Ruht in Frieden, Engel!
„Dann wird das Himmelreich gleich sein zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und gingen aus, dem Bräutigam entgegen. Aber fünf unter ihnen waren töricht, und fünf waren klug. Die törichten nahmen Öl in ihren Lampen; aber sie nahmen nicht Öl mit sich. Die klugen aber nahmen Öl in ihren Gefäßen samt ihren Lampen. Da nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam kommt; geht aus ihm entgegen! Da standen diese Jungfrauen alle auf und schmückten ihre Lampen. Die törichten aber sprachen zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, denn unsere Lampen verlöschen. Da antworteten die klugen und sprachen: Nicht also, auf daß nicht uns und euch gebreche; geht aber hin zu den Krämern und kauft für euch selbst. Und da sie hingingen, zu kaufen, kam der Bräutigam; und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit, und die Tür ward verschlossen. Zuletzt kamen auch die anderen Jungfrauen und sprachen: Herr, Herr, tu uns auf! Er antwortete aber und sprach: Wahrlich ich sage euch: Ich kenne euch nicht. Darum wachet; denn ihr wisset weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird.“
Liebe Gemeinde,
mit dem Bericht einer jungen Frau will ich anfangen: „Es war nur ein Freitagabend bei einem Rockkonzert. Es herrschte eine gute Atmosphäre, alle tanzten und lachten. Als die Männer durch den Haupteingang kamen und mit dem Schießen begannen, glaubten wir ganz naiv, das sei ein Teil der Show. Es war nicht der Angriff von Terroristen, es war ein Massaker.“ Das schrieb eine Studentin aus Südafrika. Am vorletzten Freitag sah das Konzert im Bataclan-Konzertsaal in Paris. Sie überlebte den Anschlag, weil sie sich liegend für mehr als eine Stunde totstellte.
Einen Tag später schrieb sie auf, was sie bewegte. Ihr Bericht endet so: „Als ich da im Blut fremder Leute lag und auf die Kugel wartete, die meinen 22 Jahren ein Ende setzen sollte, sah ich vor meinen Augen jedes Gesicht, das ich je geliebt habe und dem ich zugeflüstert habe: Ich liebe dich. Ich dachte über die Höhepunkte meines bisherigen Lebens nach. Ich wünschte mir, daß die, die ich liebe, das auch wissen, wünschte mir, daß sie, unabhängig davon, was mit mir geschehen würde, weiter an das Gute in den Menschen glauben. Daß sie diese Leute nicht gewinnen lassen. In der letzten Nacht hat sich das Leben vieler Menschen für immer verändert, und es liegt an uns, nun bessere Menschen zu werden. Um ein Leben zu leben, daß sich die unschuldigen Opfer dieser Tragödie erträumt haben, das diese aber traurigerweise nie werden verwirklichen können. Ruht in Frieden, Engel! Wir werden euch nie vergessen.“[1]
Liebe Gemeinde, über eine Woche nach den Anschlägen von Paris schiebt sich immer noch das Erschrecken vor all die andere Trauer, die viele von Ihnen heute bewegt. Mir ist bewußt, daß im Bericht dieser jungen Frau keine Anspielung auf die Geschichte von den zehn Jungfrauen zu finden ist. Das ist im Moment nicht entscheidend. Aber die Trauer über die 135 Opfer der Anschläge soll am Ewigkeitssonntag eine Stimme haben und gehört werden.
Viele von Ihnen sitzen in diesem Gottesdienst mit ihren eigenen traurigen Erinnerungen. Erinnerungen an geliebte Menschen, die Sie im vergangenen Jahr zu Grabe getragen haben. Sie haben vielleicht die Worte des Pfarrers noch im Ohr: Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden. Dann fällt raschelnd eine Schaufel Sand auf den Sarg.
Manche Menschen sterben von einem Moment zum anderen. Dann kommt die Trauer wie ein Überfall ohne Vorbereitungszeit. Andere, vor allem alte Menschen liegen über Monate im Sterben, und der Tod kommt als Erlösung. Die Angehörigen haben ihn erwartet. Wie dem auch sein mag: Der Tod eines Menschen löst ein Chaos von widersprüchlichen Gefühlen aus, die das Wort Trauer nur unzureichend umschreibt.
