Spazierengehen soll ein Unterrichtsfach an der Universität sein?
Ich habe es erst nicht geglaubt, als ich es neulich in der Zeitung las. Im Lokalteil.1
Und ja, es stimmt. Das, was viele von uns in ihrer Freizeit tun, um mal frische Luft zu schnappen, sich ein bisschen zu bewegen, den Gedanken nachzuhängen, Tiere zu beobachten oder einen schönen Ausblick zu genießen, das ist ein Unterrichtsfach an der Uni in Kassel.
Lucius Burckhardt, Soziologe und Professor für Landschaftsplanung, fand in den achtziger Jahren, dass seine Studenten nicht länger nur am Schreibtisch sitzen sollten. Die zukünftigen Gestalter von Städten und Landschaften sollten direkte Erfahrungen mit ihrem Studienobjekt sammeln. Um sich eine Gegend zu erschließen, so entschied er, muss man sich in ihr bewegen. Also rein in die Wanderschuhe und raus ins Freie.
Die Studenten fanden schnell heraus: In langsamer Bewegung zeigen sich Räume in der Natur überraschend anders als am Reißbrett oder beim Durchfahren mit dem Auto oder gar dem Überfliegen mit dem Flugzeug.
Erstaunlich, denn man denkt oft, man kenne alles in seiner täglichen Umgebung. Wirklich Neues gebe es nur in fremden Gegenden.
Aber wir Spaziergänger haben meist noch nie darüber nachgedacht. Wir suchen zwar immerzu nach Entdeckungen, die das Leben interessanter machen, suchen nach Anderem und Neuem, das uns hilft, dem Alltagstrott zu entkommen. Aber wir vermuten nicht, es auf einem Spaziergang in die nähere Umgebung zu finden. Eher auf einer Reise an unbekannte Orte.
Also rein in die Reiseklamotten und raus in ferne Länder. Das Geschäft mit dem Tourismus boomt. Und dann findet man sich in einer All-inclusive-Hotelanlage wieder und alles ist wie hier: Die Unterhaltung, die Speisekarte, die Leute und Deutsch wird auch überall gesprochen. Nur den Ort zu wechseln ist also keine Garantie für eine Entfernung vom Alltag.
Anders sein, neu sehen - das ist besonders über Verlangsamung möglich, meinte Professor Burckhardt. Das Andere beginnt vor der Haustüre.
Wer meint, er hätte daheim alles gesehen und müsse darum weit weg reisen, um sich zu finden, der irrt. Unser oberflächlicher Blick sieht nur nicht, was um uns herum geschieht. Und so erfindet der Professor die „Spaziergangswissenschaft“, die „Promenadologie“.Und die wird eben in Kassel gelehrt.
Durch langsames Wandern kann ich eine Landschaft erfahren. „Reflexive Spaziergänge“ nannte Burckhardt das.
Ich erlebe mit allen Sinnen, was da los ist. Wohin schaue ich, wenn ich gehe? Wie fühlt sich die Luft an, wie der Belag unter meinen Füßen? Höre ich einen kleinen Bach neben dem Fußweg oder rauscht da eine Autobahn durch?
Kann der Blick ins Weite gehen, vielleicht auf eine Bergkette oder eine große Wiese? Stehen da Häuser, die den Blick anziehen?
Was bedeutet es, wenn ich durch Brachland gehe, in dem vielleicht eine Industrie ihre Spuren hinterlassen hat?
Ist die Landschaft schön? Warum? Warum nicht?
Wie riecht es hier auf der Wiese und dort, wo der Busbahnhof beginnt?
Wie sind die Bilder, die ich sehe, geprägt durch innere Bewertungen und weniger durch Erleben? Was sehe ich heute neu oder anders als gestern?
Vielleicht lohnt sich ein solcher Blick beim nächsten Spaziergang.
Dazu braucht man Zeit. Sonst begreift man nicht, was man sieht.
1802 meinte der Schriftsteller Johann Gottfried Seume, einer, der in seinem Leben viel gewandert ist: „Vieles würde bessergehen, wenn man mehr ginge.“ Und da kannte man noch keine Autos und Flugzeuge.
Das heißt, ein tieferes Verständnis des Lebens entsteht da, wo ein Mensch die Langsamkeit entdeckt.
Und nun hören wir den biblischen Text für heute:
„Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst - er weiß nicht, wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre." (Mk 4,26-28)
Es könnte sein, dass der Schriftsteller, der Professor und Jesus sich was zu erzählen hätten. Sie teilen nämlich ein Geheimnis, das einer Erfahrung entspringt, die wir in unseren Breitengraden immer mehr vernachlässigen. Es ist das Vertrauen darauf, dass Langsamkeit, dass Wahrnehmen und Geschehen-lassen nicht nur Zeit schenken, sondern „Frucht bringen“, im wahrsten Sinne des Wortes.
