Sekundenglück - Predigt zu Ps 16,5-11 von Christiane Quincke
16,5-11

Sekundenglück

Der Herr ist mein Gut und mein Teil; du hältst mein Los in deinen Händen!
Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land;  mir ist ein schönes Erbteil geworden.
Ich lobe den Herrn, der mich beraten hat; auch mahnt mich mein Herz des Nachts.
Ich habe den Herrn allezeit vor Augen; er steht mir zur Rechten, so wanke ich nicht.
Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich; auch mein Leib wird sicher wohnen.
Denn du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen
und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe.

Du tust mir kund den Weg zum Leben:
Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.

1.
Oma, I’m so happy, rief der 5jährige Tom, als er das erste Mal die Ostsee sah und umarmte seine Großmutter Karin. Er hatte gerade die ersten englischen Wörter gelernt. Einfach so. Niemand wunderte sich, warum er das auf englisch sagte. Warum auch. Er schien wirklich glücklich und überwältigt zu sein. Egal in welcher Sprache. I’m so happy.
Auch für Karin war das ein Glücksmoment. Oft versteht sie Tom nicht, vielleicht weil sie sich viel zu selten sehen oder weil er Autist ist und sie nicht – oder beides. Aber in diesem Moment waren sie beieinander. Verstanden sich bis in die kleinste Körperzelle hinein. Das Meer, der Sand, die Möwen, Wind und riesige Wolken. Wie aus dem Bilderbuch. Fast kitschig. Aber es war jetzt da – ganz echt. Ganz richtig. Ganz für sie beide: Oma Karin und Tom. Glücklich. Sekundenglück.

„Und du denkst, dein Herz schwappt dir über
Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt
Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente
Das ist, was man Sekundenglück nennt“
(Grönemeyer, Sekundenglück)

2.
Glück - ein großes Wort. Zu groß. Voller Sehnsucht. Und oft verkitscht.
Das Sekundenglück ist aber klein. Oft übersehen.
Nur du kannst es sehen, spüren, fühlen – in dieser Sekunde.
Nur du und vielleicht die andere Person, mit der du es erlebst:
dein Enkel, deine Freundin, dein Mann, deine Patientin, dein Kunde.

Wenn du es erlebst, spürst du es mit jeder Faser deines Körpers. Es ist Leben pur.
Jetzt - in dieser Sekunde. Du kannst es nicht festhalten. Genau das macht es aus.
Das Sekundenglück geht vorbei.

Es ist das Hüpfen über die Welle am Strand oder die Muschel, die du findest.
Es ist das eine Lied im Radio, das du jetzt brauchst.
Dein Tanz in der Küche. Der erklommene Berggipfel. Der Regenbogen.
Dein schlafendes Kind im Autositz. Oma, I’m so happy.
Es ist der gemeinsame Gesang von 1000en Menschen.
Das erlösende Handballtor. Der eine Videoclip. Die erste Erdbeere im Jahr.
Der Jupiter am Sternenhimmel. Und neben ihm der Mars.
Das Telefonat mit der Jugendfreundin nach vielen, vielen Jahren.
Das Grab der Mutter, an dem sich zwei Schwestern endlich wieder umarmen.

„Und du denkst, dein Herz schwappt dir über
Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt

Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente
Das ist, was man Sekundenglück nennt“

3.
Herbert Grönemeyer singt diese Worte seit 2018.
20 Jahre zuvor war seine erste Frau Anna gestorben.
Ihr Tod hatte ihn damals aus der Bahn geworfen.
Ein Jahr lang machte er nichts mehr mit Musik.
Kein Konzert. Kein Lied komponieren. Keinen Text schreiben.
Erst dann fing er langsam wieder an und fasste seine Trauer in neue Töne.
Zwei seiner bekanntesten Songs sind entstanden: „Mensch“ und „Der Weg“.
Und bis heute – 26 Jahre später – taucht die Trauer in seinen Songs auf –
und zugleich die wiedergefundene Lebensfreude.

Grönemeyer weiß, wie zerbrechlich Glück ist. Wie vergänglich.
Wie brutal der Tod. Und endgültig.
Grönemeyer weiß, wie kostbar deshalb jeder kleine Moment ist.
Wie kostbar und wie sehr zu genießen. Jetzt.
Das Sekundenglück, das das Leben ausmacht.

