In der Woche vor dem ersten Advent krame ich – alle Jahre wieder – in der Weihnachtskiste. Irgendwo muss doch der Rohling für den Adventskranz sein. Irgendwo müssen auch die vier Kerzenhalter liegen. Und der Engel. In diesem Jahr habe ich es tatsächlich geschafft, rechtzeitig ein paar Zweige um den alten Rohling zu binden. Mein Adventskranz! Zugegeben: Er sieht nicht ganz so toll aus wie diejenigen, die es zu kaufen gibt. Aber er ist selbstgemacht. Das hat ja seinen eigenen Wert. Es hat Zeiten gegeben, da haben die Kinder mit gebunden, da sah er noch struppiger aus. Es hat auch Zeiten gegeben, in denen der Rohling einfach unauffindbar war. Da mussten ein paar Zweige auf einem Teller genügen. Oder ein schnell noch besorgtes Gesteck. Manchmal ist der erste Advent ganz und gar verstrichen ohne Tannengrün und Kerzenschein. Es war einfach noch nicht die Zeit.
In diesem Jahr bin ich ganz gut vorbereitet. Die erste Kerze kann brennen. Es liegt sogar schon ein Stern bereit. Nur den Engel habe ich noch nicht wiedergefunden.
Advent heißt, sich vorzubereiten auf das, was kommt.
In den Wohnungen und Häusern. In den Straßen und auf den Märkten.
Im Bewusstsein und im Herzen.
Dabei ist das, was kommt, keine Kleinigkeit.
„Seht, die gute Zeit ist nah, Gott kommt auf die Erde, kommt und ist für alle da, kommt, dass Friede werde, kommt, dass Friede werde.“ (eg 18)
Gott kommt auf die Erde. Frieden wird.
Das ist keine Kleinigkeit.
Das ist eine große Hoffnung. Und Erwartung.
Das feiern wir an Weihnachten. Alle Jahre wieder.
Darauf bereiten wir uns vor.
Gott kommt auf die Erde. Friede wird. Das wünsche ich mir. Ja!
Aber erwarte ich Frieden wirklich? Glaube ich, dass Frieden tatsächlich passiert? Real wird? Ich meine in diesem Jahr. 2016. Also jetzt.
Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.
Ein Teil von mir will ganz und gar weihnachtlich sein und mit großen leuchtenden Augen glauben, dass das genau so möglich ist und sein wird: Christus wird geboren. Gott kommt zur Welt. Friede wird sein. Gott ist groß und mit Gottes Hilfe ist nichts unmöglich.
Ein anderer Teil von mir hockt matt vor dem Adventskranz, schaut auf die Kerze und seufzt: Ach, das wird doch wieder nichts mit dem Frieden. In Syrien nicht. Und in der Ukraine nicht. In Afghanistan nicht. Und in Mali nicht. Der Frieden ist eine schöne Hoffnung, aber es wird ihn nie auf Erden geben. Den derzeitigen politischen Machthabern (und wenigen Machthaberinnen) traue ich den Frieden nicht wirklich zu. Ich befürchte sogar, dass die Zeiten rauer werden. Dass gesellschaftliche Konflikte härter ausgetragen werden. Auch hier bei uns. Dass es immer schwieriger wird, miteinander gut und auskömmlich zu leben.
„STOPP“, höre ich da eine Stimme rufen.
„Mach so nicht weiter. Lass Dich unterbrechen.“
Wer spricht?
Der Engel aus der Weihnachtskiste, den ich bisher noch nicht wiedergefunden habe?
STOPP. Mach so nicht weiter. Lass Dich unterbrechen.
Das ist die Sprechweise der Propheten in der Bibel. Die Sprechweise derer, die sich besonders um Gottes WORT kümmern. Von alters her. Durch viele Generationen hindurch wird durch die Propheten das Gotteswort weitererzählt und laut in der Welt in ihrer jeweiligen Zeit ausgesprochen:
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. (Jer 23,5)
Seht, es geht auch anders. Es kann in der Zeit – in jeder Zeit, die kommt – etwas Gerechtes sprießen und heranwachsen.
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will.
Jeremia spricht hier. „Gott erhöht“ bedeutet sein Name.
Wen Gott erhöht hat, der kann weit gucken. Und Jeremia guckt weit. In die Zukunft.
In die Zeit, in der ein Spross zum Leben erwachen wird, der Gottes Gerechtigkeit ins Leben bringen kann. Dieser zukünftige Spross hat eine Wurzel in der Vergangenheit des Propheten. Denn ganz am Anfang, im ersten Kapitel des Buches, das seinen Namen trägt, sieht Jeremia einen Mandelzweig. Gott beruft ihn damit zum Wächter. Ruft ihn zu besonderer Wachsamkeit. Der Mandelbaum nämlich treibt frühe Blüten schon dann, wenn alle anderen Gewächse noch Winterruhe halten.
