"Schneeflocken für den Glauben", Predigt über Epheser 1, 3-14 von Wolfgang Vögele
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Liebe Gemeinde, auch bei Bibeltexten kommt es darauf an, bei welchem Wetter man sie hört. Vor drei Tagen hat der Sonnenmonat Juni angefangen. Es ist Hochsommer geworden, schwül, harte Schatten auf dem weichen Teer der Straßen. Nachts kühlt es kaum ab.
Dennoch bitte ich Sie, sich für die Dauer der Predigt Schneeflocken vorzustellen: einen Winterabend an einem Januarsonntag, beginnender Schneefall bei einbrechender Dunkelheit. Ein wenig Mondlicht und trübe Straßenlaternen. Die Schneedecke auf Gehwegen, Straßen und Rasen wächst langsam in die Höhe. Je höher sie wächst, desto stiller wird es, weil der Schnee die Geräusche dämpft. Die dicken, großen Flocken fallen dicht und zugleich langsam, schwebend, unaufgeregt. Es ist so eisig kalt, daß die Schneeflocken auf dem Mantel des Spaziergängers nicht schmelzen. Er wischt sie mit den Händen in dicken Handschuhen vom Stoff herunter. Langsam fallender Schnee hat etwas Selbstverständliches, Elegantes, Unaufhaltsames, etwas unsagbar Schönes. Und das läßt jeden Kälte, Matsch und Winterkleidung vergessen.
Liebe Gemeinde, ich erzähle Ihnen vom Schneefall in der Winterdunkelheit, weil ich überzeugt bin, daß der Predigttext dieses Sonntags wie leichter Schneefall ist: schön, elegant, zart und selbstverständlich. Große Worte des Glaubens kommen wie schwebende Schneeflocken daher.
Andere Ausleger haben von einer Lawine der Dogmatik, von einem Gewitter frommer Rechthaberei gesprochen. Aber sie sind im Unrecht. Man darf sich die folgende Passage nicht linear wie eine aufeinandergereihte Schnur von Argumenten des Glaubens vorstellen. Eher wie Schneefall: Viele Flocken fallen gleichzeitig. Hören Sie selbst, Flocken des Glaubens aus dem Epheserbrief 1,3-14:
„Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus. Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten; in seiner Liebe hat er uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns begnadet hat in dem Geliebten. In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden, nach dem Reichtum seiner Gnade, die er uns reichlich hat widerfahren lassen in aller Weisheit und Klugheit. Denn Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens nach seinem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte, um ihn auszuführen, wenn die Zeit erfüllt wäre, dass alles zusammengefasst würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist. In ihm sind wir auch zu Erben eingesetzt worden, die wir dazu vorherbestimmt sind nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt nach dem Ratschluss seines Willens; damit wir etwas seien zum Lob seiner Herrlichkeit, die wir zuvor auf Christus gehofft haben.In ihm seid auch ihr, die ihr das Wort der Wahrheit gehört habt, nämlich das Evangelium von eurer Seligkeit – in ihm seid auch ihr, als ihr gläubig wurdet, versiegelt worden mit dem Heiligen Geist, der verheißen ist, welcher ist das Unterpfand unsres Erbes, zu unsrer Erlösung, dass wir sein Eigentum würden zum Lob seiner Herrlichkeit.“
Liebe Gemeinde, das Bild der Schneeflocken schützt uns vor dem Mißverständnis, man müsse diese Briefpassage gleich beim ersten Hören in ihrem vollen Gehalt verstehen und geistlich begreifen. Das Bild der Schneeflocken hilft, diesen Brief als das anzunehmen, was er ist: ein geistliches Schneegestöber, aus dem ich einige Flocken auswählen werde, um ihre kristalline Schönheit und Glaubenswahrheit zu betrachten.
  Die erste dieser Schneeflocken des Glaubens heißt: Geheimnis. Ich meine jetzt nicht die schnöden Geheimnisse des Alltags, die durch Tratsch aufgeklärt oder entlarvt werden. Ich denke an Situationen, in denen jedem nachdenklichen Menschen bewußt wird, daß sich hinter dem Leben selbst ein Geheimnis verbirgt. Diese manchmal erschütternde Erkenntnis trifft den Sinn suchenden Menschen häufig dann, wenn das Selbstverständliche, das Routinierte, der Alltag fraglich geworden ist.
