Rollentauschübung - Predigt über Joh 13,1-15.34-35 von Jürgen Kaiser
13,1-15.34-35

Es war vor dem Passafest und Jesus wusste, dass für ihn die Stunde gekommen war, aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen, und da er die Seinen in der Welt liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung. Während eines Mahls, als der Teufel dem Judas Iskariot, dem Sohn des Simon, schon eingegeben hatte, ihn auszuliefern Jesus aber wusste, dass ihm der Vater alles in die Hände gegeben hatte und dass er von Gott ausgegangen war und zu Gott weggehen würde , da steht er vom Mahl auf und zieht das Obergewand aus, nimmt ein Leinentuch und bindet es sich um; dann gießt er Wasser in das Becken und fängt an, den Jüngern die Füße zu waschen und sie mit dem Tuch, das er sich umgebunden hat, abzutrocknen.
Nun kommt er zu Simon Petrus. Der sagt zu ihm: Du, Herr, willst mir die Füße waschen? Jesus entgegnete ihm: Was ich tue, begreifst du jetzt nicht, im Nachhinein aber wirst du es verstehen.
Petrus sagt zu ihm: Nie und nimmer sollst du mir die Füße waschen! Jesus entgegnete ihm: Wenn ich dich nicht wasche, hast du nicht teil an mir. Simon Petrus sagt zu ihm: Herr, dann nicht nur die Füße, sondern auch die Hände und den Kopf! Jesus sagt zu ihm: Wer vom Bad kommt, braucht sich nicht zu waschen, nein, er ist ganz rein; und ihr seid rein, aber nicht alle. Denn er kannte den, der ihn ausliefern sollte. Darum sagte er: Ihr seid nicht alle rein.
Nachdem er ihnen nun die Füße gewaschen hatte, zog er sein Obergewand wieder an und setzte sich zu Tisch. Er sagte zu ihnen: Versteht ihr, was ich an euch getan habe? Ihr nennt mich Meister und Herr, und ihr sagt es zu Recht, denn ich bin es. Wenn nun ich als Herr und Meister euch die Füße gewaschen habe, dann seid auch ihr verpflichtet, einander die Füße zu waschen. Denn ein Beispiel habe ich euch gegeben: Wie ich euch getan habe, so tut auch ihr. …
Ein neues Gebot gebe ich euch: dass ihr einander liebt. Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: Wenn ihr bei euch der Liebe Raum gebt.

Sein rechter Fuß ragt über den Rand und streckt sich jeder Nase entgegen, die ihn wittert, und jedem Mund, der ihn sucht. Südafrikaner und Albaner, Bayern und Brasilianer, Chinesen und Chilenen und am Ende auch ein paar Zyprioten, Menschen aller Herren Länder reihen sich vor diesem Fuß ein, um ihn zu küssen. Das bringe Glück, heißt es. Petrus, liebe Gemeinde, thront bekrönt in seinem Dom in Rom und lässt sich seit 700 Jahren von den Glückwünschern die Füße küssen. Das scheint Petrus nicht zu stören, jedenfalls lässt sein Gesichtsausdruck sich nichts anmerken, seit 700 Jahren schaut er unverändert über die Küssenden hinweg. Der große Zeh indes ist kaum mehr zu erkennen. Millionen Küsse haben ihn weggeküsst, ein paar Bronzemoleküle seines Zehs an den Lippen nimmt jeder aus dem Petersdom mit. Viel Glück.

Als Petrus noch aus Fleisch und Blut war, war ihm die Berührung seiner Füße in der Regel auch nicht peinlich. Oft wurden sie gewaschen. Wenn er zu Gast war in fremden Heimen. In den Häusern der Reichen kamen die Sklaven und wuschen ihm die Füße, in den Häusern der Armen stellten sie ihm eine Schüssel hin und er wusch sie sich selber. Nur einmal war es ihm peinlich. Als Jesus ihm die Füße waschen sollte. „Nie und nimmer sollst du mir die Füße waschen!“
Dass Petrus hier so heftig reagiert, ist bemerkenswert. Er ist peinlich berührt. Jesus sprengt die Ordnung, indem er Sklavenarbeit übernimmt und gegen Regeln und Sitten verstößt. Was Petrus aber vor allem verstört, ist, dass „der Herr“ sich so demütigt. Petrus will, dass Jesus der Herr bleibt. Der Christus – sein Christus – muss oben bleiben, Haltung bewahren. Für Petrus ist Christus eine Helden- und eine Vaterfigur. Die darf nicht vom Sockel fallen, die muss die Oberhand behalten und kann nicht anderen die Füße waschen. Petrus hat Angst, die Autorität seines Herrn zu verlieren. Er kann nicht dulden, dass Jesus sich selbst so demütigt.