Der Tod eines lieben Menschen kann so vieles mit sich bringen: bitteren Schmerz über einen schweren Verlust, wiederkehrende angenehme Erinnerungen an Nähe, Zärtlichkeit und Gemeinsamkeit, an freundliche Tage, dann wieder bleierne Gedanken an zähen Streit mit Schreien und splitterndem Porzellan, Gedanken an vieles, was nicht aufgearbeitet wurde und was sich vor dem Sterben nicht mehr auflösen ließ, Gedanken an Überforderung und genauso an bewältigte Aufgaben, an Leistung, Stolz auf erreichte Ziele.
Die Toten sind begraben, seit ein paar Tagen oder Monaten. Die Toten leben weiter im Gedächtnis. Jeder Trauernde weiß: Ich kann noch etwas für sie tun. Ich gehe zum Friedhof und stelle mich vor das Grab und bete. Ich verbinde Worte der Hoffnung mit Erinnerungen. Zuhause blättere ich versonnen in alten Fotoalben oder Briefen. Ich sortiere Wäsche, Habseligkeiten und Erinnerungsstücke aus. Manche Trauernden kaufen eine Kerze, stellen sie zuhause auf, bringen sie später zum Grab und zünden sie an.
Die Kerze erinnert an einen lieben Menschen. Sie bringt ein wenig Licht in die Dunkelheit trüber Novemberstimmung, in die Düsternis des Friedhofs, in die Trauerschatten der eigenen Seele. Kerzen erinnern an die Öllampen der klugen und der törichten Jungfrauen. Vielleicht waren die Öllampen auch Fackeln, das spielt aber für unseren Zusammenhang keine Rolle.
Kerzen, Öllampen und Fackeln spenden Licht. Alle drei waren schon zu Zeiten gebräuchlich, als noch niemand von Glühlampen und LED-Leuchten wußte. Alle drei Leuchter haben eine begrenzte Leuchtkraft. Sie setzen einen winzigen Lichtraum gegen die verbreitete Dunkelheit, nicht mehr. Sie heben die Dunkelheit nicht auf. Die Flamme einer Kerze setzt einen Punkt gegen die Dunkelheit, und sie brennt gegen mehrere Dunkelheiten, gegen die Dunkelheit der Trauer, gegen die Dunkelheit des Todes, auch gegen die Dunkelheit von Terror und Gewalt.
Die zehn Jungfrauen bereiten sich übrigens nicht auf den Tod, sondern auf die Ankunft des Bräutigams vor. Ich glaube nicht, daß die Jungfrauen festlich gekleidet waren. Sie glichen nicht den Brautjungfern aus Hollywood-Hochzeiten glichen, alle im gleichen rosa Kleid, von der gleichen Schneiderin, die auch das Hochzeitskleid entworfen hat. Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß die Jungfrauen aus dem Gleichnis so ausgesehen haben.
Die klugen unter den Jungfrauen kaufen rechtzeitig und genügend Öl für ihre Lämpchen, die törichten auch, aber sie lassen es frühzeitig abbrennen. Als der Bräutigam erscheint, stehen sie als die Dummen da. Seid lieber wachsam! Laßt nicht nach in eurer Aufmerksamkeit. Das ist die Konsequenz am Ende des Gleichnisses.
Wachsamkeit und Aufmerksamkeit im Angesicht des Todes, den schließlich niemand verhindern kann? Wer trauert, ist nicht nur von einem einzigen Gefühl gefesselt. Wer trauert, sieht sich Böen von widerstreitenden und wiederkehrenden Gefühlen ausgesetzt. Sie stürmen über ihn hinweg. Für manches reicht die Aufmerksamkeit, es muß ohnehin geregelt werden: das Trauergespräch mit der Pfarrerin, der Bestattungsunternehmer, die Anzeige, ein paar Wochen später der Grabstein. Anderes bleibt unerledigt liegen: die alten Briefe noch einmal lesen, die Fotos sichten, die große Sammlung verkaufen, an der er so sehr gehangen hat. Trauern ist eine Achterbahnfahrt zwischen Vergessen, Verleugnen, Nicht-wahr-Haben-Wollen, Trost und Annehmen.