Wer einen Trauergottesdienst besucht, um eines verstorbenen Freundes zu gedenken, der wird auf der Rückfahrt mit der Straßenbahn grübelnd nach dem Sinn des Todes fragen. Wer einen runden Geburtstag feiert, wer nach einer riskanten Operation einige Tage auf der Intensivstation verbringen muß, wer regelmäßig spazieren geht und den Lauf der Jahreszeiten an den Bäumen im Park verfolgt, wer regelmäßig Tagebuch schreibt oder wer im Fernsehen die schrecklichen Bilder eines Verkehrsunfalls oder einer Erdbebenkatastrophe sieht, der erkennt plötzlich und erschrocken, daß menschliches Leben nicht selbstverständlich und dauerhaft, sondern zerbrechlich, zerstörbar und gefährdet ist. Aber wer länger darüber nachdenkt, der erkennt auch: Hinter der Zerbrechlichkeit des Lebens kann das Geheimnis des Lebens sichtbar werden. Den Kranken und die Tagebuchschreiberin, den Trauernden und die verzweifelte Frau bewegen die Frage nach dem Warum, nach dem Sinn des Lebens. Diese Frage nach dem Sinn läßt sich so unmittelbar und direkt nicht beantworten. Sie scheint von einem Geheimnis umgeben, das sich weder nachdenkend noch grübelnd einfach auflösen läßt. Wer Sinn besitzen will, muß ihn suchen.
Man kann das Frage- und Antwortspiel so auflösen, daß man sagt: Der Epheserbrief beantwortet in Eindeutigkeit und Klarheit, was die Sinn suchenden Menschen als verzweifelte Frage stellen. Aber ich bin überzeugt, das wäre zu einfach. Richtig ist, daß der namenlose Schüler des Paulus, der den Epheserbrief geschrieben hat, in seinem Glaubensenthusiasmus für eine gewichtige Überzeugung Worte findet: In Jesus Christus hat Gott sein größtes Geheimnis, das Geheimnis seines Willens offenbart.
Aber dabei kommt es darauf an, wie man das versteht, als vertrauende Erkenntnis des Glaubens oder als Rechthaberei. Der Unterschied zwischen Glauben und Rechthaberei ist ungefähr so groß wie der Unterschied zwischen sanftem Schneefall und grobem Hagelschlag.
Aus den überbordenden Zeilen des Epheserbriefs spricht das, was die ersten Christen für den inneren Kern ihres enthusiastischen Glaubens hielten. In Jesus Christus, in seinen Predigten und seiner Lebensgeschichte, in seiner Kreuzigung und Auferstehung, hat sich unser gesamter Blick auf die Welt verändert. Sein Sterben und seine Auferstehung kehren alle unsere Fragestellungen um.
Vorher waren wir Suchende, danach sind wir Menschen, die bereits gefunden haben. Wer sucht, dem fehlt etwas. Wer gefunden hat, will seine Fundsache weiter verbreiten. Wer sucht, bestimmt sich selbst über etwas, das fehlt. Wer gefunden hat, bestimmt sich selbst über das, was ihm ohne eigenes Zutun zugefallen ist. Der Heiland, Jesus Christus setzt die Menschen auf eine neue Spur, auf den Weg des Vertrauens und Glaubens. Dieser Fund setzt in den glaubenden Menschen Veränderungen frei: zuallererst die Freiheit von anderen, ablenkenden Göttern, den Götzen, dann die Freiheit von dem Selbstbezug, den wir Sünde nennen, dann Vertrauen, Gelassenheit, Sanftmut, Frieden, Gerechtigkeit. Die Gestalt Jesu Christi befreit von der Spannung und Ungewißheit des Suchens. An die Stelle des Suchens tritt das Wachsen im Glauben.
An Jesus Christus lernen wir das eine und allerwichtigste: Keine Krankheit, keine Folter, kein Sterben kann so schrecklich sein, daß sie in die völlige Gottverlassenheit führt. Jesus hat gelitten bis in die größte Ungerechtigkeit hinein, den unschuldigen Tod durch eine grausame Hinrichtung. Gott hat sich nicht damit abgefunden. Wir leben davon, daß Gott sich in der Auferweckung dem gekreuzigten, toten Christus zugewandt hat. So viel Elend und Leid auch geschehen mag, Gott bleibt bei den leidenden Menschen, bei dem toten Christus und bei allen anderen, die nach ihm sterben.
Der Epheserbrief sagt mit aller gebotenen Überzeugungskraft: Das ist Gottes Wille, von Anfang an. Weil wir etwas über Jesus Christus lernen, erfahren wir auch etwas über Gott. Der Gott, der die Welt geschaffen hat, und der Gott, der Jesus Christus von den Toten auferweckt, sind identisch. Gott ist nicht wankelmütig. Es ist nicht so, daß er die Menschen bestraft, wenn er unter schlechter Laune leidet. Das ist eine viel zu menschliche Vorstellung. Sicher, zu Zeiten ist er zornig, und er läßt das die Menschen, gerade die Menschen, die er liebt, spüren.
