Liebe Universitätsgemeinde,
irgendwann hielt er die Ungewissheit nicht aus, die Angst, ob sie ihn auch holen und verhaften, wie einige seiner Freunde. Ob sie ihn vermutlich foltern oder sogar töten würden? Dabei hatte er, Talal, eigentlich nicht viel gemacht. Er hatte sich an drei oder vier Demonstrationen beteiligt und ein Flugblatt mit verfasst, damals vor ungefähr dreieinhalb Jahren in Aleppo, als er studiert hat. Später hat er ganz in der Nähe in einer Baumschule eines Freundes gearbeitet, es scheint ihm nun alles eine Ewigkeit her zu sein. Zudem konnte man an Hand seines Passes seine christliche Identität erkennen. Weniger auf Grund des Namens, aber sein Geburtsort, ein Dorf, in dem fast nur Christen wohnen, machte dies deutlich. Da in der Nähe islamistische Milizen operierten, drohte ihm auch hier Gefahr. Er wollte weder den Sicherheitsbehörden von Assad noch diesen Milizen in die Hände fallen. So entschloss er sich zur Flucht. Schweren Herzens ließ er seine Mutter und die Familie seiner Schwester im Dorf zurück. Vielleicht wird er ihnen in Zukunft helfen können, aber in Syrien zu bleiben, das war ihm nicht mehr möglich. Er konnte kaum noch schlafen, jedes ungewohnte Geräusch in der Nacht schreckte ihn auf, die Angst legte sich auf ihn wie eine schwere Last.
Seine Geschichte erzählte mir Talal Ende des letzten Semesters, Anfang Juli, in meiner Sprechstunde. Man hat ihn zu mir als einem Vertrauensdozenten der Hans-Böckler-Stiftung geschickt, um ein Gutachten über seine Studierfähigkeit zu erstellen. Obwohl er schon ein knappes Jahr in Deutschland war und auch gut deutsch spricht, wollte er keinen Asylantrag stellen. Ein Asylantrag – vermutlich wäre er anerkannt worden – hätte es ihm jedoch unmöglich gemacht, in absehbarer Zeit zu einem Besuch nach Syrien zurückzukehren. Er hätte seine Mutter und die Familie der Schwester kaum wiedersehen können. Mit einem Studentenvisum in Deutschland zu studieren, das war nun sein Traum. Optimal wäre es, eines der begehrten Stipendien für geflüchtete Studenten zu erhalten. Er könnte sich dann ganz auf sein Studium konzentrieren, etwas Geld zurücklegen, um seine Familie zu unterstützen – und sie idealerweise im nächsten Jahr besuchen. Auf meine erstaunte Nachfrage erklärte er mir, dass es möglich sei, als Besucher nach Syrien zurückzukehren. Als Student mit einem syrischen Pass und einem Visum als Student in Deutschland könnte er die Kontrollen wohl ganz gut passieren, ein gewisses Risiko sei natürlich dabei, aber er wolle es versuchen.
Sicher zu wohnen, das ist für die meisten Menschen in Syrien kaum vorstellbar, für viele völlig unmöglich, wie es die dramatischen Bilder und Nachrichten aus Aleppo gerade in den letzten Tagen und Wochen uns eindrücklich zeigen. Sicher zu wohnen, das ist für die Menschen dort wie ein Traum, eine Utopie.
Zur Zeit des Propheten Jeremia war es im Königreich Juda in vielerlei Hinsicht ähnlich. Immer wieder zogen die Truppen der Babylonier heran, nahmen Städte und Dörfer ein und zerstörten sie. Jerusalem wurde zunächst nicht erobert, das dauerte noch einige Zeit. Zwischenzeitlich waren auch die Ägypter mit ihm Spiel. Sollte und konnte man sich auf sie als Schutzmacht verlassen? So dachten und hofften viele in Jerusalem. Zudem war Jerusalem der Berg Zion, er stand unter dem Schutz Gottes, war uneinnehmbar und sicher. Nur Jeremia, der Störenfried, und ein paar andere, die ihre Hand schützend über ihn hielten, sie sagten immer wieder den Untergang Jerusalems an.
Sicher zu wohnen, das war in jenen Zeiten in Jerusalem nicht denkbar. Was blieb?
