"In Sehnsucht eingehüllt" - Predigt über Jesaja 11, 1-9 von Ruth Conrad
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"In Sehnsucht eingehüllt" - Predigt über Jesaja 11, 1-9 von Ruth Conrad

In Sehnsucht eingehüllt
Was,
  liebe Gemeinde,
  was macht diesen ei­gentümlichen Reiz von Weihnachten aus?
  Woran liegt es, dass wir – Jahr um Jahr – mitten im Winter, oder teilweise fast noch mitten im Herbst, wie aus heiterem Himmel, in festliche Stimmung fallen beziehungsweise versuchen eine solche zu inszenieren? Eine eigentümliche Atmosphäre beherrscht für einen Monat unsere Welt. Für etwa 30 Tage bestimmt Weihnachten das Leben innerhalb und außerhalb der Kirchenmauern. Das Weihnachtsfest hat ja auch die Adventszeit erobert. Vorweihnachten ist wie Weihnachten. Kein anderes Fest kann mit dem Weihnachtsfest konkurrieren. Weder was den Konsum betrifft noch mit den ausgelösten religiösen Gefühlen und Stimmungen. Woran liegt das? Was ist das Geheimnis von Weihnachten?
Vielleicht liegt es daran, dass kein anderes Fest unse­re innersten Sehnsüchte so stark berührt wie das Weihnachtsfest.
  Weihnachten bringt uns Jahr um Jahr mit unserer Sehnsucht nach heilem, gelingendem Leben in Berührung.
  Einem Leben, in dem nicht das Vordergründige zählt,
  in dem nicht nach Hörensagen abgeurteilt und mit dem ersten Blick das vernichtende Urteil gesprochen wird. So einer bist du also.
  Weihnachten bringt uns mit unserer Sehnsucht nach einem gerechten Leben in Berührung.
  Einem Leben, in dem auch die Schwächeren und Langsameren eine Chance haben,
  einem Leben, in dem die Menschen einander verstehen, ohne ständig auf die Unterschiede zu pochen. Ich hier oben, Du dort  unten.
  Weihnachten erinnert uns Jahr um Jahr an unsere Sehnsucht, das Leben einmal klar zu sehen und dass alles Zwielichte und Zweideutige verschwunden sein möge.
  Unser Leben trägt in sich die Sehnsucht nach etwas Neuem, nach Unverbrauchtem, nach neuen Chancen und Änderungen, die Sehnsucht nach einem Leben, das nicht die Spuren des Vergangenen an sich trägt.
  Noch einmal neu anfangen dürfen,
  frei von Schuld und unbelastet von dunklen Erfah­rungen,
  noch einmal alle Möglichkeiten offen haben,
  gleich einem kleinen Kind, gleich diesem Kind in der Krippe – das ist unsere Lebenssehnsucht. Daher auch diese Faszination, die von kleinen Kindern ausgeht.
In schwierigen Zeiten, dann, wenn sich Nacht über unsere Seele senkt, wenn wir verzweifelt sind und unruhig fragen, was wohl noch alles kommen mag und wie es weiter gehen wird, wenn uns alles über den Kopf zu wachsen droht, in solchen Zeiten fühlen wir uns wie eingehüllt in diese Sehnsucht.
  Dann aber erkennen wir auch – es braucht Mut und Kraft, die eigene Sehnsucht in un­seren Gedanken und Gefühlen wahrzunehmen. Groß und naheliegend ist die Versuchung, sich mit dem Vorfind­lichen abzufinden, – so schlecht ist die Welt dann auch wieder nicht, wir richten uns ein und sehen im Hier und Jetzt alles. Die Sehnsucht nach Neuem wird verdrängt. Dann freilich schlägt die Sehnsucht um in Sucht. Der Einkaufsrummel und das Glitzerleuchten der Vorweihnachtszeit leben eben gerade von dieser Verkürzung unserer Sehnsucht. Aus Sehnsucht wird ein Geschäft mit den Gefühlen. Die Sehnsucht aber lebt von der Hoffnung auf Größeres. Sie lebt von der Hoffnung auf eine Be­gegnung mit Gott,die unser Leben verwandelt und nicht von der Hoffnung auf das neue i-phone. Die Sucht will immer nur haben, hier und jetzt. Die Sehnsucht wartet – auf das Wunder neuen Lebens.
 
