Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
wir kennen das: Plötzlich schaudert uns. Es läuft uns kalt der Rücken hinunter. Wir entdecken bei jemandem ein Tattoo. Oder vielleicht ein Piercing an einer uns unangenehmen Stelle. Wir treffen einen jungen Menschen und wir finden: „Der ist ein bisschen zu gut gekleidet. Ein Schnösel”. Uns nimmt jemand im Auto mit. Wir steigen auf die Rückbank und auf dem Fond, da steht sie, jene umhäkelte Rolle. „Was für ein schlichtes Gemüt, wie peinlich, weiß der nicht, dass…?”
Wir begegnen Menschen. Wir kommen ihnen einen Schritt näher - und plötzlich fällt in unserem Kopf, in unserem Empfinden eine Schranke. Es schaudert uns. Es läuft uns kalt den Rücken herunter. Der andere wird uns plötzlich fremd oder sogar ein wenig unheimlich. Wir denken: „So bin ich nicht.” „Mit dem oder der habe ich nichts gemein.” Zwischen uns steht eine Schranke.
Von solchen Schranken spricht der Apostel Paulus in unserem heutigen Predigttext. Er steht im 14. Kapitel des Römerbriefes in den Versen 10 bis 13.
10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
11 Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.«
12 So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.
13 Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Herr segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Gemeinde,
es sind nicht nur die Schlagbäume, die längst – nach einem kurzen Sommer – wieder gefallen sind, die Menschen voneinander trennen. Es sind genauso unsere inneren Schranken. Wenn sie sich senken, so hindern sie uns, aufeinander zu zugehen, uns zu begegnen, uns kennenzulernen, uns schätzen zu lernen. Wir wissen das. Doch wir senken sie immer wieder. So stehen sie zwischen Völkern und Nationen, zwischen Religionen, zwischen gesellschaftlichen Gruppen und ihren Lebensstilen, zwischen Menschen, denen wir in unserem Alltag begegnen, zwischen Menschen, die zu unserer Kirche gehören. Es ist wie ein natürlicher Reflex. Als könnten jene Schranken deutlich machen, wer wir sind und was uns einzigartig macht. Als könnten wir durch die Abgrenzung von anderen unsere Identität gewinnen. Aber zu welchem Preis?
Wir sagen ja nicht nur: „So wie der andere bin ich nicht.” Wir fügen halblaut dann dazu: „sondern besser”. Wir denken: „Mit dem oder der habe ich nichts gemein.” Und setzen hinzu: „Denn ich bin Besseres gewohnt.” Wir ziehen nicht nur eine Grenzlinie, wir sprechen dazu ein Urteil. “Nicht vornehm genug, zu schlicht, überkandidelt, armer Schlucker, ein Angeber.”
Es gibt so viele Möglichkeiten, seine Identität auf Kosten eines anderen Menschen, eines anderen Volkes, einer anderen Religion, einer anderen Gruppe zu definieren, aber allen diesen Versuchen ist eines gemeinsam: Paulus hält sie für keine tragfähigen Identitäten. Er glaubt nicht, dass sie belastbar sind. Er ist überzeugt, dass sie in Konflikten nicht dem Frieden dienen. Er weiß, dass diese inneren Blockaden Verständnis und Gemeinschaft untereinander beschränken, statt sie wachsen zu lassen – zumindest in der christlichen Gemeinde.
Deshalb: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.”
Paulus zeigt: Es ist eine Illusion, sich durch innere Schlagbäume eine Identität zu konstruieren. Denn letztlich zählen diese Schranken nichts, wenn wir vor den Schranken des Gerichtes Gottes stehen. Dort sind wir alle gleich. Dort sind alle unsere Abgrenzungen und Urteile egal. Alle werden ihre Knie beugen, alle werden auf das gleiche Niveau gebracht.Aaber nicht, um gedemütigt, verurteilt und niedergedrückt zu werden, sondern um ihre Stimmen zu erheben, um Gott zu bekennen, wie es Paulus mit einem Zitat aus dem Jesajabuch sagt: »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.« Und ich füge den nun folgenden Satz bei Jesaja noch an: „Im Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke.”