Als Baruch, der Schreiber der Prophetenworte des Jeremia, um ein Trostwort von Gott bat, erhielt er nur die Zusage, dass er mit dem nackten Leben davonkommen würde, nicht mehr und nicht weniger.
Sicher zu wohnen, das klang für die Menschen zur Zeit des Jeremia wie eine Utopie, wie eine Hoffnung für eine ferne Zukunft, wenn alles noch einmal ganz anders werden würde. Durch einen neuen König in der Tradition Davids, ein „Spross Davids“, wie es in der Übersetzung Luthers heißt.
Sicher zu wohnen – wenn ich an Talal und die Menschen in Aleppo und in weiten Teilen Syriens denke oder an die Zeitgenossen des Jeremia, dann können wir nur dankbar sein dafür, dass und wie sicher wie wohnen. Aber auch bei uns gibt es Menschen, deren Denken und Fühlen von Unsicherheit bestimmt ist, die Angst haben und meinen, nicht sicher wohnen zu können. Wir können das leicht als ein Luxusproblem ansehen, verglichen mit dem, was andere Menschen durchmachen müssen. Verglichen mit der Situation zur Zeit des Propheten Jeremia oder dem, was in Syrien, im Irak oder in einigen Gebieten in Afrika tagtäglich an Gewalt und Unrecht geschieht.
Ich wohne in einem Stadtteil, in dem relativ viele ältere Menschen wohnen, die meisten sind wohl Rentner. Immer wieder, wenn ich mit unseren Hunden spazieren gehe, sprechen mich einige an und erklären, dass sie froh sind, dass wir die Hunde haben, dass man die sieht und manchmal auch hört. Die Hunde sollten ruhig etwas öfter bellen, weil dies wahrscheinlich am besten Einbrecher abschrecken könnte. Einbrüche sind in unserer Straße noch nicht vorgekommen, aber ein paar Straßen weiter, da ist es schon passiert, und die Angst, dass es auch in unserer Straße vorkommen kann, ist für viele sehr real.
Sicher zu wohnen – bei uns ein Luxusproblem? Ja, sicherlich, aber immerhin doch auch ein Problem. Auch hier in Bochum, wie der Kollege Thomas Feltes, ein Jurist und Kriminologe, in einer Langzeitstudie gerade wieder empirisch festgestellt hat. Noch nie hatten in Bochum so viele Menschen die Angst, Opfer einer Straftat zu werden, einer Körperverletzung oder eines Einbruchs, wie gegenwärtig. Und noch nie haben sich die Menschen hier in Bochum so sehr davor zu schützen versucht, noch nie gab es so viele Türen- und Fenstersicherungen, noch nie so viele Versuche, sich selbst zu schützen. Rund ein Viertel der Befragten sagte, dass sie sich mit Elektroschockern oder Pfeffersprays zur Verteidigung gewappnet haben.
Sicher zu wohnen, das ist offensichtlich ein Grundbedürfnis von uns Menschen, ein Bedürfnis in einem ganz elementaren, wortwörtlichen Sinn. Sicherheit als Schutz vor Bedrohungen. Aber natürlich gibt es darüber hinaus viele weitere Sicherheitsbedürfnisse: Die Hoffnung auf einen guten, vor allem einen sicheren Arbeitsplatz, verlässliche Verbindungen zu anderen Menschen, in der Familie und im Freundeskreis, in der Beziehung. Weil wir wissen, wie verletzlich wir sind, ist Sicherheit ein hohes Gut. Von der eigenen Wohnung über den Arbeitsplatz und die soziale Sicherheit bis hin zu den persönlichen Beziehungen. Sicherheit ist zu einem Grundwert geworden, und es ist nicht gut, wenn wir in der Kirche dieses Bedürfnis nicht ernst nehmen. Es oberflächlich zu relativeren versuchen, weil es ja eine letzte Sicherheit nicht geben kann, weil Sicherheit – wie es etwas Dietrich Bonhoeffer gesagt – kein Weg zum Frieden, kein Weg zu einem guten Leben sein könnte. Der Prophet Jeremia hat das anders gesehen. Das Ziel, sicher zu wohnen, ist ihm wichtig, ist Ausdruck der Hoffnung auf eine künftige, bessere Zeit.
