Sehschärfe - Predigt zu Markus 8, 22-26 von Claudia Krüger
8,22
Sehschärfe
  
  Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ich, dass er ihn anrühre. Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas? Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen. Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, sodass er alles scharf sehen konnte. Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf!
  
  „Könnten Sie mir bitte Ihren Arm reichen, damit ich mit Ihnen einsteigen kann?“ Sie sah den jungen Mann überrascht an, der neben ihr an der Bushaltestelle stand, mit Rucksack und Blindenstock und einem freundlichen Lächeln im Gesicht. Er wohnt in der Nachbarschaft, sie kennt seine Mutter besser als ihn persönlich. Sie weiß, dass er in seiner frühen Kindheit allmählich erblindet war, dass man alles versucht und verzweifelt für sein Augenlicht gekämpft hatte, bisher noch ohne Erfolg. Hoffnung immer noch auf die neueste Forschung, aber: das kann dauern.            
  „Selbstverständlich, haken Sie sich einfach ein und sagen Sie mir, was ich tun soll!“ Sie reichte ihm ihren Arm und sie stiegen problemlos in den Bus. Er leitete sie souverän an, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres auf der Welt.     „Ich kenne Ihre Stimme“, meinte er. „Wir saßen doch schon gegenüber auf der Bierbank beim alljährlichen Nachbarschaftsfest.“  Sie erinnerte sich gut.  Er hatte von seinem Schulabschluss erzählt und von dem Studium, das er anstreben wollte. „Und wie ist es Ihnen inzwischen ergangen?“ fragte sie. Während sie U-Bahn fuhren, erzählte er von seinem Studium in Wirtschaftswissenschaften, von seinem Stipendium, das ihn in Kürze in die USA führen sollte, von hilfsbereiten Studienkollegen und verständnisvollen Professoren – und von anderen auch, die ihm keine Sekunde zusätzlicher Zeit für seine Klausuren einräumen wollten.  „Was machen Ihre Urlaubspläne?“ „Es geht wieder mal nach Südfrankreich mit meinen Freunden und Freundinnen, wir fahren Rad – als Tandem und nehmen den Wohnwagen meiner Eltern mit.“  Seine Mutter hatte schon viel von ihm erzählt. Von der Schwester, mit der er einkaufen ging:  die Stoffe prüfte er selbst, die Farben wählte die Schwester für ihn aus – sie hat einen guten Geschmack! Inzwischen hat er eine nette Freundin, mit der er Arm in Arm und eindeutig verliebt seine Wege geht und das Leben genießt, trotz seiner Blindheit. An warmen Sommerabenden, wenn die Fenster offen sind, dann hört sie gelegentlich melancholische oder fröhliche Akkordeonklänge – und lauscht hingerissen! „Ja“,  meinte seine Mutter einmal fröhlich, als sie darauf angesprochen wurde – „das ist unser Sohn, er spielt besser als wir alle!“  
  Ganz gewiss aber träumt der junge Mann manchmal davon, dass er scharf sehen könnte – das Gesicht seiner Freundin, das türkisfarbene Meer oder die Zeichnung der Schmetterlinge. Und vielleicht hofft er immer noch inständig, dass die Medizin doch eines Tages ihm das Augenlicht zurückgeben kann.
  Sie hat ihn nicht danach gefragt.
  Sie hat auch nicht danach gefragt, ob er die Heilungsgeschichte aus dem Markusevangelium kennt.
  Da waren wohl ebenfalls Angehörige oder gute Freunde zur Stelle, die selbstverständlich davon ausgingen, dass Jesus dem Blinden helfen könne, allein durch seine Berührung.
  Der Blinde wird nicht näher beschrieben, er ist einfach nur blind, keine Name, keine eigene Aktivität. Hier scheint das Dunkel, in das seine Augen getaucht sind, sein ganzes Dasein zu umgeben. Mit seinem Schicksal ist er – trotz aller freundlichen Hilfe letztlich doch allein – oder religiös betrachtet – mit seinem Gott, hier stellvertretend mit Jesus.
  Und Jesus nimmt den Blinden an der Hand – eine sehr intime Geste, behutsame Nähe schaffend.  Sie müssen erst einmal zueinander in Beziehung treten, wenn sich das Schicksal des Blinden ändern soll.
  Der Blinde lässt sich führen wie ein Kind. Er hat jede Selbständigkeit aufgegeben und verlässt sich ganz auf fremde Hilfe.
  
