Rückreise durchs Niemandsland - Predigt zu Jesaja 29,17-24 von Henning Kiene
29,17-24

17Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. 18Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; 19und die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels. 20Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, 21welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.22Darum spricht der Herr, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. 23Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – ihre Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. 24Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.

 

Wir Geschwister saßen auf der Rückbank unseres Autos. Die Ferien gingen zu Ende. Hinter uns lagen freie Wochen und der Familienurlaub. Wir waren an der Ostsee. „Am Meer“, sagten wir. Mittags nach langem letztem Frühstück ging es los, „nach Hause“. Ich wusste schon jetzt, der Sand und die Muscheln in den Hosentaschen würden noch wochenlang wehmütige Erinnerungen wachhalten. Ich sah das nette Gesicht mit den Grübchen, das Mädchen gefiel mir und die Fußballstunden auf dem Bolzplatz waren klasse. Das lag nun hinter mir. Im Auto fuhren wir durch ein graues Niemandsland. In solchen Momenten sagte mein Vater: „Wird alles wieder gut werden, Ihr werdet schon sehen.“ Seine Stimme klang optimistisch. Dann nannte er die Namen der besten Freunde, auf die ich mich freuen könne. Sogar die Vorzüge der Schule wusste er zu benennen. Und ich stimmte mit ein und wir Geschwister begannen erste Pläne zu schmieden.

Mein Vater war kein Prophet. Aber in grauen Momenten, in diesem Niemandsland zwischen den Zeiten, wusste er die Zukunft anzusagen, das ist Lebenskunst. Es ist Lebenskunst, den Horizont mit Bildern, die optimistisch stimmen, auszumalen. Vater sprach nicht in den vielen Grautönen, die er zweifellos auch ahnte. Er schürte die Vorfreude auf das, was gelingen will. Wir Kinder profitierten von seinem Optimismus und vertrauten ihm. Unser Vater war Kriegskind, er wusste genau, wie schwer die Gegenwart drücken kann. Er lebte lange Jahre hungrig im grauen Niemandsland. Aber er hatte auch erlebt, dass das Bedrückende überwunden wird.

Der Prophet Jesaja spricht im Grau der Gegenwart und wählt hellbunte Farben. In der Zeit gefährlicher Bedrohung, auch durch Krieg, spricht der Prophet vom Heil und malt es in kräftigen Farben an den Horizont. Er sorgt dafür, dass die Gefahren – wenigstens für eine gewisse Zeit – in den Hintergrund treten. Ich höre heute: „Es wird ein Ende haben mit den Tyrannen.“ Und darauf freue ich mich. Ich denke an die Verächter unserer Demokratie und sehe, dass ihre grau-schwarzen Bilder einer müden Einheitswelt ohne Zukunft sein werden. Und mein Herz springt vor Freude, wenn ich in solcher Ödnis höre: „Die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.“ So macht der Prophet Mut für den Schritt in die Zukunft.

Dann sitze ich auf der Hinterbank im Rückreiseverkehr, muss den Feriensommer hinter mir lassen, grüble über all das, was kommen wird, zweifele leise in mich hinein. Und am Steuerrad sitzt einer der sagt: „Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden.“ Und die Stimmung wird gehoben.

Jesaja, der Prophet, spricht präzise und zeigt konkrete Bilder. Er spricht von den tauben Ohren, die hören, den blinden Augen, die sehen werden, von den Elenden, die sich freuen, von den Tyrannen, die vertilgt werden, vom Gericht und dem Ende der Scham. Das sind scharf gestochene Bilder, die zeigt er schon jetzt. Es geht aber nicht nur um die Gehörgänge und das Trommelfell und die Iris und die Pupille, es geht um einen Blick in die Zukunft. Die soll nicht denen gehören, die nur sehen wollen, was kaputt sein könnte, und nur noch hören möchten, was sowieso überall genörgelt wird. Es gibt so viele endlose Schleifen, die durch graues Niemandsland führen. Es geht um die Achtung vor den anderen Menschen, um eine Ahnung von dem herannahenden Heil, das heute offene Augen und weite Ohren braucht. Denn es braucht einen wachen Blick für die Worte des Propheten.  

Der Prophet sitzt auf dem Fahrersitz, hält das Lenkrad, er führt sicher durch das Niemandsland einer „alles wird immer schlechter“ Stimmung. Er spricht nicht vom Unheil, das droht, sondern er weitet den Blick in eine lichte Zukunft. Er sagt allerdings auch, dass Gott möglicherweise anders handeln könnte. Gott könnte den Blick auf die Zukunft versiegeln, er könnte die Menschen im Dunkeln sitzen lassen. Das wäre im wahrsten Sinn des Wortes der Weg, der in das Tal der Ahnungslosen führt. Gott könnte uns tatsächlich einen grauen Schleier vor die Augen ziehen und einen Packen Ohropax in die Ohren stecken. Aber Jesaja spricht von dem Heil, das in einer kurzen Weile kommen wird.

Die Federn des Autositzes bohrten sich in die Beine. „Nicht so lange anhalten. Bitte nur eine kurze Pause,“ baten wir auf dem Parkplatz, jetzt wollten wir nach Hause. Ich weiß noch, wie ich einmal – ich war schon etwas älter – mit kräftigem Klopfen den Sand und kleine Muschelreste aus der Hosentasche auf den Parkplatz beförderte. Ich freute mich auf die alten Freunde, den ersten Brief von dem Mädchen mit den lustigen Grübchen. Dass ich mich sogar auf die erste Deutschstunde freute, mochte ich mir selbst nicht so richtig eingestehen.

Propheten ziehen graue Vorhänge, die die Wehmut schließt, beiseite, sie suchen wegweisende Worte und malen Bilder in bunten Farben. Und das neue Schuljahr erschien mir im helleren Licht und gewann schon an Farbe. Meine Gedanken wanderten vom herrlich blauen Meer, dem Strand, den Ferienfußballfreunden und dem Mädchen mit den lustigen Grübchen in den Alltag zurück. Und da tauchte da plötzlich die Verheißung auf, die der Zauber des neuen Schuljahres versprach. Die lange Fahrt mit dem Auto führte durch das Niemandsland, das zwischen all dem Schönen der letzten Woche und den neuen Herausforderungen liegt. Abends kamen wir an, voller Wehmut und voll mit Erwartung.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastor Henning Kiene

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ende des Sommerferien. Alle kommen an diesem Wochenende zurück. Montag beginnt die Schule!

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Gedanke, dass Jesaja – Protojesaja (!) – eine Heilsansage im Sound der Heilsprophetie wagt, obwohl die Fakten gegen ihn stehen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Geschichtliche Fakten sind das eine. Die Heilsgeschichte setzt am anderen Ende an. Manches werde ich von hinten lesen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mir fehlt das Coaching. Schade.
[Hinweis der Redaktion: Im Moment muss die üblich Begleitung der Prediger:innen des Portals durch ausgebildete Predigtcoaches aus organisatorisch-personellen Gründen leider entfallen.]

Perikope
27.08.2023
29,17-24