Jeremia, wecke die anderen auf, damit sie es nicht verschlafen, selbst Blüten zu treiben – so lässt sich der Auftrag Gottes an Jeremia verstehen.
Und Jeremia spricht, um die Sehnsucht nach Recht und Gerechtigkeit im Land wachzuhalten, damals wie heute:
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. (Jer 23,5f)
Die alte Friedenshoffnung Israels und Judas war ein König, der kommt wie einst König David, um das Volk groß zu machen. Allen wird geholfen. Alle können sicher wohnen. Die christliche Friedenshoffnung knüpft daran an. Sie sieht Christus als königliches Gotteskind, in dem Gerechtigkeit zur Welt kommt. Daraus sprießt Frieden. Allen wird geholfen. Alle können sicher wohnen.
So wird es sein.
Bemerkenswert finde ich, dass Jeremia zwar in einer alten Traditionen steht und daran anknüpft, sich aber berufen weiß, den Frieden zu erträumen als ein Friede, der von Gott auf mich zukommt. Ihn aus der kommenden Zeit heraus zu ersehnen. Es kann sein, dass er selbst ihn gar nicht erleben wird, dass er erst für kommende Generationen erfahrbar sein wird. Aber in seiner Erwartung ist dieser Friede, die Gerechtigkeit Gottes jetzt schon eine reale Größe.
Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: „So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!“, sondern: „So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und heimgebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.“ Und sie sollen in ihrem Lande wohnen. (Jer 23,7-9)
Für Jeremia ist es ein Anliegen, sich getrost zu erinnern, sich aber nicht zurückzusehnen. Sondern auf das, was kommt, zu bauen. Im Kommenden Gott zu erwarten. Gott wird einsammeln, die verstreut sind. Die sichere Lebensorte verloren haben. Gott wird sie nicht verloren geben. Gott schafft Gerechtigkeit. Und findet Hüterinnen und Hüter, die helfen und dafür sorgen, dass Menschen sicher wohnen können.
Der Spross wird sich aufwecken lassen. Blüten und Blätter treiben. Mehr und mehr.
Seht, diese Zeit kommt!
Können wir, wollen wir uns in dieser großen adventlichen Erwartung von Gottes Frieden und Gerechtigkeit auf Erden einrichten? Finden wir darin ein Stück Boden, um zu bleiben? Finden wir darin Halt genug, um sie uns konkret in unserer Zeit vorzustellen? In diesem Jahr. 2016.
Was braucht es, um sicher wohnen zu können?
Um sicher wohnen zu können braucht es ein Dach über dem Kopf. Wohnraum, den sich Menschen leisten können. Friedliche Nachbarinnen und Nachbarn. Ausreichend Nahrung. Schutz vor Gefahren und den Unbillen der Natur. Ein rechtliches Umfeld mit Eigentumsregelungen.
Ist das alles gegeben in meinem Umfeld? Wenn ich mich aufmerksam umschaue?
Was fehlt noch? Was sollte anders werden? Wozu brauche ich Hilfe? Wo kann ich helfen?
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen.
Dieses Prophetenwort von Jeremia will gehört werden. Als Anbruch einer neuen Zeit. Aus der Gott auf uns zukommt. Es will die Zeit, in der Frieden unmöglich ist, unterbrechen. Und eine neue Zeit beginnen lassen. In der Gottes Gerechtigkeit wirklich ist. Und Frieden kommt.
Mein diesjähriger Adventskranz ist nur ein ganz gewöhnlicher. Mit Kerzen und Stern. Und bisher ohne Engel. Vielleicht aber fehlt der Engel gar nicht wirklich. Sondern lässt Platz. Platz für das, was noch aussteht und kommen will. Vielleicht sollte ich gar nicht weiter nach ihm suchen, sondern lieber aufmerksam sein für das, was ich erwarte. Worauf ich hoffe. Und diese Erwartung putzen, diese Hoffnung pflegen. Ab heute soll jede Kerze auf meinem Adventskranz dafür leuchten, dass Recht und Gerechtigkeit aufblühen wollen. Und selbst wenn ich nur matt darauf schaue, will ich nicht aufhören zu erwarten, dass die Zukunft ein sicheres Zuhause bereithält. Und Menschen, die helfen. Und Recht, dass Leben schützt. Von Gott her ist das möglich.
Das erste Wort im Buch des Propheten Jeremia heißt „Worte“. Das letzte Wort heißt „Leben“. Zusammengenommen also Worte zum Leben. Lebensworte wollen es sein, die er spricht. Lebensworte können sie sein auch für mich. Heute. 2016.
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird – der HERR ist unsere Gerechtigkeit. Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: „So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!“, sondern: „So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und heimgebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.“ Und sie sollen in ihrem Lande wohnen. (Jer 23,5-9)