte dann nur als eine biblische Variante für weltliche Tugendpredigt auf die Tapferkeit einstufen, einer Tapferkeit, die der Menschheit seit Sokrates  bis zu den Widerstandskämpfern vom 20. Juli 1944 vor Augen gehalten wird?

 

Die Frage ist nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten.

Was ist ausschlaggebend für ein Christenleben, das Jesus nachahmt? Im Glauben wird Jesus nur dann in uns groß, wenn wir unablässig sein Bild und sein Wort vor Augen haben. Von diesen Worten und dieser Jesusgestalt geht die eigene, unvergleichbare Kraft und Potenz aus, die Menschen ihm ähnlich macht. Das ist etwas anderes, als an ein Vorbild zu denken.

„Sehet der Mensch!“ So ist, nach Pilatus in prophetischer Rede, der wirkliche Mensch: gefasst, ungebeugt und Gott gehorsam im größten Leiden. Der Weg der Nachfolge führt über die Verinnerlichung des Evangeliums. Das macht den Unterschied zu einer Tugendpredigt.

 

ANMERKUNGEN

1 I Andreas Reinert, Das Johannes-Evangelium. Ein Arbeitsheft zur Erschließung des ganzen biblischen Buches, Seelze 2012, S. 18.

2 I Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Berlin 1963, S. 510 etwa im obigen Sinn: „So muss denn Jesus heraustreten als die Karikatur eines Königs und Pilatus stellt ihn vor mit den Worten: das ist der Mensch! Da seht die Jammergestalt.“

Günther Baumbach, Die Bibel mit Erklärungen, Berlin und Altenburg 1989, z. St. S. 225: „Das berühmte Pilatuswort „Sehet, welch ein Mensch!“ (19,5) dürfte deshalb ironisch gemeint sein und die Überzeugung des Statthalters von der politischen Harmlosigkeit zum Ausdruck bringen.“ Günther Baumbach schränkt allerdings ein: „Jedoch kann dieses Wort im Sinn des Joh auch prophetisch  gemeint sein.“

Ulrich Kappes

Perikope
07.04.2019
18,28-19,5