Liebe Gemeinde,
Sehnsucht nach dem guten Leben
An Weihnachten sind viele von uns voller Sehnsucht. Sie sehnen sich nach Gemeinschaft und Geborgenheit. Viele denken an Weihnachten, aber auch an die großen, Besorgnis erregenden politischen Entwicklungen. Sie spüren die Sehnsucht nach Frieden in diesem Jahr besonders schmerzlich. Seit Februar tobt Krieg in der Ukraine, mitten in Europa. Viele sehnen sich auch nach Freiheit und Gerechtigkeit – wir denken in diesen Tagen besonders an den Iran, wo junge Menschen barbarisch unterdrückt und verfolgt werden. Und nicht zuletzt sehnen wir uns nach einer Lösung für die Klimakrise. Wie können wir die Erderwärmung in einem akzeptablen Rahmen halten? Wie kann man Menschen motivieren, den anspruchsvollen Weg in eine lebbare Zukunft mitzugehen?
Unsere weihnachtliche Sehnsucht verlangt keine Wunder, sie ist nicht überdimensioniert. Wir sehnen uns lediglich nach einem guten Leben ohne allzu bedrückende Sorgen für uns und unsere Nachkommen – schon das wäre ganz wunderbar.
Der Prophet Ezechiel hat auch keine überbordenden Erwartungen. Seine Sehnsucht treibt ihn nicht ins Unvorstellbare. Ezechiel verkündet eine eher bescheidene Vision angesichts von herben Enttäuschungen, die er verkraften muss. Sein Volk war im Exil in Babylon. Jerusalem und der Tempel waren zerstört. Dann kehren die Deportierten endlich zurück – voller Erwartung, dass nun alles gut werden wird, dass sie wieder frei sind und in ihrer Heimat gut leben können. Doch die Heimkehr erweist sich nicht einfach als Happy End. Erneut werden Arme von Reichen übervorteilt. Die Leitungsfiguren sind unfähig und korrupt. Es herrschen Unsicherheit und Angst. Die Verhältnisse – sie sind nicht so.
In diese Situation hinein formuliert der Prophet seine Vision. Mitten in Verunsicherung und Angst spricht Ezechiel von der Hoffnung auf Sicherheit und Frieden. Die poetischen Bilder, die er dazu verwendet, bleiben in einem realistischen Rahmen. Während Jesaja eine kosmische Vision von einem Tierfrieden malt, bei dem der Löwe Stroh fressen wird und kleine Kinder sorglos mit wilden Tieren spielen können, geht es Ezechiel „nur“ um eine Eindämmung von Gewalt: Er hofft darauf, dass die wilden Tiere nicht mehr Menschenleben zerstören, sondern jeder sicher schlafen kann, auch in der Wüste und in den Wäldern. Er will, dass Gott das Land segnet, damit es seinen Ertrag bringen kann. Deshalb hofft er auf „gnädige Regen“, die dafür sorgen, dass das Land nicht austrocknet, aber auch nicht überflutet wird. Feld und Bäume sollen ihre Früchte tragen, damit die Menschen nicht hungern müssen. Und schließlich hofft der Prophet darauf, dass die Menschen nicht mehr schlecht und ungerecht regiert werden, sondern frei und unabhängig in Frieden leben können.
Ezechiel weiß, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist und bleibt. In diese Gefährdetheit hinein verkündet er seine Vision von einem guten Leben. Und er weiß Gott dabei auf seiner Seite: Sechs mal sagt Gott „ich will“ – Gott will – und Gott will es unbedingt! –, dass diese Erde bewohnbar ist und bleibt, dass wir gut miteinander und mit der Schöpfung umgehen. Gott will das gute Leben.
Es gibt die guten Hirten
Ein Bild in unserem Text verbindet sich in besonderer Weise mit der Weihnachtserzählung – es ist das Hirtenbild. Ezechiel beklagt, dass es in Israel häufig nur schlechte Hirten gab. Bei Hirten dachte er an diejenigen, die für das Volk Verantwortung tragen. Der Prophet hofft deshalb auf einen neuen Hirten, einen neuen David, der politisch anders agieren wird als die politischen Führer seiner Zeit – nämlich gerecht, fürsorglich und den Frieden erhaltend. In einem solch guten Hirten ist Gott selbst präsent. Davon ist Ezechiel überzeugt. In den menschlichen guten Hirten wirkt Gott selbst als guter Hirte und weidet seine Herde, wie es in Vers 31 heißt.
Auch in der Weihnachtsgeschichte spielen die Hirten eine prominente Rolle. In Lukas 2 sind es die Hirten auf dem Feld, die als erste von der Weihnachtsbotschaft erfahren. Der Himmel öffnet sich und die Engel verkünden den Hirten, dass der Heiland der Welt geboren ist. Das Erstaunen der Hirten ist groß: Plötzlich ist die dunkle Nacht taghell und werden ausgerechnet sie – die Ärmsten der Armen – auserwählt, um die himmlische Botschaft zu hören. Zunächst fürchten sich die Hirten, aber dann begreifen sie rasch, dass hier etwas Wunderbares geschieht. Sie lassen sich von der Engelsbotschaft ergreifen und machen sich sofort auf den Weg nach Bethlehem. Und sie finden den Stall und Maria und Josef und das Kind in der Krippe liegen. Die Hirten preisen und loben Gott, so heißt es bei Lukas. Sie haben begriffen, dass Gott bei ihnen ist, dass diese Welt nicht verloren ist. Sie sind tief berührt und erzählen allen davon, denen sie begegnen. So werden die Hirten der Weihnachtserzählung zu den eigentlichen Hoffnungsträgern, nicht die Mächtigen der Welt.