Der heutige Predigttext ist eines der schönsten Ge­dichte über die Sehnsucht, das die Weltliteratur bewahrt hat. Ich lese aus dem Buch Jesaja, dem 11. Kapitel, die Verse 1-9:
  Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Baumstumpf Isais und ein Zweig aus seiner Wur­zel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.Und er wird Wohlgefallen haben an der Furcht des Herrn. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stock seines Mun­des den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. Dann werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcklein lagern. Kalb und Löwe weiden zusammen und ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kühe und Bären werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen wer­den Stroh essen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Schlange und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg, denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist.
 
Liebe Gemeinde,
so ist das also mit der Sehnsucht – sie wächst in schweren, kräftezehrenden Zeiten,
  Zeiten, in denen wir uns fühlen wie ein gefällter Baumstumpf,
  tot,
  abgeschnitten vom Leben.
  Zeiten, in denen wir nicht wissen, ob noch einmal etwas Neues kommt und wie es sein wird,
  Zeiten, in denen das Alte uns unerträglich wird – so viel Ungerechtigkeit, so viel Unerträgliches, so viel Wölfe, die ums Seelenlager heulen, so viel Fragen, so viel Mühe, so viel durchwachte Nächte.
  Es sind die Zeiten, in denen unsere Sehnsucht wie eine verschlossene Knospe zaghaft und vom Wind bedroht an unserem Lebensbaum baumelt.
 
Doch dieses Lied singt uns ins Herz und ins Ohr – Eure Sehnsucht wird sich erfüllen. Gebt sie nicht auf!Eure Sehnsucht wird sich erfüllen – denn es wird einer kommen, in dem wird Gottes Geist ganz und ungebrochen da sein wird. Dieser Mensch, ihn ihm wird sich eure Sehnsucht erfüllen.
  Denn dieser Mensch wird den Geist der Weisheit haben – es wird einer kommen, der sich auskennt mit der Welt und mit meinem kleinen Menschenle­ben, einer, der hin-durchschaut, der die Lebensspreu vom Weizen trennen kann.
  Dieser Mensch wird den Geist des Verstandes haben – es wird einer kommen, der die Zusam­menhänge übersieht, einer, der weiß, worauf es hinaus will mit mir und der Welt.
  Dieser Mensch wird den Geist des Rates haben – es wird einer kommen, der uns Wege finden lässt im Irrgarten des Lebens, der uns hilft, die Dinge zu verstehen, ohne bitter oder zynisch zu werden.
  Dieser Mensch wird den Geist der Stärke haben – es wird einer kommen, der sich trotz seiner Schwäche durchsetzt, ohne Gewalt und ohne Selbstdarstellerei, einer, der innere Unabhängigkeit besitzen, der sich nicht korrumpieren lässt.
  Weil dieser Mensch die Sehnsucht der Menschen selbst gespürt, ertragen, durchlitten hat und doch auch ihre Kraft gespürt hat, von ihr getragen und beflügelte war, deshalb wird er unsere Sehnsucht mit Gottes Welt zusammenbringen. Dieser Mensch wird die Welt verändern. Er wird das Neue wagen, mitten im Alten:

  Die Hilflosen wird er nicht noch treten, beschimpfen und diffamieren, sondern wird sie aufrichten und für das Leben gewinnen.
  Denen der Kummer die Sprache verschla­gen hat, denen wird er seine Stimme verleihen und ihnen Gehör verschaffen.
  Die in unserer Welt zu den Verlierern zählen, die, die ständig noch drauf zahlen müssen, denen wird er Gerechtigkeit verschaffen, wird ihnen ge­währen, was ihnen zum Leben zusteht.
  Und dort, wo wir Menschen Gegensätze und Feindschaften kultivieren, um uns selbst besser zu fühlen, dort wird er verbinden. Widersprüchliches kann beieinander sein. Wolf und Lamm, Kalb und Löwe,
  Kinder und Schlangen –- sie alle werden friedlich in einer Welt leben, werden sich nicht gegenseitig das Lebens­recht bestreiten. Unsere Sehnsucht nach Frieden, nach unge­brochener Gemeinschaft wird erfüllt sein.

