Sie sind beide geborene Ostpreußen. 50 Jahre sind sie verheiratet und feiern mit mir Goldene Hochzeit. 50 Jahre verheiratet, davon aber nur 6 Jahre zusammengelebt. 1939 wurde er als Soldat der Wehrmacht eingezogen, 1944 geriet er in russische Gefangenschaft und wurde deportiert. Ihr gelang 1945 die Flucht in den Westen. Sie haben sich nicht wieder gesehen. Sie landete in einem Dorf mit einhundert Einwohnern in der Lüneburger Heide. Bis zu ihrer Rente arbeitete sie dort als Magd auf einem Bauernhof. Sie zog zu ihrer Tochter in meine Gemeinde im Weserbergland. Er blieb verschwunden. Von ihrem Mann hat sie nie wieder etwas gehört, obwohl sie gleich nach dem Krieg das Deutsche Rote Kreuz mit ihrem Such-Dienst eingeschaltet hatte. Ihn für tot zu erklären, wieder zu heiraten – das kam für sie nicht in Frage. Gehofft hat sie und gewartet ins Ungewisse. Wieder alles Erwarten kam 1983 eine Nachricht vom DRK: „Wir haben ihren Mann gefunden. Er ist in Kasachstan.“ Mit Erfolg beantragten sie die Familienzusammenführung. Ich war dabei, als er auf dem Bahnhof ankam. Ausgemergelt, abgearbeitet und erschöpft stieg er aus dem Zug. Aus dem jungen Mann von damals war ein uralter geworden. Ein Jahr später war der Tag ihrer Goldenen Hochzeit. „In die Kirche schaffen wir es nicht mehr“. Die Lungen waren schwach. Die Luft reichte nicht mehr für den Weg zur Kirche. Wir feierten mit der kleinen Familie und zwei Nachbarinnen in der kleinen Stube der beiden. Ich hielt die Andacht, dann deckte sie den Tisch. Die schönste Torte, frischer Kaffee. Er sprach das Dankgebet in seinem gebrochenen Deutsch. Dann sagte er: „Und jetzt, meine lieben Gäste, esst und freut Euch mit uns. Und lasst nichts übrig“. Er selbst griff hinter sich auf die Kommode, wickelte aus einem Tuch ein trockenes Stück Brot und aß. Über 30 Jahre ist das her, ich sehe das noch ganz genau vor meinen Augen. Die Dankbarkeit für 50 Jahre Ehe, Dankbarkeit für das Wiedersehen, für ein trockenes Stück Brot. Trockenes Brot war sein Leben gewesen. Ein Vorbild eines dankbaren Menschen.
Er ist für mich das Gegenbild zu Menschen unserer Tage. Martin Winterkorn, der Chef von VW, war 2010 der bestbezahlteste Manager Deutschlands. 15 Millionen Euro im Jahr. Angesprochen, ob ein VW-Arbeiter am Band das verstehe, reagierte er unwillig. Für ihn war die Sache klar und gerecht, schreibt die Wochenzeitung DIE ZEIT in ihrer Ausgabe am letzten Sonntag zum Thema „Das Märchen von der Gerechtigkeit“. „Jeder Mitarbeiter hat ja seine Entgeltregel unterschrieben und akzeptiert“, sagte er. Er begründete sein Geld mit der Verantwortung, die er zu tragen habe. Die Verantwortung für den Betrug am Dieselmotor wollte er nicht übernehmen. Er trat zurück mit einer Ausrede und einer weiteren kräftigen finanziellen Belohnung.
„Ich habe das verdient“ ist immer die Begründung. Gegenüber manchem Bank-Manager ist Winterkorn allerdings ein bescheidener Mann. Etliche haben Boni in einer 9-stelligen Zahl bekommen. Sie haben mit unverständlichen Papieren und Finanzkonstruktionen viel Geld für ihre Bank gemacht. Luftnummern, die sich 2008 in Nichts auflösten. Geld mit Geld machen, nicht mit der Hände Arbeit. Das Ergebnis: Die Weltwirtschaft stand am Abgrund. Der solide Sparer bekommt für seine Leistung bis heute kein Geld. Für Anshu Jain, den Investmentbanker der Deutschen Bank, war ein Motiv, Banker zu werden, dass nur Leistung zähle. Und die müsse belohnt werden. Geld hat eine Funktion, sie schafft keine Beziehungen mehr. Es hat sich von Beziehungen gelöst. Der Dank ist überflüssig geworden.
Der geistliche Mensch sagt, Gier und Angst sind die treibenden Kräfte des gottlosen Menschen. Die Angst ist die andere Seite der Gier. Nicht genug bekommen.
Ich frage leitende Ärzte, ob es gerecht sei, dass sie mehr Geld bekommen als die Kanzlerin. Sie antworten: „Wir haben das verdient“. Die Kanzlerin hätte ja auch Ärztin werden können. „Regen Sie sich nicht auf“, sagt der Kaufmann der Klinik, „die Gesellschaft bewertet die Gesundheit nun mal höher als die Politik“. Ja, Gesundheit ist die neue Gottheit. Früher machte man sich Sorgen um sein Seelenheil. Darum wurde der Pfarrer alimentiert, denke ich. „Das habe ich verdient“, sagt die gut verdienende Elite in unserem Land. Sie führen Selbstgespräche wie der reiche Kornbauer und vergleichen sich untereinander. Sich nach unten zu vergleichen haben sie nicht mehr nötig. Dank ist nicht nötig, es ist ja verdient.