Wer Grönemeyer auf Konzerten erlebt hat (wie ich Anfang August in Karlsruhe),
weiß, wie ansteckend seine Lebensbegeisterung ist.
Ein Abend mit ihm ist Empowerment pur mit guter Laune und starker Botschaft.
Die Füße tun danach weh vom Tanzen, die Stimme ist rauh vom Mitsingen,
aber alle sind glücklich. Sekundenglücklich.

Die Psalmen der Bibel kennen das nur zu gut.
Sie sind voll davon: von Jubel bis in die Haarspitzen,
von tiefster Ergriffenheit und überschwänglicher Freude.

Mein Herz und meine Seele sind fröhlich; auch mein Leib
Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne

So jubelt der 16. Psalm.

Und du? Jubelst du mit?

4.
Oder fällt es dir heute nicht leicht?
Vielleicht machen dir die Ergebnisse der Landtagswahlen vor zwei Wochen Sorge.
Und die bevorstehende Landtagswahl am kommenden Wochenende (22.9.) auch.
Mir geht es jedenfalls so.
Mich bedrückt insgesamt die politische Stimmung in unserem Land sehr.
Dieses Die da oben machen alles falsch. Und vielleicht stimmt davon vieles sogar.
Mich bedrückt es, dass immer mehr jesidische und iranische Geflüchtete abgeschoben werden, obwohl es in ihrer alten Heimat immer noch gefährlich für sie ist.
Ich sehe die Reflexe auf den grausamen Terrorakt in Solingen:
das Asylrecht wird in Frage gestellt und die Menschenwürde versinkt im Mittelmeer.
Ich mach mir Sorgen um meine Kirche:
schafft sie es, wirklich und ernsthaft das Thema „Sexualisierte Gewalt“ anzugehen?
Und ich mach mir Sorgen um die vielen sehr belasteten Familien, um ihre Kinder:
sie stehen immer mehr unter Druck und haben Angst vor der Zukunft.
So wie Oma Karin: ihr Enkel Tom – wird er eine Schule finden, die zu ihm passt?
Kann er überhaupt mal so leben, dass er sich nicht verbiegen muss?
Wie kann sie seine Eltern noch besser unterstützen, auch wenn sie so weit weg wohnen?

All diese Gedanken hat Karin.
Dennoch ist sie in diesem einen Moment mit Tom glücklich.
Dieses Sekundenglück will sie wach halten. Sich daran erinnern.
Mit der Muschel z.B., die sie mit Tom gefunden hat.
Wenn sie diese in der Hand hält, riecht sie wieder die Ostsee.
Sie hört die Möwen und die Wellen. Sie fühlt den Arm von Tom um ihren Hals.
Ja, die Sorgen sind dann noch da, aber sie füllen sie nicht mehr allein aus.
Und sie weiß ganz genau: in diesem Sekundenglück mit Tom – da war auch Gott dabei.
Gott ist da und die Muschel in ihrer Hand erinnert sie auch daran.
Aber reicht das, wenn die Sorgen wieder Überhand gewinnen: ist Gott dann auch da?

5.
Ich habe den Herrn allezeit vor Augen – singt der 16. Psalm.
Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, du bist bei mir – diese Worte lese ich im 23. Psalm. 
Ja, unsere Psalmisten kennen nicht nur die freudigen und wonnigen Momente,
sondern auch die dunklen Täler, die Angst, die Verzweiflung.
Auch dann lassen sie Gott nicht los.
Du bist bei mir. Du musst bei mir sein. Gott, es ist deine Aufgabe!

Du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen
und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe.

Wow, denke ich dann. So möchte ich auch mit Gott rechnen. Im Guten wie im Schlechten.
Das Sekundenglück aus der Hand der Ewigen nehmen
und ihre Nähe spüren, wenn das Glück zerbricht.
Ich will in Gutem und Bösen, das mir geschieht, verbunden bleiben -
mit Gott, mit mir und mit meinen Lieben.

Denn ja, das ist das Leben, das du, Gott, mir schenkst:
ein Leben voller Glückssekunden und zugleich endlich, zerbrechlich, begrenzt.
Weil es so begrenzt und zerbrechlich ist, sind die Glückssekunden umso wichtiger.
Das Sekundenglück trägt auch dann, wenn es nicht mehr da ist.
Weil du, Gott, immer noch da bist.