  Jesus führt ihn hinaus vor das Dorf – dorthin, wo sie nur zu zweit sind, wo kein Publikum jede Bewegung und jedes Wort neugierig verfolgen kann. Er will keine spektakuläre Spontanheilung vor aller Augen, keine Sensation, kein öffentliches Wunder, keine Demonstration der göttlichen Macht, sondern schlicht und in aller Stille einfach nur diesem einen Menschen aus seiner Not helfen.
  Der Glaube des Patienten übrigens, wird bei dieser Behandlung weder vorausgesetzt, noch folgt er ihr nach.
  
  Die Heilung selbst wirkt für uns Heutige etwas befremdlich: Wörtlich. „Er spuckte ihm auf seine Augen“. Das entspricht nicht gerade unseren strengen Hygienevorschriften!
  Speichel aber hatte in der Geschichte der früheren Medizin hohe Symbolkraft. Er galt wie Atem oder Blut als pure Lebenskraft, als Machtmittel, in welchem die Seele eines Menschen steckte. Mit seinem Speichel also gab sich Jesus dem blinden Mann aus Betsaida sozusagen selbst.
  Durch die enge Beziehung zu Gott und die folgende Handauflegung werden heilende Kräfte auf andere Menschen übertragen, gleichzeitig wird an die Schöpferkräfte Gottes erinnert. Jesu Vertrauen auf die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen wirkt hier heilsam mit.
  
  Die Heilung geschieht in zwei Schritten - seltsam, dass Jesus auf zweimal die Sehschärfe schärfen musste. Jesus will dabei den Menschen persönlich in das Geschehen und in die Heilung einbeziehen. „Siehst du etwas?“ Er wird mit dieser Frage nun endlich auch zur Mitarbeit aufgefordert, soll mithelfen, selber seine Sehkraft zu schärfen.  Und nun hebt der Mann den Kopf. Welch eine befreiende Bewegung für einen, der vermutlich sein Leben lang mit gesenktem Blick durchs Leben gegangen ist! Nun richtet er sich auf, und öffnet die Augen und sieht womöglich noch weiter, nämlich den Himmel über sich geöffnet. Noch etwas unscharf ist dieser erste Blick. „Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen.“  
  Noch sieht er keine Mitmenschen, nur Gestalten ohne Gesichter, schemenhafte Wesen. Aber Bäume sind ja auch positive Symbole, Hoffnungszeichen, zartes Grün und leuchtende Blüten tragend. Noch ist alles etwas unscharf, die Heilung ist eingeleitet, aber noch nicht am Ziel.
  Heilung ist ein Prozess, keine mirakulöse Wende. Eine Zuwendung, der eine zweite folgen muss.
  Und Jesus wendet sich ihm erneut zu mit aller Liebe und Behutsamkeit. Er legt abermals die Hände auf seine Augen. Und nun wird er ganz und gar geheilt, „zurechtgebracht“, heißt es da. Neue Aussichten für sein Leben tun sich auf in einem Augenblick!  
  Mehr braucht es nicht. Nur diese Wiederherstellung seiner ganzen Sehschärfe. „Und er schickte ihn heim und sagt zu ihm: Geh nicht hinein in das Dorf!“
  Wunder brauchen keine Realityshow und keinen Applaus. Sie erwachsen aus der Liebe des Menschgewordenen Gottes zu seinen Geschöpfen.
  Danach aber darf man einfach in Ruhe heimkehren zu denen, die einen lieben. Ganz unspektakulär, aber mit der göttlichen Liebe dessen, der sieht, war wir Menschen wirklich brauchen und von dessen Liebe uns nichts trennen kann – ob sehend oder nicht sehend.
  Blindenheilungen waren nach damaliger Erwartung ein Zeichen für den Anbruch des Reiches Gottes. Mit der Blindenheilung enthüllte sich Jesus als der erwartete „Christus“. Aber die Menschen sollten in Jesus den Messias sehen - nicht aufgrund eines spektakulären Wunders, sondern aufgrund ihres Vertrauens. Es sollte Jesus nicht als der große Wunderheiler, sondern als der einfache Gottesknecht gesehen werden, der später sein Leben gab für die Menschen. Darum lässt Markus dieses Wunder geheimnisvoll im Abseits spielen. Sicherlich wollte er damit auch ausdrücken: wer mit den „äußeren Augen“ alles scharf und richtig sieht,  hat deshalb noch lange nicht mit den „inneren“ Augen alles tief erblickt.
  
