01.07.2018 zum 5. Sonntag nach Trinitatis,
Segen statt Hatespeech - Predigt zu Gen 12,1-4a von Norbert Stahl
Hatespeech vergiftet das Klima
Hatespeech – dieses Wort musste ich in den letzten Monaten neu lernen. Es kommt aus dem Englischen und heißt wörtlich übersetzt: Hassrede. Sinngemäß meint es eine hasserfüllte, andere entwertende Redeweise. Also eine Redeweise, die die Würde der Betroffenen nicht ernst nimmt. Eine Redeweise, der diese Würde egal ist.
Immer wieder kam es in den vergangenen Monaten in Deutschland zu schlimmen Ausbrüchen von Hassrede. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin wurde thematisiert, Minderheiten wurden beschimpft und schließlich die unsäglichen 12 Jahre Naziherrschaft in Deutschland kleingeredet. Ich wiederhole die wörtlichen Formulierungen hier jetzt nicht. Ich möchte nicht dazu beitragen, dass sie sich noch weiter in unsere Köpfe eingraben. Für solcherlei Ausbrüche und Provokationen musste ich das neue Wort lernen: Hatespeech.
Hatespeech ist unsachlich, vereinfachend, aggressiv, herablassend, unbarmherzig, mitleidslos. Das Phänomen scheint sich auszubreiten. Das Internet mit seinen Foren und Blogs bietet die Möglichkeiten dazu.
Das schlimme ist: Solche Redeweise hinterlässt ihre Spuren. Noch wird Hatespeech bei uns gebrandmarkt. In der Regel lösen die gemachten Aussagen eine empörte Diskussion aus. Dann wird zurückgerudert. Man habe das soo nicht gemeint, es täte einem leid, man sei missverstanden worden usw. Aber die ursprünglich ehrverletzende, Grenzen verschiebende Äußerung ist im Raum und wirkt unmerklich weiter.
Ein Mann hatte über seinen Nachbarn schlecht geredet. Dieser hatte von den Gerüchten gehört und stellte ihn zur Rede. „Ich werde es bestimmt nicht wieder tun,“ versprach der Mann. „Ich nehme alles zurück, was ich über dich erzählt habe.“ Der Nachbar schaute sein Gegenüber ernst an. „Ich verzeihe dir,“ erwiderte er. „ Jedoch verlangt deine Tat eine Wiedergutmachung.“"Ich bin gerne zu allem bereit,“ sagte der Mann zerknirscht. Da erhob sich der Nachbar, ging in sein Schlafzimmer und kam mit einem großen Kopfkissen zurück. "Trag dieses Kissen bis zu dem Haus, das hundert Schritte von meinem entfernt steht“, sagte er. "Dann schneide ein Loch in das Kissen und komme wieder zurück, indem du unterwegs immer Federn nach rechts und nach links wirfst. Das ist der erste Teil der Wiedergutmachung“. Der Mann tat, wie ihm geheißen. Als er wieder vor dem Nachbarn stand und ihm die leere Kissenhülle überreichte, fragte er: "Und was ist der zweite Teil der Wiedergutmachung“? "Gehe jetzt den Weg zum Haus zurück und sammle alle Federn wieder ein“. Der Mann stammelte verwirrt: “Ich kann doch unmöglich all die Federn wieder einsammeln! Ich habe sie wahllos verstreut, mal eine hierhin, mal eine dorthin. Inzwischen hat der Wind sie in alle Himmelsrichtungen getragen. Wie könnte ich sie jemals alle wieder einfangen“? Der Nachbar nickte ernst und sagte: "Du hast es erfasst!“
Liebe Gemeinde, so verhält es sich mit dem Gift Hatespeech: Einmal ausgestreut, fliegt sie durch alle Winde bis wer weiß wohin. Niemand kann sie wieder einfangen.
Gott redet anders!
Im Predigttext von heute Morgen wird ganz anders geredet! Gott segnet Abraham. Das ist genau das Gegenteil von Hatespeech. Segnen bedeutet jemandem wohlgesonnen sein. Ihm das allerbeste zu wünschen: Gedeihen und Gelingen, Glück und Erfolg, Wohlstand und Zufriedenheit. Im Falle Gottes, also wenn (wie im Falle Abrahams) Gott selbst den Segen ausspricht, dann bedeutet segnen nicht nur wünschen, sondern feste Zusage. Dann wird der Wunsch ohne Zweifel Wirklichkeit. Bei Abraham ist es so: Er bekommt – so, wie Gott es versprochen hatte – ein Land und viele Nachkommen. Was angesichts des überlieferten Alters Abrahams und seiner Frau Sarah wirklich ungewöhnlich ist. Und dass die zahlreiche Nachkommenschaft dann auch noch zu einem Volk wird, ist das zweite Wunder.
Vom Anfang der Schöpfung an segnet Gott. Ganz am Anfang der Bibel heißt es gleich nach der Erschaffung der ersten Tiere und noch einmal gleich nach der Erschaffung der ersten Menschen: Und Gott segnete sie. Schon hier bedeutet Segen: Wachstum und Gedeihen, Fruchtbarkeit und Leben, gelingendes Leben. Zusammenfassend wird festgestellt: Siehe, es war sehr gut! Der Satz könnte auch lauten: Siehe, es war gesegnet!