6.
„Und du denkst, dein Herz schwappt dir über
Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt
Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente
Das ist, was man Sekundenglück nennt“

Sekundenglück, das trägt. Ob das geht?

Auf YouTube schreibt eine Sekundenglück-Hörerin:
Wir haben dieses Lied bei der Beerdigung meiner Mutter gespielt.
Eine Frau, die 2018, in dem Jahr, in dem das Lied veröffentlicht wurde, eine Krebsdiagnose bekam und 4 Jahre gegen diesen Krebs gekämpft und leider verloren hat.
Sie hatte es im Leben oft schwierig, da ihr Mann bereits 1992 starb
und sie nun mit 4 kleinen Kindern alleine war.
Trotzdem hat sie immer versucht, das Beste aus ihren schwierigen Situationen zu machen.
Auch im Kampf gegen den Krebs versuchte sie immer schöne Momente zu haben
und das Leben zu genießen. (…)
Ihre letzten Worte am Sterbebett waren: "Alles ist gut!“

Oma, I’m so happy!

Wenn die Sorgen um die junge Familie zu groß werden,
erinnert sich Karin an diesen Satz von Tom.
An seine Arme, an den Geruch vom Meer.
Sie erinnert sich daran, dass Gott in diesem Moment da ist
und darum auch da sein wird, wo es schwer ist.
Dieses Sekundenglück hilft ihr, nicht aufzugeben und der jungen Familie zu helfen.
Hilft mir, zu weiteren „I’m so happy“ beizutragen.
Dieses Sekundenglück hilft mir, mich weiterhin für die Menschenwürde einzusetzen
und für eine Kirche, die glaubwürdig ist.

Denn das Sekundenglück ist von Gott getragen.
So wie auch das zerbrochene Glück.

Ja, du bist da, Gott. Immer. Auch jetzt.
In diesem zerbrechlichen, endlichen Leben voller Sekundenglücksmomente.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Christiane Quincke

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe Menschen vor Augen, die die angespannte politische und gesellschaftliche Situation (zwischen den Landtagswahlen) als belastend erleben, insbesondere junge Familien – aber auch alle, die sich kaum trauen, ihre kleinen Glücksmomente wahr- und anzunehmen. Der Sommer geht zu Ende und mit ihm vielleicht auch eine gewisse Leichtigkeit.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Tatsächlich war ich Anfang August auf einem Grönemeyer-Konzert und habe mir danach wieder einige seiner Songs angehört. Dabei bin ich wieder auf „Sekundenglück“ gestoßen, bei dem ich dieselbe Haltung wie von Psalm 16 entdeckte. Es reizte mich diese Leichtigkeit aufzunehmen und nicht automatisch mit dem Thema „Auferstehung“ zu kombinieren, sondern die Vielschichtigkeit der Psalmen zu Wort kommen zu lassen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ps 16, 8 inspirierte jüdische Menschen im 18./19. Jahrhundert zum Brauch der sog. „Schiwiti“, kontemplative Gebetsbildchen (vgl. Predigmeditationen im christlich-jüdischen Kontext zur Perikopenreihe 6, Berlin 2023,  S. 389ff). Ich nahm die Anregung von Evelina Volkmann auf, nach ähnlichen Erinnerungsstützen für Gottes Nähe zu suchen. Auch der Gedanke, dass Psalm 16 nicht auf das „Jenseits“ zielt, sondern auf das sinnerfüllte Leben jetzt, wurde durch die Lektüre der Predigtmeditationen gestärkt.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe die Angewohnheit, ziemlich häufig „und“ zu verwenden. Meine Coach wies mich darauf hin und ermutigte mich, Sätze nochmal neu zu formulieren: kürzer, prägnanter, ohne allzu viele Füllwörter. Außerdem war ich dankbar für Ihre kritischen Fragen zu manchen Behauptungssätzen, die mich dazu veranlassten, entweder auf diese zu verzichten oder sie so zu formulieren, dass sie nachvollziehbar sind. Danke dafür!

Perikope
15.09.2024
16,5-11