„Im Herrn habe ich Gerechtigkeit”. Nicht durch selbstgerechte Urteile, nicht durch Stolz auf meinen Glauben, nicht durch mein Handeln habe ich eine besondere Qualität. Durch Gottes Liebe bin ich gerecht geworden. Gott macht mich durch seine Gerechtigkeit zu einem liebenswerten Menschen. Ich muss weder mir noch einem anderen etwas beweisen. Deshalb bin ich frei, den anderen anzuerkennen, seine Besonderheit wahrzunehmen, ihn ernst zu nehmen, ihm die Hand zu reichen, ihn liebenswürdig zu finden. Denn ich weiß: Mein Selbstbild, meine Identität ist nicht bedroht. Sie ist mir vom lebendigen Gott geschenkt.
„Im Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke.” Nicht durch Abgrenzungen und Schranken und Schlagbäume werde ich stark, gewinne ich meine Identität, sondern im Herrn habe ich Stärke. Durch meinen Glauben, durch mein Vertrauen, gewinne ich eine innere Stärke, die mir hilft, mein Leben zu bestehen. In Glück und Segen, in meinen Niederlagen und Misserfolgen. Meine Taufe erinnert mich daran, mich bestärkt die Feier des Abendmahls immer neu, wenn wir Brot und Wein miteinander teilen.
Paulus hat an der Feier des Abendmahls erkannt, wie destruktiv es sein kann, wenn sich Menschen gegeneinander abgrenzen. So schön es war, dass es schon in den ersten Gemeinden selbstbewusste Christen gab, die ohne Angst ihren neuen Glauben lebten und all die Götter und Dämonen ihres alten Glaubens hinter sich gelassen hatten. Ihre Selbstgewissheit hatte eine hässliche Hürde für die aufgerichtet, die das nicht konnten. Die sich fragten: Darf man wirklich Speisen essen, die gestern noch als unrein galten? Darf man wirklich heute unbefangen von dem Fleisch essen, das gestern zur Ehre der heidnischen Gottheiten geopfert wurde. Oder ist es mit den alten Dämonen verseucht? Ist es nicht besser, darauf zu verzichten?
Paulus selbst glaubt das nicht. Aber er widersteht der Versuchung, diejenigen, die sich fürchten, zu verachten. Er sagt nicht: „Was für schlichte Gemüter!” Nicht: „Wie altbacken glauben denn die?” Nicht: „Wie peinlich sind die für unsere Gemeinde!” Denn er spürt, wie die Gemeinschaft leidet, wie die unterschiedliche Glaubenspraxis die Gemeinde spaltet, wie die unterschiedliche Lebenspraxis Zugänge zur Gemeinde versperrt.
Paulus sucht deshalb den Weg des Respektes. Denn wenn vor Gottes Gericht alle Gottes Gerechtigkeit erfahren, so können sie alle einander gerecht werden. Niemand muss sich abgrenzen, keiner muss den anderen verurteilen.
Paulus geht den Weg des Verstehens. Verstehen ist vielleicht die machtloseste Form der Kommunikation. Sie verzichtet auf die Kraft der Überzeugung und die Macht der Argumente, aber sie ist es, die Menschen Anerkennung spüren lässt, die auch eine tiefe Kluft schließen kann, die Gemeinschaft stiftet. Wer sich auf den Weg des Verstehens macht, der wird aber auch sensibel für die Gewissensnöte des anderen, und kann seinen Sinn darauf richten, dass kein Anstoß, keine Hürde, keine Schranke den Weg zueinander versperrt.
Zum Verstehen gehört für Paulus aber auch, die Freiheit des anderen zu achten. Paulus beschreitet deshalb den Weg der Rücksichtnahme. Nicht die eigenen Maßstäbe und Gewohnheiten, sondern die Rücksicht auf das Gewissen und die Überzeugungen des anderen sind es, die die Schranken und Türen offen halten.
Vielleicht müssen wir das als Kirche und Gemeinde heute genauso lernen wie damals die ersten Christen der paulinischen Gemeinden. Sensibel zu werden für die vielfältigen Haltungen und die Bedürfnisse in unserer Gemeinde. Auch für die der Gemeindeglieder, die nicht regelmäßig an unserem Gottesdienst teilnehmen möchten. Denen anderes an Kirche und Glauben wichtig ist. Die ihren Glauben anders als wir zu leben wünschen.
Ob wir in Respekt, Verständnis, Rücksicht miteinander leben können, in den Unterschieden, die es heute bei uns gibt? Paulus hat mit seinem Modell für ein friedliches und respektvolles Miteinander wohl nicht über die Grenzen seiner Gemeinde hinaus gedacht. Heute wünsche ich mir, wir könnten es so überzeugend leben, dass es über die Grenzen von Kirche und Gemeinde hinaus anziehend wirkt. Ich glaube, wir bräuchten das. Amen.