Sie lobten Gott um Mitternacht! - Predigt zu Apostelgeschichte 16, 23-34 von Kirstin Müller
Singet dem HERRN ein neues Lied, denn er tut Wunder! - Kantate ist der lateinische Lobliedname (Psalm 98,1) dieses Sonntags. Singt der EW‘GEN ein neues Lied, denn sie tut Wunder! Wirkt der alte Lobgesang neu, wenn der Gottesname weit(er) gedacht und ausgesprochen wird? (Für alle, die keine Vorbehalte gegen „Gendersprech“ haben.) Ich nehme die Überschrift des Sonntags als Leitmotiv und frage: Wie lässt sich ein altes Lied, ein Psalmengesang neu singen? Braucht es immer einen veränderten Text? Eine andere Melodie? Oder hängt es auch davon ab, wann und wo es gesungen/angestimmt wird? So schaue ich auch auf (Tages)zeiten in Apg 16,23-34 und erweitere den Perikopenblick auf das gesamte Kapitel 16.
Singet ein neues Lied. Was macht ein Lied neu? Ein Text, eine Melodie, ein Rhythmus? Oder kann auch ein altes Lied neu klingen und wirken, je nachdem, wann und wo es angestimmt wird?
Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Um Mitternacht stimmten die beiden Apostel Lobgesänge an. Um die Zeit, in der im Dunkel der Nacht ein neuer Tag anbricht. Sehr wahrscheinlich sind es vertraute Lieder, denn: Paulus und Silas sind eingesperrt, liegen nackt und geschlagen im dunkelsten Teil eines Gefängnisses. Die Füße in Ketten gelegt.
Gut, dann Lieder zu haben. Gemeinsam singen zu können. Auswendig. Wie sonst?! Sich ins Vertraute schmiegen zu können. Linderung in Zeiten der Not.
Stark, in solch einer Situation Gott loben zu können. Hymnen anzustimmen: Ich lobe meinen Gott, von ganzem Herzen (EG 272)
Lassen Sie das Bild einen Moment auf und in sich wirken: Im Dunkel der Nacht sitzen zwei Männer im fremden Land im Gefängnis, angekettet, wahrscheinlich vor Schmerz und Kälte zitternd und singen – so gut es in dieser Situation geht: Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen, erzählen will ich von all seinen Wundern und singen seinem Namen…... Ich freue mich und bin fröhlich, HERR in Dir, Halleluja!
Das Bild entfaltet Kraft, oder? Mitten in der Nacht, wenn alles finster ist, wenn Schmerz und Kälte besonders spürbar sind und ich nichts dagegen tun kann, wenn ich festsitze, wenn andere über mein Wohlergehen bestimmen, wenn mir um Trost bang ist und ich gar nicht weiß, was kommt, dann ein Halleluja anzustimmen, von der Freude an Gott zu singen…
Ich weiß gar nicht, ob mir das in den Sinn käme, ob ich das könnte. Mir wären wahrscheinlich Heulen, Zähneklappern und Klagen näher.
Paulus und Silas hingegen können das, Lobgesänge anstimmen. Und die Apostelgeschichte erzählt, dass das tatsächlich Kraft entfaltet.
Lassen Sie uns aber zunächst einmal schauen, wie und warum die beiden im Gefängnis gelandet sind.
Paulus und Silas, zwei, die losgezogen und ausgesandt sind, um neue Gemeinden im Glauben zu stärken. Sie haben große Teile von Syrien und der heutigen Türkei (damals hießen die Gegenden noch Zilicien, Galatien, Mysien) durchwandert, sind ans Mittelmeer gelangt, haben ein Boot bestiegen, um dann über Samothrake auf die andere Seite des Ägäischen Meeres zu fahren. So erreichen sie Philippi, damals eine römische Kolonie in Makedonien, Griechenland. Mit freudigen Ohren gehört, klingt das nach einer tollen Urlaubstour. Mit politisch wachen Ohren gehört nach einer gefährlichen Fluchtroute.
Tatsächlich betreten beide in Philippi Neuland. Hier im 16. Kapitel der Apostelgeschichte wird erzählt, wie das Evangelium nach Europa kommt. Es ist also eine Anfangsgeschichte.
Was tun Paulus und Silas im Neuland? Sie halten nach Vertrautem Ausschau.