Aber aus der Geschichte Jesu von Nazareth lernen wir: Gleich am Anfang, vor der Schöpfung, hat Gott eine Grundentscheidung getroffen. Und diese Grundentscheidung lautet: Ich will die Menschen erlösen, sie retten, ihnen – in der Sprache des Glaubens formuliert – das ewige Leben geben, sie in sein Reich führen. Das ist das Geheimnis Gottes. Dieses Geheimnis Gottes hängt zusammen mit dem Geheimnis des Lebens, nach dem viele Menschen so verzweifelt suchen.
Nun haben Geheimnisse die Besonderheit, daß ihre dunklen Seiten oft nicht vollständig ausgeleuchtet werden können. Wieso, kann man fragen, ist Gott mit den Menschen seit der Schöpfung diesen so krummen und steinigen Weg gegangen? Wieso mußte Jesus am Kreuz für die anderen Menschen leiden? Hätte Gott sich nicht auch auf andere Weise mitteilen können? Es geht nicht um banale Geheimnisse. Wenn ein banales Geheimnis aufgeklärt wird, dann ist es kein Geheimnis mehr. Wenn das Geheimnis Gottes ausgeleuchtet wird, dann werden nicht alle Fragen, die sich stellen, gelöst. Gott bleibt unsichtbar, auch wenn wir durch die Lebens- und Sterbensgeschichte Jesu Christi über ihn aufgeklärt werden.
Suchen ist – wie gesagt - ein Lebensweg, der durch das Bewußtsein von etwas Fehlendem gekennzeichnet ist. Glauben, Gott glauben, ist ein Lebensweg, der durch das Bewußtsein von Gottes segnender Gegenwart bestimmt ist. Der Epheserbrief nennt die Gegenwart Gottes den Heiligen Geist.
Heutzutage wird dieser Geist auch von evangelischen Theologen manchmal als etwas gänzlich Unbestimmtes und Ungreifbares beschrieben, so als ob wir nicht erkennen könnten, wo er gegenwärtig wirkt. Der kluge Theologe des Epheserbriefes sieht das ganz anders. Heiliger Geist ist dort, wo wir den Willen Gottes, des Schöpfers der Welt erkennen. Heiliger Geist ist dort, wo wir die Geschichte Jesu Christi als die Offenlegung dessen erkennen, was Gott mit den Menschen vorhat. Heiliger Geist ist dort, wo wir Menschen aus Zweifel und Verzweiflung zurückfinden auf den Weg des Glaubens und Vertrauens auf Gott.
Der Heilige Geist leitet uns zurück in die Anfänge der Schöpfung: Schon damals wußte Gott, daß einmal Barmherzigkeit und Gnade über seinen Zorn triumphieren wird. Der Heilige Geist leitet uns in die Gegenwart: Er läßt uns Liebe und Gnade spüren. Und er leitet uns in die Zukunft: Er gibt uns die Hoffnung auf Gottes kommendes Reich zurück.
  Gott bestimmt die Zeit, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft.
Glauben bedeutet: Der Lebensweg von Menschen ist verwoben in das Wirken Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Das ist, was wir am Sonntag Trinitatis feiern, am Ende der Festzeit des Kirchenjahres, von Weihnachten über Ostern zu Pfingsten. Gott ist Beziehung, ein Netz von Beziehungen zwischen Vater, Sohn, Geist und den glaubenden Menschen, die sich in der Gemeinde versammeln.
Manchmal wird uns das bewußt und klar, und dann erhebt sich der Glaube in Freude und Jubel zu einer Gewißheit, die allen Zweifel über die Gegenwart Gottes zur Auflösung bringt. Liebe Gemeinde, es gibt andere Zeiten, da fehlt uns dieses Vertrauen: Gott und Geist scheinen sich unsichtbar zu machen. Verzweiflung hindert die Menschen daran, diese Gegenwart von Gott und Geist auch wahrzunehmen. Leben bedeutet, seinen Weg mit und in diesem Geheimnis Gottes zu gehen.
Wir brauchen dann die Erinnerung, die uns aus der Bibel, aus biblischen Texten entgegenkommt. Die Erinnerung an den Gott Jesu Christi, der im Heiligen Geist wirkt. Diese Erinnerung legt sich auf unser Bewußtsein wie schwebende Schneeflocken. Diese nachhaltige Berührung stiftet den Glauben, der unser Leben trägt. Amen.
Perikope
03.06.2013
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