Von schiefen Bahnen und Tönen
Seit zwei Jahren singt er im Chor und wenn nichts dazwischenkommt, wird er noch lange weiter dort singen. Es gibt ihm Kraft und Halt. Er fühlt sich verbunden mit allen anderen, die auch seine Lieder singen. An einem anderen Ort. Seine Frau. Seine Kinder. Seine Freunde. Wenn er die Texte hört, ist es ihm manchmal, als wäre ein Lied über sein Leben geschrieben. Freiheit, Freiheit, ist die einzige, die zählt. Freiheit, Freiheit, ist die einzige die fehlt. Dann muss er schon schlucken.
Manchmal ist es nur die Melodie, die seine Gefühle trifft, aber er fühlt sich verstanden. Dann steigen ihm die Tränen in die Augen; was keiner sehen soll. Manchmal wippt sein Bein wie von selbst mit. Manchmal, heimlich, wenn keiner zusieht - und das gibt es eigentlich kaum in seinem Leben - wird aus ihm ein beweglicher Tänzer.
Ja, seit drei Jahren singt er in diesem Chor. Und wenn nichts dazwischen kommt - was er sich aber erhofft - singt er noch mindestens einige Jahre weiter dort, wo er ist. Er hofft auf gute Führung. Dann kommt er vielleicht früher heraus. Im Gefängnis proben sie jede Woche: Betrüger, Einbrecher, Mörder. Der Knastchor, wie sie sagen. Wenn andere Chöre sich auf den nächsten Auftritt vorbereiten, dann ist genau das natürlich tabu. Aber eine Stunde in der Woche dürfen sie in den großen Saal. Dann lassen sie ihrer Stimme freien Lauf. „Aus vollem Herzen. Voll schief.“, sagt er und fährt fort: „Na ja, wir sind ja auch auf die schiefe Bahn gekommen. Wir singen, was die da draußen auch singen. So sind sie alle hier bei mir: Meine Frau. Meine Kinder. Meine Freunde. Mein Glauben auch. Ich sing für sie und ich sing für mich.“
Wir sind alle für dich hier
Etwas so erkennbar tun und ein Zeichen setzen, obwohl alles offensichtlich dagegenspricht: Im Gefängnis von „Freiheit“ singen, denn „sie ist die einzige, die fehlt. Freiheit, Freiheit, ist das einzige, was zählt.“ Etwas so erkennbar tun und ein Zeichen setzen, obwohl alles offensichtlich dagegenspricht: Im Gefängnis sitzen bleiben, obwohl alle Türen offen sind. Und so dem Aufseher das Leben bewahren, der sich umgebracht hätte, wenn Paulus und Silas wie alle anderen Gefangenen geflohen wären. Sie setzen ein Zeichen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Sie bleiben sitzen. Das ist weder in der Schullaufbahn, noch in Gefängnissen ein erstrebenswertes Ziel. Doch hier ist es so.
Während die sichere Verwahrung der unschuldigen und schuldigen Verbrecher zusammenbricht, und alle das normalste erwarten, nämlich den Ausbruch. Da bleiben sie sitzen. Völlig unerwartet. Freiheit ist doch das einzige, das zählt. So unerwartet, dass der Aufseher gar nicht nachschaut, sondern sich gleich selber bestrafen will. So unerwartet, dass auch unsere Rechtsprechung Verständnis für den unwiderstehlichen Drang nach Freiheit hat, so dass Gefängnisausbruch in Deutschland nicht strafbar ist. Sie bleiben sitzen. Paulus. Silas. Sie setzen ein Zeichen für die anderen Gefangenen. Von denen wird nicht berichtet, dass sie geflohen wären, sondern fast nebenbei bemerkt; mit einem kleinen Satz: wir sind alle hier! Tu dir nichts an. Bestraf dich nicht.
Warum machst du dir 'nen Kopf?
Was gibt's da zu grübeln?
Was hast du gegen dich?
Ich versteh' dich nicht
Immer siehst du schwarz und bremst dich damit aus.
Nichts ist gut genug, du haust dich selber raus.
Wann hörst du damit auf?