Am Sabbat suchen und finden sie einen Gebetsplatz vor dem Stadttor am Fluss. Der neue Christusglaube breitet sich im Umfeld von Synagogen und jüdischen Glaubensgemeinschaften aus. Sie treffen auf Frauen und finden Gehör, denn was sie ihnen sagen, tut ihre Herzen auf. Schon bei dieser ersten Begegnung begeistern Paulus und Silas die gottesfürchtige Lydia derart, dass sie sich taufen lässt, gemeinsam mit allen, die zu ihrem Haushalt gehörten. Paulus und Silas sind schnell angekommen, angenommen, aufgenommen. Sie erfahren von Lydia Anerkennung und Gastfreundschaft. Sie nötigt beide, bei ihr zu wohnen. Eigentlich ist alles gut, mehr als gut im Neuland.
Paulus und Silas erregen Aufsehen.
Während sie durch die Straßen der Stadt gehen, folgt ihnen eine Sklavin, die wahrsagen kann, einen Wahrsagegeist hat, wie es heißt. Sie schreit unablässig: Diese Menschen stehen im Dienst des HÖCHSTEN, sie verkündigen Euch den Weg des Heils.(16,17) Das stimmt. Diese Sklavin, deren Namen wir nicht erfahren, erkennt Paulus und Silas als Glaubensverkündiger. Sie macht das öffentlich bekannt. Mehr noch: Sie schreit es ins Neuland hinein. Viele Tage lang geht das so. Immer rennt sie hinter ihnen her und schreit. Wie oft, wie lange, wie laut darf das, was stimmt, die Wahrheit also, ausgesprochen werden ohne zu verstören? Immer wieder: Diese Menschen stehen im Dienst des HÖCHSTEN, sie verkündigen Euch den Weg des Heils. Irgendwann hält Paulus es nicht mehr aus: Schluss jetzt! Sei bitte endlich still!
Wie es Jesus getan hat, wie es die Jünger taten, gebietet er dem Geist, aus ihr auszufahren. Das wirkt. Der Geist fährt tatsächlich aus. So schafft Paulus sie sich und Silas vom Leibe. Aber nun kann sie gar nicht mehr wahrsagen, vielleicht gar nicht mehr reden. Plötzlich ist sie, die Unfreie, wert- und nutzlos. Denn ihr Wahrsagen hat ihren Herren Geld eingebracht. Diese sind (zu Recht) erbost. So geht das nicht, wenn hier welche vorbeikommen und derart in unser Leben eingreifen, so dass sich alles ändert. Das sind Juden, wir sind Römer. Unsere Sitten vertragen sich nicht. Da muss mal ordnend eingegriffen werden. Schon ist Volk auf dem Plan, dass die Herren kräftig unterstützt, schon finden sich Paulus und Silas vor dem Stadtrichter wieder. Der Weg des Heils braucht mehr, als nur in den Straßen ausgerufen zu werden. Braucht noch einen anderen Ort, eine andere Zeit, einen anderen Klang. So erzählt es die Apostelgeschichte jedenfalls.
Jetzt wird es sogar gefährlich. Gerade noch angenommen und gastfreundlich aufgenommen, wendet sich nun das Blatt: angeklagt und eingesperrt. Es ist, als würde die Unfreiheit übergehen, von ihr, der vom Wahrsagegeist befreiten, aber immer noch unfreien Sklavin, auf die Apostel selbst. Der Weg des Heils schafft Unruhe bei den Aposteln und auf den Straßen. Er stellt die Ordnung in Frage. Das bleibt selten ohne Folgen.Was tun?
Schafft uns diese Männer vom Leibe! Die Menge will das, die Herren wollen das . Und die Stadtrichter bestimmen: Nackt ausziehen, mit Stöcken schlagen, in Ketten legen, einsperren. Wächter, verwahr sie gut! Ganz schön drastisch, so für Ordnung zu sorgen. Aber wirksam. Ruhe kehrt ein in der Stadt. Erst einmal. Der Tag vergeht. Die Nacht kommt. Mitternacht wird. Silas, bist Du wach? Es ist Zeit zu beten.
In Ordnung. Lass uns singen. In Ordnung. Ich lobe meinen Gott… Sie singen. Und die Mitgefangenen hören sie.
