"Sanctus - Der volle Klang einer anderen Welt", Predigt zu Offenbarung 5, 1-5 von Martin M. Penzoldt
5,1
Sanctus - Der volle Klang einer anderen Welt
  
  Liebe Gemeinde!
  Jetzt endlich ist es Advent.
  Vorbei sind die dunklen Wochen der privaten Trauer und der öffentlichen Volkstrauer,
  der Besinnung auf die Vergänglichkeit, auf Abschied und Tod,
  des in sich geschlossenen Kreises von Werden und Vergehen.
  Vorbei! Eine Kerze ist entzündet. Ihr Licht leitet uns aus diesem Kreislauf hinaus.
  Im Licht dieser einen Kerze erscheint eine andere Welt.
  Eine Welt, die den ganzen Kosmos umfasst, das Sichtbare und das Unsichtbare,
  eine Welt zugleich der Nähe, der Vertrautheit, der Stille. Der andere Tag.
  Einen anderen Schein hat die Sonne, einen anderen der Mond.
  Der Glanz der alltäglichen Welt vergeht und ein neues Licht scheint auf.
  Und in der Stille hören wir einen anderen Grundton, “jenen vollen Klang der Welt,
  die unsichtbar sich um uns weitet, all Deiner Kinder Lobgesang.“(Bonhoeffer EG 65)
  Wir stimmen ein. Wir stimmen uns ein in eine Zeit des Wartens und Hörens.
  
  Advent heißt: Er kommt! Christus kommt. Das wahre Licht der Welt scheint jetzt.
  Mit dem Predigtwort auf den 1. Advent treten wir scheu und vorsichtig in einen weiten Raum
  und werden in einen himmlischen Gottesdienst versetzt, der voller Licht und Klang,
  Gebet und Rührung und dunklen Geheimnissen ist.
  
  Johannes, der Seher, öffnet die Tür und zeigt, was er gesehen hat: (Apok 5,1-5)
  „Und ich sah:
  In der Rechten dessen, der da sitzt auf dem Thron,
  der EINE,
  der UNNENNBARE:
  in der Rechten sah ich eine Buchrolle,
  innen und außen beschrieben,
  verschlossen mit sieben Siegeln.
  Ich sah
  einen gewaltigen Engel,
  und ich hörte die Stimme,
  die lauten und dröhnenden Worte des himmlischen Herolds:
  Wer ist würdig,
  fragte der Engel,
  die Schrift zu entrollen und die Siegel zu öffnen?
  Niemand!
  Niemand im Himmel, auf der Erde und im Totenreich drunten
  kann es öffnen, das Buch,
  und seine Zeichen erkennen.
  Keiner hat es gelesen.
  
  Als ich die Worte vernahm:
  Keiner ist würdig, die Rolle zu öffnen,
  keiner würdig, das Buch aufzuschlagen,
  da weinte ich laut,
  aber einer der Ältesten sagte zu mir;
  Hör auf zu weinen!
  Ein Sieger wird kommen,
  der Löwe aus dem Stamm Juda,
  ein MENSCH,
  der entsprossen ist dem Haus Davids.
  ER wird das Buch öffnen
  und die Siegel zerbrechen.“
  (Übersetzung Walter Jens, Das A und das O - Die Offenbarung des Johannes, Radius, 87)
  
  Atemlose Stille. Was wird uns jetzt eröffnet? Was passiert, um Himmels willen,
  in diesem Gottesdienst am Ende der Welt, an dem wir da teilhaben?
  Die Vorstellung, dass es ein Skript gibt für alles was passiert,
  so wie für jeden Film und jedes Theaterstück, ist für viele nahe liegend.
  Irgendwo ist alles beschlossen und vorbedacht, was sich ereignet hat
  und was sich ereignen wird. Wie sollte man sonst leben, wie glauben?
  Für andere ist die bloße Vorstellung von so einem Buch der Horror.
  Ja, das Buch ist eindrucksvoll, weil es mehr wiegt als das Gewicht der Welt,
  weil es uns Erlösung aus unseligen Prägungen verspricht,
  einen freien Blick auf die Erlösungsbedürftigkeit der Welt,
  aber nicht weil es die Schrecken der Welt in sich bewahrt.
  
  Erlösung für eine Welt mit ihrer ständigen zunehmenden Reglementierung,
  die einem die Luft zum Atmen raubt, in der die Regeldichte immer mehr zu nimmt
  und auch den Alltag durchdringt, Verantwortung verdampft,
  Initiative lähmt, Innovation hemmt, umgekehrt Begehrlichkeit fördert,
  Entscheidungsgewalt überträgt, mit Absicherung lockt, Umverteilung betreibt
  und die Kraft des Gedankens mit der Moralisierung aller Worte ersetzt.
  
  Erlösung für eine Welt, die in ihrer Undurchschaubarkeit unheimlich ist.
  Ständig kommen Dinge zutage, die man halb geahnt und doch verdrängt hat.
  Dinge, die man halb versteht und doch nicht in die Hand kriegt.
  Unser Zusammenleben, die Freundlichkeit untereinander ist erstaunlich,
  aber der abgründige Hass einiger, die das Zutrauen zerstören, macht uns irre.
  Wenn dann noch der Eindruck entsteht, Ordnungsmächte paktierten mit fataler
  Fehlerfreundlichkeit im Geheimen mit dem Hass der Hasser, dann wankt der Boden.
  
  Erlösung für die Welt, die in ihrer Ungerechtigkeit so schockierend ist.
  Wie die Schere zwischen arm und reich immer weiter aufgeht ist ein Skandal, auch bei uns.
  Aber jenseits unseres Blickfeldes geschieht es auf tödliche Weise.
  Das ist nicht zu rechtfertigen. 
  Wie aus Erklärungen für besonnenes Wirtschaften, Nachhaltigkeit und Sparsamkeit,
  doch immer wieder in Gier umschllägt, wie aus Vernunft Raserei wird,
  das schlägt uns alle in Bann.
  