 
Liebe Gemeinde,
  dieser ersehnte Mensch  – sein Antlitz sehen wir an Weihnachten in der Krippe. In der Geburt des Kindes dort, im Stall vom Bethlehem ist unsere Sehnsucht Mensch geworden. Jesus Christus, Gottes Sohn, –  er stand mit seinem Leben für diese so sehr ersehnte Verwandlung der Welt ein:
  Die Armen und Habenichtse hat er zu seinen Brüdern gemacht.
  Seinen Feinden und den Wölfen, die ihn ans Kreuz brachten, verzieh er noch im Sterben.
  Den Schuldigen hat er Vergebung ins Herz gelegt,
  den Traurigen den Arm um die Schulter.
  Gegensätzliches hat er verbunden.
  Er hat nicht eingeteilt in Gute und Schlechte,
  in Könner und Verlierer,
  in Gute und Böse.
  Seine Liebe war die Kraft, die Menschen verwandelt hat – aus einem toten Baumstumpf ein neuer Reis des Lebens. In Jesus sehen wir Gottes Liebe, die die Welt und unsere Sehnsucht versöhnt.
  Im Stall von Bethlehem hat diese Veränderung begonnen.
  Leise, unaufgeregt, aber: unwiederbringlich.
  Zart und leicht zu übersehen, aber voller Lebens­kraft.
  Ein neues Leben mitten in der alten und ach so sehnsuchtsverhüllten Welt.
  Wie ein Reis an einem umgehauenen Baum­stumpf,
  wie eine neue Blüte an einem totgeglaub­ten Stamm.
 
Noch, liebe Gemeinde, noch leben wir in einer Welt, die uns wie ein toter Baumstumpf erscheint.
  Noch leiden wir an einem Leben, in dem vieles nicht aufgeht, vieles unfertig, vielleicht gar wie ab­gestorben wirkt.
  Noch gehen wir oft mit der Nacht vereint und fühlen uns einsam und schwer wie sie.
  Glaubt man nur dem, was man offensichtlich sieht, dann hat sich nicht viel zum Bessern ge­wendet seit jener Nacht im Stall.
  Und doch ist – allem Augenschein zum Trotz – ein neuer Zweig an einer Wurzel aufgebrochen. Wir sehen eine Knospe im Wind. Wir riechen den Duft neuer Blüten. Wir sehen erste Farben neuen Lebens – mitten im alten, am totgeglaubten Baumstumpf spüren wir in unserer Seele, in unserem eigenen Leben und auch in dieser Welt die Kraft dieses neuen Lebens. Klein, leicht zu übersehen, gefährdet zu zerfallen, aber: Es ist da.

  Wir finden eine Liebe, die unser Leben trägt und in der wir uns geborgen fühlen, finden ein Zuhause. Hier darf ich sein. Hier ist es gut.
  Eine Schuld oder ein Versäumnis bestimmt nicht unser ganzes Leben. Eine neue, kaum erhoffte Lebenschance tut sich auf.
  In mühsamen und anstrengenden Zeiten fällt unsere Seele – wider alles Erwarten – nicht ins Bodenlose. Wir fühlen uns ,,von guten Mächten wunderbar geborgen“, spüren, wie uns eine stille Zuversicht und Ge­lassenheit zuwächst.
  Und wo die Verwandtschaft wie Wölfe und Lämmer aufeinander losging und am Arbeitsplatz die Panther die Böcke jagten, da erleben wir doch manchmal auch: Es kann anders sein. Es gibt andere Umgangsformen und die führen auch nicht gleich in den Weltuntergang. Friedlichkeit muss nicht zwangsläufig zum Verlierertum führen.

Unsere Sehnsucht ist der Anfang einer Veränderung unseres Alltages. Sie ist nicht nur ein Schmerz, der durch unser Seelenhaus pfeift, nein: sie ist auch die Kraft, die uns auf Veränderung, auf das Erblühen einer Knospe hoffen lässt. So beginnt alles Wesentliche in unserem Leben mit der Sehnsucht. Sie ist eine Kraft, die uns umhüllt. Ihr zu trauen lädt uns das Kind in der Krippe ein. Denn in diesem Kind sehen wir leise, unaufdring­lich, aber beharrlich und unbeirrt Gottes Reis her­vorgehen aus einem Baumstumpf. Das ist das Geheimnis von Weihnachten.
-> Christrose auf Kanzel oder Altar stellen
Das Geheimnis unserer Sehnsucht und damit das Geheimnis von Weihnachten ist eine Blüte an einem toten Baumstumpf, eine Knospe, die sich allem zum Trotz entfaltet, eine Rose – mitten im Winter.  Amen
  Predigtlied: EG 30, 1-4 Es ist ein Ros entsprungen
 
Zum Titel der Predigt vgl. Selma Meerbaum-Eisinger: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund. Hg. und eingeleitet von Jürgen Serke, Frankfurt/Main 1984, S.84f.
  Am Ende der Predigt könnte für alle sichtbar eine Christrose auf die Kanzel oder auf dem Altar o.ä. gestellt werden. Ich bin mir dabei sehr wohl bewusst, dass sowohl die ursprüngliche Bedeutung des Predigtliedes als auch der Perikope nicht die der „Rose“ im hier benutzten Sinn ist.