Die Hirten auf dem Feld sind gute Hirten, obwohl sie keine Macht und nur eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten haben: Sie hören auf Gottes Botschaft und glauben ihr. Lukas weiß, dass die Wende nicht einfach von oben kommt, sondern dass alle, die sich für die Botschaft des Kommens Gottes öffnen, zu guten Hirten werden und zum guten Leben beitragen können. Ich bin sicher, dass Lukas die Hirtenrede des Ezechiel bei seiner Weihnachtserzählung im Kopf hatte. Auch Lukas kennt die Enttäuschung. Auch Lukas ist Realist. Wie Ezechiel erzählt Lukas von Dunkelheit und Licht, von einer Sensibilität für die Gefährdung wie der Vision von Frieden und Gerechtigkeit. Wie Ezechiel ist Lukas voller Hoffnung, dass es inmitten all der schlechten Hirten auch gute Hirten gibt. Dass Gott kommt und die Welt nicht sich selbst überlässt:
Es gibt sie, die guten Hirten. Der gute Hirte ist ein zentrales Motiv in Jesu Gleichnissen. Der gute Hirte sucht das verlorene Schaf, er setzt alles dafür ein und freut sich über die Maßen, als er es endlich gefunden hat. Auch der barmherzige Samariter ist ein guter Hirte, der einen halb tot am Straßenrand Liegenden rettet und ihn weit über das Erwartbare hinaus versorgt. Der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn ist ein guter Hirte, der sich überschwänglich freut, als sein verlorener Sohn zu ihm zurückkehrt und ein neues Leben anfängt. Und das Wichtigste: Jesus selbst ist der gute Hirte. So sagt es das Johannesevangelium. Jesu Botschaft und sein Leben der Hingabe sind Ausdruck eines guten Hirtenamtes für die Menschen und für diese Welt.
Es gibt sie – die guten Hirten! Das ist die Weihnachtsbotschaft des Ezechiel. Gott selbst ist in ihnen gegenwärtig. Gott wohnt in den guten Hirten mitten unter uns und will mit ihnen – und mit uns! – die Erde bewohnbar erhalten und gutes Leben ermöglichen.
Weihnachten als Gegenbild
Weihnachten ist ein Gegenbild zu unseren negativen Erfahrungen mit schlechten Hirten. Wir brauchen solche Gegenbilder und Verheißungen von einem guten Leben, sonst vertrocknen wir. Sonst lassen wir uns von der Erfahrung des Krieges den Mut nehmen. Sonst verzweifeln wir angesichts dessen, was im Iran mit jungen Menschen geschieht. Sonst verlieren wir die Hoffnung angesichts des Klimawandels.
Die weihnachtlichen Erzählungen von den guten Hirten, vom Kind in der Krippe, von der Sehnsucht nach einem guten Leben blenden Gefährdung und Angst nicht aus. Aber sie rahmen die Gefährdung durch Hoffnung und Zuversicht. Weihnachten heißt: Gott ist bei uns und wohnt mitten unter uns. Gott wohnt sogar in uns, wenn wir uns wie die Hirten auf dem Feld von der Weihnachtsbotschaft anstecken und uns in die Pflicht nehmen lassen. Auch wir sollen füreinander gute Hirten sein. Und wir können gute Hirten sein. Heute an Weihnachten und morgen wieder im Alltag. Davon singen wir und dies feiern wir in dieser Heiligen Nacht.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist Heiligabend. Nachdem die meisten Menschen mit ihren Familien und Freunden Weihnachten gefeiert haben, kommen sie um 22h noch einmal in die Kirche. Jetzt können sie die Ruhe genießen, das Kerzenlicht, die Musik und eine Predigt, die zum Nachdenken anregt. Da sich das Jahr zum Ende neigt, denken viele nicht nur an ihre Wünsche und Sehnsüchte mit Blick auf Weihnachten, sondern auch an das zu Ende gehende Jahr, das 2022 besonders viel Anlass zur Sorge gab. Vor diesem Hintergrund wurde die Predigt geschrieben.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Exegese dieses sehr ungewöhnlichen Textes, der mich zunächst geärgert hat, weil er gar nicht zu Weihnachten zu passen schien. Dass Ezechiel – anders als Jesaja – eine realistische, keine utopische Vision entwickelt, hat mich dann sehr angesprochen und führte zur Predigtidee. Die Sehnsucht nach dem guten Leben ist nichts Utopisches, sondern etwas allgemein Menschliches.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das habe ich unter 2. schon angesprochen: Es geht nicht um das Unmögliche, aber doch darum, Hoffnung auch dann zu haben, wenn sie sich nicht nahelegt, wenn die Resignation viel näher läge als die Zuversicht. Und Grund zur Hoffnung sind die guten Hirten – es gab sie damals, es gibt sie heute. Jesus selbst ist der gute Hirte, der uns dazu verpflichtet, selbst gute Hirten zu sein.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Meine Predigt wurde von meinem Mann intensiv redigiert. Ihm verdanke ich die klare Gliederung, die ich ohne ihn nicht hinbekommen hätte. Der Text blieb für mich schwer zu predigen, auch wenn ich ihm einiges abgewinnen konnte.