Worum geht es beim Waschen der Füße? Jedenfalls nicht darum, dass die Füße sauber werden. Obgleich das in Zeiten, in denen die Straßen noch staubig und die Füße noch nicht beschuht waren, sondern nackt in Sandalen hausten, nötig war, bevor man das Haus betrat.
Dass es doch darum gehe, meint Petrus zunächst. Ihm selbst scheint erst gar nicht klar zu sein, warum er sich so dagegen sträubt, dass Jesus ihm die Füße waschen will. Jesus sagt: Wenn ich dich nicht wasche, hast du nicht teil an mir. Daraufhin will Petrus ganz gewaschen werden.

Das ist einer jener vielen produktiven Missverständnisse, mit denen das Johannesevangelium das Verstehen seiner Leserinnen und Leser leitet. Konkretes wird zunächst wörtlich und darum im Sinne des Evangeliums falsch verstanden. Jesus gibt die metaphorische Deutung: Diese Fußwaschung ist eine Übung, mit der man in seine Gemeinschaft hineinkommt. Der Punkt an der Fußwaschung ist nicht die Reinigung. Nicht sauber, nicht rein muss sein, wer Teil seiner Gemeinschaft werden will. Der Punkt ist vielmehr das Herr- und das Knechtsein, das Oben und das Unten.
Petrus war das nicht klar, doch mag er es intuitiv gespürt haben. Ihm ist die Fußwaschung durch Jesus ja nicht etwa deshalb peinlich, weil er nicht sauber werden wollte, sondern deshalb, weil er es nicht erträgt, dass Jesus vor ihm auf die Knie geht. Aber gerade darum geht es, um das Oben und das Unten und dessen beispielhafte Umkehrung.

Also reden wir über das Oben und das Unten, das es immer noch gibt, und offiziell doch nicht mehr.
Liberté, égalité, fraternité. Freiheit und Gleichheit sind Grundwerte der westlichen Gesellschaft. Es gibt keine Sklaven mehr und keine Herren, alle Menschen sind gleich – theoretisch. In der Wirklichkeit gibt es noch „die da oben“ und „die da unten“. Die Gesellschaftsetagen sind lange nicht so durchlässig, wie man sich das wünscht. Und weil nicht sein darf, was nicht sein soll, werden die Unterschiede in der öffentlichen Inszenierung kaschiert.

Als letztes Jahr kurz vor Ostern der britische König seinen Einzug in Berlin hielt, wurde er von der Menge bejubelt am Tor empfangen. Sie schwenkten keine Palmzweige, sondern Fähnchen – schwarz, rot, gelb und den Union Jack. Als Jesus in Jerusalem einzog, schrieb das vom Propheten Sacharja verfasste Protokoll vor, dass dieser König nicht hoch zu Ross, sondern auf einem Esel zu reiten habe. Charles hingegen kam im Bentley. Er stieg aus und ging auf die Menge hinter der Absperrung zu, um Hände zu schütteln. Dabei fiel einem Mann vor Schreck sein gelbes Mützchen vom Kopf und landete vor der Absperrung, so dass er nicht mehr drankam. Der König bückte sich und gab es ihm. Der Bürger war selig. Oder auch peinlich berührt, wie Petrus. Das war im Fernsehen nicht genau auszumachen.
Wurden früher auch in der öffentlichen Begegnung die Unterschiede inszeniert, werden sie heute durch Inszenierungen der Gleichheit versteckt. Aber jeder weiß: Sie sind noch da. Nach der Inszenierung fährt der König ohne Krone im Bentley ins Adlon, der Mann mit Mützchen im Opel in die Platte.

Offiziell gibt es keine Hierarchien mehr in Staat und Gesellschaft. Nur in der katholischen Kirche gibt es noch die Hierarchie: das Kirchenvolk, darüber der niedere Klerus, darüber der hohe Klerus, darüber der Papst. Und deshalb gibt es dort auch noch die Fußwaschung. Am Gründonnerstag waschen die Priester 12 Gemeindemitgliedern die Füße und der Papst kniet in Rom vor 12 Wohnungslosen oder 12 Menschen mit Behinderung oder 12 Gefangenen. Bis Ratzinger nur Männerfüße, seit Franziskus auch Frauenfüße, vielleicht nicht gleich 24.