Die Haltung der Elite hat Konsequenzen für das ganze Land. 50 % aller Deutschen sagen, es gehe nicht fair zu im Land. Sie kämen zu kurz. Unmut und Zorn über die ungerechten Verhältnisse machen sich breit. Die Gesellschaft löst ihr Versprechen der sozialen Gerechtigkeit nicht mehr ein. Eine Partei nimmt das dankbar auf. Der Wohlstand im Lande war noch nie so groß. Aber die Flüchtlinge nehmen uns alles weg, so eine zunehmende Grundstimmung, obwohl sie nicht mit Fakten hinterlegt ist. „Wo sind die Früchte Eurer Gerechtigkeit?“ würde der Apostel uns fragen. Wo man nur einseitig auf Leistung des Einzelnen ausgerichtet ist, da zerstört man die Bereitschaft zur Kooperation, schreibt DIE ZEIT.
Der alte Mann aus Kasachstan ist längst verstorben, er würde diese Welt nicht verstehen und weiter dankbar für sein Stück trockenes Brot sein. Sind nur noch die einfachen Leute dankbar? Die Witwe, die für ihre Lebensleistung 500€ im Monat bekommt?
Die Reichen fühlen sich ärmer, die Armen fühlen sich reicher, sagt die Studie in der ZEIT. Arme wollen ihre Würde bewahren. Wenn du unglücklich werden willst, musst du dich vergleichen.
Von Geld habe ich jetzt viel geredet. Denn von Geld spricht auch der Apostel Paulus in seinem Brief an die Korinther. Er wirbt für eine Kollekte zugunsten der verarmten Gemeinde in Jerusalem. Sein Wort ist zugleich ein Lehrstück für einen Christen im Umgang mit Geld. „Wer kärglich sät, wird auch kärglich ernten“, sagt er. „Und wer da reichlich sät…“, fährt er fort. Man erwartet, er sagte jetzt: „ der wird auch reichlich ernten“. Sagt er aber nicht. Er sagt „Wer da sät im Segen, der wird auch ernten im Segen“ (2.Kor 9,6). Er stellt sich einen Segensfluss vor.
Ich lebe nicht weit von der wasserreichsten Quelle Europas, der Quelle des kleinen Flusses Rhume am westlichen Harz-Rand. Mitten in einem Waldstückchen quillt aus der Erde mit einer Fläche von ca. 20 Metern Radius das Wasser aus der Erde. Es sprudelt kräftig, dann sucht es seinen Weg im Flussbett, fließt kräftig an den Dörfern im Vor-Harz vorbei, wird immer breiter und fließt bei Northeim in die Leine, von dort in die Aller, dann in die Weser. Der Strom wird breiter und breiter, bis er hinter Bremen in die Nordsee fließt. „Alle Flüsse fließen ins Meer, doch das Meer wird nicht voll“, sagt der Prediger im Alten Testament. Wie ein Strom, der immer voller und breiter wird, so fließt der Segen von einem Menschen aus, der gibt. Der freiwillig, fröhlich und gerne gibt, so der Apostel. „Dass alle Gnade unter euch reichlich sei und Ihr reich seid zu jedem guten Werk“. Den fröhlichen Gottlieb, nennen wir ihn.
Den dankbaren Menschen zeichnet aus, dass er sich als Empfangender versteht. Er lässt sich nicht an seiner Leistung messen. Er hat sich nichts verdient. Zuerst hat er bekommen. Das griechische Wort für Dank, Freude und Gabe ist dasselbe Wort: „Charis“. Aus der Freude, aus Dankbarkeit über alles, was ich empfangen habe, gebe ich weiter. Mit Hilfe meiner „charismata“, meiner Begabungen, die mir geschenkt wurden. Alles Wesentliche meines Lebens habe ich empfangen. „Alles, was ich hab, hab ich von einem anderen“, singt der Liedermacher Hermann van Veen schon in den siebziger Jahren.
Das Brot, das ich esse, habe ich nicht selbst gebacken, das Bier nicht selbst gebraut. Die Liebe wird mir geschenkt, selbst die Hoffnung und das Vertrauen. Meine Mutter hat mich dereinst empfangen. Nichts verdanke ich mir selbst. Der Dank macht Platz für einen anderen in meinem Herzen.
Die Reduzierung auf verdientes Geld zerstört eine Gesellschaft. Dietrich Bonhoeffer schreibt in seinem letzten Brief aus der Haft an seine Eltern: „Mit wie wenig ein Mensch auskommt, habe ich ja in den zwei vergangenen Jahren gelernt. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen jetzt täglich alles verlieren, hat man eigentlich gar keinen Anspruch mehr auf irgendwelchen Besitz.“ Und dann bittet er seine Eltern um einen Waschlappen, ein Handtuch, Streichhölzer, Zahnpasta und ein paar Kaffeebohnen und vor allem um Bücher. Bücher von Pestalozzi und Plutarch. „Verzeiht, dass ich das sage. Vielen Dank. Habt vielen Dank für alles.“ „Damit Ihr in allen Dingen allezeit volle Genüge habt“, schreibt der Apostel (2.Kor 9,8).
Was hast Du in diesem Jahr alles empfangen, für das du dankbar sein willst? Du hast so viel weiterzugeben. Wenn du es tust, dann mit fröhlichem Herzen, freiwillig und gern. Sonst ist es rausgeschmissenes Geld.