Am unfreiesten Ort – in der dunkelsten Stunde des Tages, tief im innersten Teil eines Gefängnisses fangen daraufhin die Fundamente an zu wackeln. Türen gehen auf – Fesseln fallen ab. Großes tut sich hier. Merkt das denn niemand? Der Wächter der alten Ordnung schrickt aus dem Schlaf hoch. Springt aus dem Bett und sieht: Die Gefängnistüren sind auf. Dann sind ja alle Gefangenen weg. Ich habe versagt. Hilfe! Er zückt sein Schwert, um sich das Leben zu nehmen. Was für eine heftige Reaktion! Wie soll das Schwert helfen? Hilfe kommt anders. Tu Dir nichts an, denn wir sind alle hier! So ruft ihn Paulus aus der Gefängnisdunkelheit.
Wie, die sind alle noch da? Der Wächter schnappt sich eine Fackel. Mit ihr bringt er erstes Licht in die neue Situation, den neuen Tag, die neue Ordnung. Er sieht, die sind tatsächlich noch da. Alle, die den mitternächtlichen Lobgesang gesungen und gehört haben. Das ist wirklich ein Wunder. Den wackelnden Fundamenten und geöffneten Türen ebenbürtig.
Was hält sie? Sie müssen offenbar nicht fort, weil der unfreie Ort ein freier geworden ist.
Und noch einmal geht etwas über: Wie die Unfreiheit der Sklavin auf Paulus und Silas übergegangen ist, geht nun die frisch gewonnene Freiheit auf den Wächter über. Bestürzt und zitternd zunächst, wird er immer mehr zum Akteur im Neuen. Er selbst führt die Gefangenen aus dem Gefängnis ins Freie! Von ihnen erbittet er Hilfe! Was muss ich tun, um gerettet zu werden? Glaube an Jesus, den Herrn, so wird dir geholfen und den Menschen in deinem Haus.
Und der Gefängniswächter wird zum Pfleger, der die Wunden der Gefangenen wäscht. Er wird zum Täufling, der begierig die neue Lehre aufsaugt. Er wird zum Gastgeber, der die fremden Exsträflinge zum Essen einlädt. Er sorgt am kommenden Tag dafür, dass sie freigelassen und rehabilitiert werden. Er sorgt dafür, dass Paulus und Silas am Ende in Frieden weiterziehen können. Viel passiert nach dem mitternächtlichen Lobgesang. Gewaltig ist seine Wirkung. Dinge ordnen sich neu. Menschen verändern sich. Freiheit entsteht. Gottvertrauen ist machtvoll, so erzählt es die Apostelgeschichte.
Es ist gut zu hören, was durch Gottvertrauen alles ging und geht, damals, als der Christusglaube mit Paulus und Silas nach Europa kam; heute, mit Blick auf meinen eigenen Lebensweg, bei gewöhnlichen Alltagsgängen, bei freudigen Reisetouren, auf gefährlichen Fluchtrouten. Gottvertrauen schadet nie.
Wie neu höre ich heute, dass Gottvertrauen nicht Antwort auf erfahrene Rettung ist, sondern der Anfang davon. Als Paulus und Silas elend gefangen um Mitternacht ihr Gotteslob anstimmen, da wissen sie noch nicht, was kommen wird. Auch der Wächter weiß noch nicht, was kommen wird, wie sein Leben (und das derjenigen, die zu seinem Haus gehören) nun weitergeht. Und doch ist da Freude, im Gotteslob und in der Reaktion des Wächters:
Und der Wächter freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war. Ich lobe meinen Gott, ich freue mich und bin fröhlich, HERR in Dir, Halleluja.
Im Gotteslob teilt sich Freude mit. Eine Freude, die Kraft hat, Dinge zu verändern, neu zu machen. Eine Freude, die ich mir von alten Liedern „ausleihen“ kann, wenn in mir gerade gar nicht froh zumute ist. Eine Freude, die mich ermutigt einzustimmen, auch wenn ich unsicher und ängstlich bin. Eine Freude, die mich bestärkt, meine Hoffnung nicht zu klein werden zu lassen.
Das Gotteslob, gesungen oder gesprochen, ist nicht Antwort auf erfahrene Rettung und Hilfe, sondern der Anfang davon. Sich das bewusst zu machen, kann Dinge neu ordnen, der Freude unverhofft Raum verschaffen und neue Sicht- und Lebensweisen eröffnen. So werden alte Lieder neu. Und wir.