Wo es Hierarchien gibt, muss man den Rollentausch üben. Die Ersten werden die Letzten sein und die Letzten werden die Ersten sein. Das ist die Gesellschaftsordnung im Geltungsbereich Gottes. Das Reich Gottes verwirklicht nicht die Prinzipien der französischen Revolution: Liberté, égalité, fraternité. Ihr nennt mich Meister und Herr, und ihr sagt es zu Recht, denn ich bin es, sagt Jesus. Der, der Petrus die Füße wäscht, macht sich zwar vor Petrus klein und den Petrus dadurch groß, aber er gibt damit sein Herrsein nicht auf. Es kommt vielmehr darauf an, in den Rollen flexibel zu werden. „Die da oben“ müssen von Zeit zu Zeit nach unten und „die da unten“ dürfen von Zeit zu Zeit nach oben. Es tut den Mächtigen gut, sich hin und wieder zu beugen und zu demütigen. Es tut aber auch denen „da unten“ gut, das Herrsein zu üben. Die Aufwertung durch das Evangelium darf nicht theoretisch bleiben. Man muss sie zuweilen auch spüren und erfahren, um ihr zu trauen. Nicht nur die Reichen, Schönen und Mächtigen laufen Gefahr, sich allzu gottgewollt auf der oberen Etage einzurichten. Auch die Armen, Schwachen und Chancenlosen richten sich zuweilen allzu bequem im Keller einer Opferrolle ein und wollen es gar nicht wahrhaben, dass sie – ja auch sie und sie gerade – Kinder Gottes sind, also Heilige und Priester, Bischöfe und Könige. In Gottes Augen spiegeln sich die Verhältnisse seitenverkehrt.

Jesus nennt die Fußwaschung ein Beispiel oder ein Vorbild – Wie ich euch getan habe, so tut auch ihr! –, man kann es auch eine Abschattung nennen oder eben einen Vorschein dessen, was noch aussteht. Wir brauchen diese zeichenhaften Umkehrungen, denn die Kirche ist berufen, Vorschein des Reiches Gottes zu sein. Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele. (Mk 10,42-45)

Der franziskanische Papst praktiziert die Fußwaschung und übt den Rollentausch als Vorschein des Reichs Gottes. Er hat sogar eine moderne Form derselben erfunden. Wenn die Wichtigkeiten dieser Welt in großen schwarzen Limousinen vorfahren, kommt seine Heiligkeit in einem kleinen weißen Fiat cinquecento. Da spielt der Papst ein bisschen Mister Bean und lächelt ähnlich schalkhaft. Vielleicht ist der kleine Fiat auch eine Anspielung auf den Esel, mit dem Jesus in die Stadt kam. Das Ganze offenbart Humor. Humor hat die gleiche Aufgabe wie die Fußwaschung und wie die Heiligkeit im Fiat: den Spiegel vorhalten, „die da oben“ klein und „die da unten“ groß zu machen. Humor karikiert alle, die sich für besonders wichtig und groß halten. Gott stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. (Lk 1,52)

Dem bronzenen Petrus im Petersdom scheint es nicht mehr peinlich zu sein, dass alle Welt ihm die Füße küsst. Jedenfalls verrät sein stoischer Blick nichts dergleichen.
Ich würde nur gern wissen, was sein Nachfolger aus Fleisch und Blut denkt, wenn er anderen die Füße wäscht. Schade eigentlich, dass die Fußwaschung in der evangelischen Kirche keinen Platz gefunden hat. Wir sind zwar nicht so hierarchisch wie die katholische Kirche, aber ganz unhierarchisch sind wir auch nicht. Ein paar Demutsübungen würden auch uns guttun. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt wurde letztes Jahr in der Potsdamer Hugenottengemeinde gehalten, einer eher bildungsbürgerlich akademisch geprägten Gemeinde.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Einige Tage, bevor die Predigt letztes Jahr gehalten wurde, besuchte König Charles Berlin. Die Bilder des Besuchs waren noch präsent. Ich habe das Beispiel gelassen, obwohl das Beispiel nicht mehr aktuell ist und die Bilder nicht mehr so präsent sind. Vielleicht lassen sich aktuellere Beispiele finden.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
 

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Anmeldung zur Predigt kam recht kurzfristig, so dass ein Coaching nicht mehr drin war. Daher geht die Predigt ungecoacht und ungeschliffen online.

Perikope
28.03.2024
13,1-15.34-35