Trauergottesdienst und Bestattung stehen am Anfang dieser Phase. Er kann so etwas sein wie ein erstes schützendes Geländer. Gebete, Lieder, gute Worte, die alten, bekannten Psalmen. All das kann jedem, der trauert, den Angehörigen, den Freunden, den Nachbarn, über die Abgründe der Verzweiflung und des Schmerzes hinweghelfen. Erprobte Rituale schützen vor dem Chaos der Gefühle.
Manchmal trauern auch diejenigen sehr, die dem Verstorbenen eher ferne standen. Aufmerksamkeit und Wachsamkeit gelten plötzlich den öffentlichen Toten: den Schülern des Halterner Joseph-König-Gymnasiums, die beim Absturz von Germanwings Flug 9525 im März ums Leben kamen; den Karikaturisten und Autoren von Charlie Hebdo; den Opfern der Anschläge von Beirut und Paris. Ich bin überzeugt: Öffentliche Trauer ist genauso nötig wie persönliche Trauer, auch bei einzelnen Persönlichkeiten, in diesem Jahr bei Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Pierre Brice, Harry Rowohlt, Anita Ekberg.
Darum wachet, sagt Jesus am Ende der Geschichte von den Jungfrauen. Wachet! Seid aufmerksam! Laßt euch nicht ermüden! Wer wacht, richtet seine Aufmerksamkeit aus. Diese Haltung zielt in mehrere Richtungen. Sie zielt auf die Trauer über den Tod eines lieben Menschen. Diese Trauer soll sich niemand nehmen lassen. Sie zielt auch auf das eigene Sterben, dem niemand entgehen kann. Das Wachen zielt nicht zuletzt auf den Glauben.
Jesus meint eine Wachsamkeit im Angesicht der Ewigkeit. Und diese Wachsamkeit verbindet sich mit dem Warten. Trauer braucht Geduld und Abwarten, bis der Schmerz der Seele langsam abklingt. Wer über Jahrzehnte mit einem Menschen, der im letzten Jahr gestorben ist, zusammen gelebt hat, kann nicht von einem auf den anderen Tag umschalten auf Alleinsein oder die Verbindung mit einem neuen Partner. Trauer heißt auch Schmerz über die Trennung. Diesen Abschied vollzieht der Trauer in der Wohnung, im gemeinsamen Lebensraum und in der Seele.
Das christliche Warten richtet sich über die Trauer und das Bedenken des eigenen Todes weiter hinaus auf die Ewigkeit. „Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden“, schreibt der Psalmbeter (Ps 90,12). In der Klugheit des Glaubens warten die Menschen auf das Reich Gottes. Das ist die Hochzeit mit dem Bräutigam, von denen Jesus im Gleichnis mit den Jungfrauen spricht. Das Reich Gottes ist ein Fest, der Beginn einer großartigen Zeit, Hoch-Zeit zwischen dem Himmel Gottes und den Menschen der Erde.
Die Trauer um den Tod lieber Menschen, bekannter wie unbekannter, friedlich entschlafener wie bestialisch ermordeter Menschen, ist eingebettet in die Hoffnung auf das kommende Reich Gottes. Gottes Reich steht für die Hoffnung über den Tod hinaus. Ihr vertrauen wir uns an. Diese Hoffnung ist zerbrechlich, verletzbar, manchmal winzig, manchmal verborgen, und dennoch bleibt sie das einzige, was wir Christenmenschen der unbarmherzigen Gewalt des Todes entgegenzusetzen haben. Diese Hoffnung wächst aus dem Glauben an Jesus Christus, der durch den Tod zum Leben Gottes auferstanden.
Deswegen gilt den Verstorbenen das Hoffnungswort dieser jungen Studentin: Ruht in Frieden, Engel. Amen.
[1] Eigene Übersetzung. Wer sich das Original anschauen will, kann in Facebook auf die Seite von Isobel Bowdery gehen.