Wie ich dich sehe, ist für dich unbegreiflich.
Komm' ich zeig's dir.
Ich lass' Konfetti für dich regnen.
Ich schütt' dich damit zu.
Ruf deinen Namen aus allen Boxen.
Der beste Mensch bist du.
Ich roll' den roten Teppich aus.
Durch die Stadt, bis vor dein Haus.
Du bist das Ding für mich.
Und die Chöre singen für dich.
(nach Mark Forster, Chöre)
Und Paulus und Silas rufen für ihn: „Tu dir nichts an. Wir sind alle hier.“ Sie waren geblieben, um den einen zu bewahren. Gerade den, der ihnen doch den Weg in die Freiheit versperrt hatte. Den retteten sie. Alle Gefangenen waren geblieben. Erstaunlicherweise. Paulus und Silas hatten gebetet. Die Mitgefangenen hatten sie gehört. Es hatte wohl Wirkung gezeigt. Die beiden haben vorgesungen. Die anderen stimmten mit ihrem Handeln zu. Ein Gefangenenchor war es geworden. Viele unterschiedliche Stimmen sagen das gleiche. „Tu dir nichts an. Wir sind alle hier.“ Ihr Zeichen ist hörbar. Wie ein neues Lied für den Aufseher. Noch nie gehört?! Woher kommt die Musik? Dieser Klang? Diese Stimmung? Und der, der ja die Freiheit hatte, der als Aufseher ja kommen und gehen konnte, der fragt nun: Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?
Gott für dich
„Tu dir nichts an. Wir sind alle hier.“ Das hatte er verstanden. Die anderen tun dir Gutes an. Sie erheben ihre Stimme für dich. Sie rufen für dich. Sie singen für dich. Sie bitten dich nur eines: glaube.
Da verkörpert der Aufseher mit all seinem Tun, das, was Kirche ist. Er feiert seine Taufe. Er lädt ein. Er bringt seine Frau, seine Kinder und seine Freunde mit. Ja, sein ganzes Haus. Er wird diakonisch und pflegt die Wunden der ehemals Gefangenen. Er wird zur Gemeinschaft. Er deckt den Tisch. Und am Ende ist er fröhlich. So als hätte er ein Lied auf den Lippen:
Wie Gott mich sieht, ist fast unbegreiflich.
Komm, ich zeig's dir:
Gott lässt Wasser über mich regnen.
Schüttet mich damit zu.
Ruft meinen Namen aus allen Boxen, durch alle Mauern:
Mein Mensch bist du.
Er rollt den roten Teppich aus.
Durch die Stadt bis vor mein Haus.
Du bist Mensch für mich.
Und die Chöre singen für mich.
Paulus und Silas beten für mich.
Und die Trompeten ertönen für mich.
Und die Trommeln klingen für mich.
Und die Orgel spielt für uns.
Und die Chöre singen mit uns.
Da Capo al fine
Er zittert heute noch, wenn er daran denkt. Wie gesungen wurde, als er nach Hause kam; nach den Jahren im Gefängnis. Alle waren sie da: seine Frau, seine Kinder, seine Freunde. Alle im Haus. Nun war es so: Er konnte ein Lied davon singen, wie Freiheit zählt, wenn sie fehlt. Er wusste, wie es sich anfühlt und klingt, wenn andere auf ihn warten. Er konnte ein Lied davon singen, was Rettung meint. Dieses fromme, fremde Wort war für ihn hörbar geworden, machte wieder Sinn und hatte jetzt einen guten Klang. Gerettet.
Er würde weiter singen. Neue Lieder. Er würde üben müssen. Es klang schon oft noch schief. Es galt noch einiges gerade zu rücken. Um Verzeihung zu bitten. Sich vielleicht sogar zu versöhnen. Reinen Tisch zu machen. Es würde vielleicht noch lange dauern. Aber ein erster Ton war erklungen, in Freiheit und andere würden folgen.
Bis ein ganzes, ein neues Lied erklingt:
Gott rollt den roten Teppich aus.
Durch die Stadt bis vor dein Haus.
Gott singt für dich:
Du bist und bleibst Mensch für mich.
Amen.