  Inzwischen ist die Medizin schon weit gekommen. Und doch gibt es noch viele Menschen, die von klein auf erblindet durchs Leben gehen. Andere bekommen im Alter eine Makuladegeneration, die das Sehen auf ein Minimum reduziert.  Wer so erkrankt, der braucht viel innere Kraft und starke wunderbare Menschen an der Seite. Ja,  gebe Gott, dass man immer wieder blinde Menschen heilen kann, vor allem auch diejenigen, die aufgrund ihrer bitteren Armut erblindet sind. Da braucht es dann allerdings auch den scharfen Blick der Sehenden!
  
  Ich möchte Blindheit gewiss nicht schönreden, aber dennoch gelingt es Gottseidank immer wieder, dass  ein kostbares frohes Leben möglich ist – bei aller Einschränkung. Das ist eine große Herausforderung, aber es ist nicht unmöglich, wie wir anfangs von dem jungen Mann erfahren haben.
  Freilich, als Sehende kann man darüber eigentlich kaum sprechen – sondern nur lernen und staunen. Vielleicht würden blinde Menschen sogar Antoine de Saint-Exupéry beipflichten, der in seinem Buch, „Der Kleine Prinz“ dem Fuchs die folgenden Worte in den Mund gelegt hat:  „Adieu“, sagte der Fuchs. „Hier ist mein Geheimnis. Es ist alles ganz einfach: Man sieht nur  mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar...“ „Die Menschen haben diese Wahrheit vergessen“ sagte der Fuchs. „Aber du darfst sie nicht vergessen. Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. Du bist für deine Rose verantwortlich.“
  Wenn wir älter werden und vieles nicht mehr geht, wie es früher ging, und manches auch dem Vergessen an heim fällt, dann suchen wir noch intensiver als zuvor nach dem Wesentlichen. Nach dem, was das Leben im tiefsten Sinne kostbar und lebenswert macht. Laut St.Exupéry, und übrigens auch nach den biblischen Aussagen, ist das Wesentliche all das, was nur das Herz, unser inneres Auge, scharfsinnig wahrnehmen kann. Wir können übrigens dabei hartnäckig blind und ahnungslos sein, auch wenn wir noch optisch scharf sehen und nicht einmal eine Lesebrille brauchen. Wir können arbeiten, reisen, Geld verdienen, eine Familie gründen, körperlich gesund sein und dennoch völlig blind hinsichtlich dessen, was dem Leben wirklich Sinn gibt.
  Was aber ist wirklich wesentlich? Jeder Mensch muss das an wichtigen Weichenstellungen seines Lebensweges selbst klären. Ist es die Zuverlässigkeit wichtiger Menschen? Ist es die Freude am mitreißenden Lachen eines Kindes oder das tiefe Glück angesichts eines jungen Menschen, der seinen guten Weg im Leben findet? Ist es der Mut, der sich gegen Egoismus und Ungerechtigkeit auflehnt und kämpfen kann für eine bessere und gerechtere Welt? Ist es die Treue, die sich am Bett eines kranken oder sterbenden Menschen äußert?
  Ist es Dankbarkeit gegenüber unsrem Schöpfer  für den Duft eines Frühlingsmorgens und das zarte Flattern eines Schmetterlings? Ist es die Faszination eines Gedankens oder einer Melodie? Sind das nicht alles Kostbarkeiten, für die wir manchmal ganz und gar blind und taub geworden sind? Das Wesentlichste im Leben aber ist und bleibt der Glaube an Gott, der uns liebend treu bleibt bis in Ewigkeit!  Und wir tun gut daran, unser Leben lang neu sehen und hören zu lernen auf das, was Gott uns sagt und worüber er uns die Augen öffnen will.
  Die Frau aber, die dem blinden Nachbarn ihren Arm angeboten hat, freut sich auf die nächsten Sommertage. Und wenn sie die Akkordeonklänge von der anderen Straßenseite hört, dann wird sie alle Fenster weit öffnen und dann werden auch ihr wieder die Augen geöffnet für das Wesentliche! Amen.                   
   
Perikope
18.08.2013
8,22