Das ist das Gegenteil von dem, was heute gewöhnlich Anerkennung erzeugt und als zielführend betrachtet wird. Das Leben auf der Überholspur in der Arbeit, in der Partnerschaft, in der Kindererziehung, im Urlaub und sinnfällig: im Straßenverkehr. Wartezeit ist vergeudete Zeit. Zeit ist Geld.
Der Bauer im Gleichnis weiß, dass er sich Zeit nehmen muss, um rechtzeitig zu säen. Und dass er sich Zeit nehmen muss, wenn er gesät hat. Die Halme wachsen von allein.
In dem Bild Jesu: Das eine gehört zu unseren Aufgaben und das andere in den Bereich Gottes.
Gottes Reich kommt von allein und wir wissen nicht wie. Es ist gut, das zu unterscheiden. Auch wenn es so aussieht, als sei die Ernte ein Erfolg des Bauern. Das Eigentliche, das Wachsen und Fruchtbringen bewirkt Gott.
Manche Dinge müssen reifen, sonst werden sie nichts.
Der moderne Mensch - besonders, wenn er an den Schalthebeln der Macht sitzt - fragt: Wieviel Zeit habe ich investiert, wieviel Geld hat das gekostet, wie kann das schneller gehen? Denn das bringt Gewinn.
Wir vermessen die Welt und denken, wir hätten sie begriffen.
Entgegen dieser einseitigen Sicht der Wirklichkeit wirkt Gott im Verborgenen. Die angemessene Haltung dazu ist wahrnehmen und staunen.
Staunen heißt: sich überraschen zu lassen, mit Wundern zu rechnen. Was Gott tut, entzieht sich unserem Zugriff.
„Nacht und Tag; der Same geht auf und wächst – und er weiß nicht, wie.“ (Mk 4,27)
Das Gleichnis macht nicht die menschliche Arbeit schlecht, sondern weist ihr einen Rahmen zu.
Es ist gut, etwas zur rechten Zeit zu tun. Aber unsere Mühe hat ihre Grenze.
Wir Menschen haben Grenzen. Zum Wunder des Lebens, zum Wunder der Natur haben wir nichts beigetragen. Wir dürfen sie gestalten, aber mit ihr, nicht gegen sie.
Darum ging es Lucius Burckhardt, denn es ist etwas Anderes, in einer Landschaft zu sein, sie wahrzunehmen, sie zu bestaunen und zu erleben, welches Geschenk wir an ihr haben, als sie am Reißbrett zu durchschneiden und zu formen und unseren manchmal sehr kurzsichtigen Zwecken unterzuordnen. Im langsamen Spazieren kann man sich dem Geheimnis annähern. Im hastigen Durcheilen entgeht einem das Wichtigste.
Könnte man nicht sagen, dass das ganze Leben ein Einüben in die Zeit Gottes sein sollte, ein Spaziergang, der uns entdecken lässt, was Gott mit uns zu tun hat, was er von uns will?
Wenn Jesus in diesem Zusammenhang vom Gottesreich redet, dann geht es ihm aber noch um mehr. Er erwartet, dass ein besseres, neues Leben beginnt, in dem Raum und Zeit einen anderen Stellenwert haben als jetzt.
Mich spricht dieses Gleichnis an, weil sich in ihm die Hoffnung, die Christen teilen, ausdrückt. Das Reich Gottes wird kommen, Friede wird sein, Gerechtigkeit und alle Lebewesen werden Gottes Schutz genießen. Der Tod wird nicht mehr sein.
Und dieses Gottesreich kommt von allein.
So entlastet das Gleichnis den, der meint, aller Erfolg hinge allein von seinem Mühen ab.
Es entlastet den, der sich in einem schmerzhaften Konflikt befindet und meint, alles müsse schnell wieder gut sein.
Es nimmt den Druck von den Schultern und gibt Luft zum Atmen.
Und dann - im Vertrauen auf Gottes selbstwachsendes Reich - hat es Sinn, dass wir uns aktiv, aber auch mit Selbstbegrenzung für diese Welt einsetzen, in der viele Menschen und andere Geschöpfe immer noch so unglaublich leiden.
Worte, Geschichten und Symbole der Bibel wollen dieses Vertrauen bekräftigen. Nicht zuletzt darum sind wir heute hier und feiern Gottesdienst.
1„Spazierengehen als Bestandteil der Planung“, Hessisch-Niedersächsische Allgemeine vom 13.01.2017