Seit Jahrtausenden empfinden Juden den abrahamitischen Segen Gottes intensiv. Schon allein die Tatsache, dass das Judentum trotz schlimmster Verfolgung nicht untergegangen ist, wird von vielen als Zeichen des Gesegnetseins empfunden. Dafür sind Juden immer dankbar. In der Folge nehmen sie auch den zweiten Teil des abrahamitischen Segens sehr ernst: „… du sollst ein Segen sein.“
Du sollst ein Segen sein!
„Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein!“ – das ist bis zum heutigen Tage für Juden immer auch Verpflichtung, sich segensreich einzusetzen für andere. Für die Mitmenschen, für die Gesellschaft, in der sie leben. Ein bedeutender Rabbiner (Samson Raphael Hirsch) schreibt im Jahr 1903 zum Segen an Abraham: „Alle anderen streben danach … Segen zu gewinnen, gesegnet zu werden, und das vor allen Völkern. … In der Mitte der Menschheit, die Selbstvergrößerung und den rücksichtslosen Ausbau der eigenen Wohlfahrt als maßgebendes Ziel anstrebt, soll Abrahams Volk im Einzelnen und im Gesamtleben nur dem einen Rufe folgen: Sei Segen!“ Für Hirsch bedeutet dies, „sich mit aller Hingebung den Gotteszwecken des Welten- und Menschenheils zu weihen“ und auf diese Weise den „Adam in seiner ursprünglichen Bestimmung zur Anschauung zu bringen.“ Das ist für unsere Ohren altmodisch und kompliziert ausgedrückt. Der Gedanke dahinter aber ist toll! Hirsch sagt: Es ist die edelste Aufgabe der Juden, dass sie als Gesegnete den empfangenen Segen weitergeben. Der Spitzensatz ist für mich, dass Juden, indem sie so handeln, zum eigentlichen Menschsein finden. Im Dasein für andere verwirklicht sich also etwas davon, wie der Mensch ursprünglich gemeint ist: als soziales Wesen nämlich, das einander hilft, füreinander einsteht, es gut meint mit den anderen und gemeinsam den Weg des Friedens sucht.
Juden aller Jahrhunderte gehen diesen Weg. In Wissenschaft und Kultur, in Kunst und Musik, in der Medizin und im Geistesleben. Sie machen der Welt und der Menschheit damit ein Geschenk. Oftmals – Gott sei es geklagt – ernten sie durch die Jahrhunderte hindurch Fluch statt Segen.
Segen empfangen und selbst ein Segen sein – das ist so ziemlich genau das Gegenteil von Hassrede. Wer segnet spricht Gutes aus über anderen, wünscht ihnen Gutes. Setzt sich ein für das Gute, das Wohl. Das Wohl des Einzelnen wie das Wohl der Gesellschaft. Wer hasserfüllt redet, wünscht dem anderen nichts Gutes. Möchte ihn aus dem Blick haben, aus dem Sinn, aus dem Land.
Und der Segen im eigenen Leben?
Und der Segen im eigenen Leben? Bei Abraham klingt das alles so glatt, so rosig. Wenn ich mein eigenes Leben anschaue würde ich schon sagen, dass ich mich als gesegnet empfinde. Schwierigkeiten und Spannungen gibt es aber auch. Spricht das gegen den Segen Gottes in meinem Leben?
Ich lese die Geschichte Abrahams noch einmal genauer. Bei diesem zweiten Hinsehen muss ich feststellen, dass auch in Abrahams Leben nicht alles glatt und ohne Schwierigkeiten ging. Abraham muss sein Heimatland verlassen. Sein Weg führt ihn zunächst nach Ägypten, wo seine Frau Sarah in Gefahr gerät. Abraham und sein Neffe Lot geraten in einen schwierigen Streit miteinander. Abrahams Frau Sarah wird lange Zeit nicht schwanger, was dem Paar schwer zu schaffen macht und manches mehr. – Abrahams Leben ist keinesfalls frei von Spannungen, schwierigen Situationen, manchmal auch Ratlosigkeit und Schwäche. Mir zeigt das: Schwierigkeiten und notvolle Tage heißen nicht, dass einer von Gott verlassen ist. Allerdings vergeht eine geraume Zeit, bis der anfangs über Abraham ausgesprochene Segen Gottes so richtig sichtbar wird. Eine geraume Zeit, in der Abraham am Segen Gottes durchaus zweifelt.
Es tut mir gut, auch dieses wahrzunehmen. Es macht mir deutlich: Gottes Segen ist nicht immer sofort sichtbar. Ich wünschte es mir manchmal schneller, klarer und mächtiger. Im eigenen Leben und auch im Leben anderer. Trotzdem macht es Sinn, sich (z.B. am Ende eines jeden Gottesdienstes) unter den Segen Gottes zu stellen. Gott verspricht uns, bei uns zu sein. In allem und durch alles hindurch. Gottes Segen kommt zum Ziel. Am Ende wird alles gut. Über alles irdische Leben hinaus.
Amen.
Pfarrer Norbert Stahl, Waldenbuch