Doch wie kann es dazu kommen, dass wir sicher wohnen? Ist das nur eine Utopie oder theologisch gesprochen: eine Hoffnung für das Reich Gottes? Was muss geschehen, damit wir sicher wohnen können?
Da muss einer kommen – der Ordnung schafft? Das ist die Parole, die wir immer lauter und immer häufiger hören, bei uns und anderswo. Ordnung schaffen in dieser komplizierten Welt, in der es schwer fällt, sich zu Recht zu finden. Der Ruf nach Ordnung, er findet immer mehr Gehör. Und das Versprechen, endlich Ordnung zu schaffen, wird geradezu sehnsüchtig erwartet und aufgenommen, viel mehr, als wir – Studierende und Lehrende an einer Universität – es uns vorstellen können und wollen. Wir sind irritiert, wenn in der Welt „dort draußen“ so viele diesem Ruf folgen und sich mit dieser Parole Mehrheiten gewinnen lassen.
Es muss einer kommen – das ist auch die Botschaft des Jeremia. „Es soll einer kommen, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Dann wird Juda geholfen werden und dann wird Israel sicher wohnen.“ (Jer 23,5f)
Recht und Gerechtigkeit sind der Weg, um einen Zustand herbeizuführen, dass man sicher wohnen kann. Nur dort, wo das Recht geachtet wird, wo alle Menschen zu ihrem Recht kommen können – nur dort kann ein sicheres Leben für alle entstehen. Verlässliches Recht für alle: für Arme wie für Reiche, für Einheimische wie für Fremde – das ist die Perspektive, die Jeremia seinen Zeitgenossen als Zukunftshoffnung aufgezeigt hat. Die Regeln des Rechts einzuhalten, das Recht durchzusetzen – das sind die grundsätzlichen Standards, die Jeremia „wohl regieren“ nennt. Wir sprechen heute von „good governance“, das ist die Bedingung für Frieden und Entwicklung, für eine gute Wohlfahrt, die allen nützt.
Über die Geltung des Rechts hinaus geht die Suche nach Gerechtigkeit: die Versuche, das Recht immer wieder zu verbessern, es weiter zu entwickeln, um dort Verlässlichkeit zu schaffen, wo das Recht nicht mehr oder noch nicht richtig greift.
Bundesfinanzminister Schäuble hat auf der diesjährigen EKD-Synode vor vierzehn Tagen in Magdeburg das Grußwort für die Bundesregierung gesprochen. Dabei sagte er sinngemäß: der Staat sei für Recht und Gerechtigkeit zuständig und die Kirche für die Barmherzigkeit. Diese Aussage rief unmittelbare Reaktionen, Räuspern und leise gesprochene Worte des Unwillens hervor. Beides schiedlich-friedlich trennen, das Recht beim Staat, die Barmherzigkeit bei der Kirche?
Auch das Recht und die Gerechtigkeit können und sollen sich immer wieder an der Barmherzigkeit orientieren und dadurch zu einer besseren Gerechtigkeit, zu einem besseren Recht werden. So hat es Jesus immer wieder eingeschärft, wenn er seine Jünger zur besseren Gerechtigkeit aufgerufen hat: „Es sei denn eure Gerechtigkeit besser als die der Schriftgelehrten und Pharisäer“, heißt es in der Bergpredigt (Mt 5,20).
„Besser“, nicht ganz anders. Die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer ist keineswegs schlecht, aber sie kann besser gemacht werden. Der Komparativ ist hier das Entscheidende. Einen Schritt weiter gehen zu mehr Recht und Gerechtigkeit, wie es dem Willen Gottes entspricht.
Wenn wir als christliche Kirche den Text des Jeremia im Advent aufnehmen und damit auf Christus beziehen, dann ist er derjenige, der kommen soll, der gekommen ist, der wohl regiert und der Recht und Gerechtigkeit übt. Der uns überhaupt erst zeigt, was Recht und Gerechtigkeit bedeuten können.
Recht und Gerechtigkeit im Sinn Jesu üben, das kann heißen: Barmherzigkeit über das Recht zu stellen. Nicht den ersten Stein zur Verurteilung zu werfen.