  Erlösung für die Welt mit ihrer Kultur des Todes und der Masse von Opfern
  an Kindern, Frauen und Männern, an Alten und auch an Tieren,
  alles für Mobilität, Kosmetik, Komfort und Gewinn.
  
  Wenn also die Bücher aufgetan werden, ist das nicht ein Segen?
  Wenn einmal alles ohne Trickserei und Täuschung auf den Tisch kommt,
  ist das nicht Erleichterung?
  Wenn einmal all die Lügen verklungen sind, denen wir nur widerwillig lauschen konnten,
  ist das nicht Erlösung von der Qual?
  
  Mit diesen Fragen schauen wir auf das Gottesdienstgeschehen.
  Viel Verwirrendes passiert da auf einmal, je weiter man liest.
  In der Offenbarung des Johannes wird ein Symbol auf ein anderes gesetzt.
  Alle Linien der Überlieferung sollen zusammengeführt und überboten werden
  und der Hörer fühlt sich alsbald selbst wie vor einem Buch mit sieben Siegeln.
  Aber ist es nicht so, wie bei Dostojewskij, dass es um die eine Leitfrage geht,
  wie sich alle Welt rechtfertigen kann vor der Träne eines einzigen Kindes?
  Und dass wir alle mit unserem Tun und Unterlassen auf die Knie fallen müssen,
  wenn das Unrecht einmal ein Ende haben soll und das Kind getröstet wird?
  
  Und nun ist es selbst ein Kind, das diesen Trost bringt.
  Ein Spross aus dem Haus Davids. Ein Sohn.
  Ein Mensch, der die Tränen nicht scheut, noch den Schmerz der Welt.
  Ja, der selbst ganz unschuldig doch allen Schmerz der Welt in sich aufnimmt,
  „der auferstanden ist
  unter den Toten,
  ER: ganz allein,
  und über die Herren der Erde gebietet.
  Ihm, der uns liebt
  Und uns erlöst hat,
  mit seinem Blut,
  von unseren Sünden,
  ihm, dem Gesalbten,
  der uns,
  die Bürger seines Reiches
  zu Priestern gemacht hat
  vor Gott, seinem Vater,
  Ihm sei Ehre und Herrlichkeit
  für alle Zeiten:
  so soll es sein.“ (Apok 1 nach Walter Jens)
  
  Auf ihn wollen wir heute unsere Blicke richten, schauen, schauen, schauen und hören:
   „Darum mit allen Engeln und Erzengeln
  mit den Mächten und Gewalten
  und dem ganzen himmlischen Heere
  singen wir Deiner Herrlichkeit einen Lobgesang
  und bekennen ohne Ende
  Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth
  alle Lande sind Seiner Ehre voll.“ (Sanctus)
  
  In all dieser Schönheit des Klangs und der Bilder geht es um ganz einfaches:
  Zu wissen, vor wem wir allein, und vor niemand sonst, das Haupt neigen.
  Im Schein der ersten entzündeten Kerze sein Himmelreich sehen:
  Dass es inmitten aller genialen Menschen seine Apostel waren,
  die die heilsamen Worte sprachen!
  Dass es inmitten furchtsamer Menschen auch Christen sind,
  die für die Rechte anderer einstehen!
  Dass es im Osten gerade die Kirchen sind, die sich dem Druck von rechts
  entgegenstemmen.
  Dass es inmitten glänzender Handlungen kleine Taten der Liebe sind,
  die bestehen werden!
  Mit einem Wort: dass die Weltgeschichte eben nicht Weltgericht ist,
  sondern die Geschichte der Menschen sich unter seinen Blicken abspielt,
  sich vor ihm verantworten muss,
  ihm, der das Kleine und Unscheinbare nicht verachtete,
  aber am Großen und Bombastischen vorbeiging,
  der Nähe unter Menschen stiftete und ihren Hass tilgte,
  der die Verlassenen besuchte und dauerhafte Gemeinschaft begründete,
  der den Gott der Liebe und der Nähe,
  den Gott der Vergebung und Stärkung verkündete und lebte.
  Dass er, dieser Christus, nicht unter den Toten blieb,
  sondern Herr der Welt ist und das Buch ihrer Geschichte in Händen hält.
  
  Es ist das Bild dieser Hoffnung, das uns in den Advent geleiten soll,
  ein Bild, das trotz der himmlischen Ferne, in der es spielt,
  eine gute Hoffnung für unsere Nähe nährt und
  die Zeit, die wir jetzt füreinander haben sollen,
  unter ein gutes Zeichen stellt und alle Stille und Besinnung im Advent
  unter das frohe Wort stellt:
  dies ist der Christus, auf den wir warten und hoffen. -
  
  Eine Kerze ist entzündet und im Licht dieser einen Kerze erscheint eine andere Welt.
  Eine Welt, die den ganzen Kosmos umfasst, das Sichtbare und das Unsichtbare.
  Eine Welt zugleich der Nähe, der Vertrautheit, der Stille. Ein anderer Tag.
  Einen anderen Schein hat die Sonne, einen anderen der Mond.
  Der Glanz der alltäglichen Welt vergeht und ein anderes Licht scheint auf.
  Dazu hören wir einen anderen Klang, “jenen vollen Klang der Welt,
  die unsichtbar sich um uns weitet, all Deiner Kinder Lobgesang.“(Bonhoeffer EG 65,6)  Amen
  Und der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft,
  bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen
  
  EG 65,1-6 Von guten Mächten treu und still umgeben
Perikope