Das kann heißen: sich durch die Not eines Menschen in seinen Routinen unterbrechen zu lassen, auf den in Not Geratenen zuzugehen, ihm wieder aufzuhelfen, wie es der barmherzige Samariter getan hat.
Recht und Gerechtigkeit müssen geübt, eingeübt werden, immer wieder neu. Und sie können und sollen sich durch die Barmherzigkeit anregen lassen. Insofern ist eine einfache Gegenüberstellung von Recht und Gerechtigkeit einerseits und Barmherzigkeit andererseits zu einfach. Es ist nicht statisch nebeneinander zu stellen. Die Praxis und die Lehre Jesu zeigen hier eine andere, eine bessere Perspektive auf. Und weil er derjenige ist, auf den Jeremia letztlich hingewiesen hat, der kommen soll, um Recht und Gerechtigkeit zu üben, ist er derjenige, der uns zeigt, wie es möglich ist, dass Menschen sicher wohnen.
Sicher zu wohnen, für allzu viele Menschen ist dies ein Traum, eine ferne Sehnsucht.
Sicher zu wohnen, das ist unter den Bedingungen dieser Welt mit der menschlichen Fehlbarkeit und Schuldverstrickung etwas, das wir nicht vollumfänglich verwirklichen können. Es bleibt eine Hoffnungsperspektive, letztlich die Hoffnung auf das Reich Gottes. Und doch kann bruchstückhaft und zeichenhaft immer wieder ein Licht dieser großen Hoffnungsperspektive auf unsere Wirklichkeit fallen.
Als im letzten Jahr Deutschland angesichts einer dramatischen Notsituation sehr viele Flüchtlinge aufgenommen hat, ohne in allen Details dies mit den EU-Nachbarn abzusprechen und ohne alles genau überprüfen zu können, da ist es gelungen, eine von der Barmherzigkeit inspirierte Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit aufzuzeigen und zu verwirklichen. Dass dies kein Dauerzustand sein kann, war und ist den meisten klar. Aber es war richtig und gut, in dieser Notsituation so zu handeln, wie es die Bundesregierung – und damit auch Wolfgang Schäuble – getan hat. Auf diese Weise ist in unserem Land – unterstützt durch enorm viel spontane Hilfsbereitschaft überall – etwas von dem verwirklicht worden, was Jeremia „wohl regieren“ genannt hat. Ein solches Handeln ist das, was dazu verhilft, damit Menschen sicher wohnen können. Und dies muss für alle gelten, denn nur wenn sich Menschen in ihren Sicherheitsbedürfnissen ernst genommen fühlen und in ihrem Gemeinwesen erleben, dass sie wohl regiert werden, können sie sich anderen zuwenden und ihnen helfen, sicher zu wohnen.
Übrigens, Talal hat ein Stipendium erhalten. Seit diesem Wintersemester studiert er an einer Universität in Norddeutschland. Ich hoffe, dass es ihm dort gut gehen wird und dass er sein Studium erfolgreich durchführen kann. Und vor allem, dass er auch seine Mutter und die Familie seiner Schwester unterstützen kann. Und vielleicht sogar im nächsten Jahr, wenn es nicht zu riskant ist, sie dort besuchen wird.
Sicher zu wohnen – das ist für Talal Realität geworden, dank des guten und großzügigen Rechts, das er hier bisher erfahren hat. Natürlich, es bleibt für ihn bedrängend, dass seine Angehörigen nicht sicher wohnen, dass er sich um sie sorgen muss. Und auch wir, in unserer relativ großen Sicherheit, sind beunruhigt und fühlen den Schmerz anderer, wenn wir von ihrer Not hören. Oft können wir nur hilflos an sie denken, für sie beten, und immer wieder Versuche starten, damit es auch für sie besser werden kann, um sicherer zu wohnen.
Sicher zu wohnen – das ist ein Grundbedürfnis von uns allen. Im Hören auf den Propheten Jeremia wissen wir, wies es gehen kann: Durch das Üben von Recht und Gerechtigkeit, immer wieder inspiriert von der Barmherzigkeit. Jesus hat dies gelebt und gelehrt, er ist der Garant der Hoffnung, sicher zu wohnen. „Seine Name ist: Der Herr ist unsere Gerechtigkeit.“(Jer 23,6) Amen.