Sie waren allezeit im Tempel und priesen Gott - Predigt zu Lukas 19,41-48 von Michael Nitzke
19,41-48

Sie waren allezeit im Tempel und priesen Gott.

41 Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie 42 und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen.

43 Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen 44 und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.

45 Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben, 46 und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben »Mein Haus soll ein Bethaus sein«; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht. 47 Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten danach, dass sie ihn umbrächten, 48 und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze Volk hing ihm an und hörte ihn.

Gebet: Herr öffne Dein Wort für uns und öffne uns für Dein Wort. Amen.

Liebe Gemeinde,

"und [sie] waren allezeit im Tempel und priesen Gott." (Lk 24, 53) Nach dem er diese Worte auf das Papyrus geschrieben hatte, legte Lukas die Feder aus der Hand und lehnte sich zurück. Ja, nun hatte er den Bericht für seinen Freund Theophilus abgeschlossen. Vieles mehr hätte er noch schreiben können. So viele Ideen hatte er noch im Kopf, zum Beispiel all die Dinge, die den Aposteln widerfahren sind. Aber das war eine andere Geschichte. Die würde vielleicht geschrieben werden, wenn die Zeit dafür reif erschien.

Aber nun hatte er sein Werk über die Geschehnisse um Jesus von Nazareth aufgeschrieben. Nein, er war beileibe nicht der erste, der das versucht hatte. Aber er wollte es aus seiner Sicht schreiben. Sein Freund Theophilus, der sein erster Leser sein würde, machte seinem Namen alle Ehre: Theophilus, der Gottesfreund. Diesem Namen war er es schuldig, alles so genau wie möglich aufzuschreiben. Er hatte das nicht alles selbst erlebt. Aber er wusste, wen er fragen musste, und er wusste, wie er fragen musste, damit man ihm Einzelheiten und Zusammenhänge erzählte. Und dabei machte er so manche Entdeckung, über die er sich selbst wunderte. So war er doch irgendwie froh, dass ihm Leute aus Bethlehem, das mit der Krippe erzählt haben. Die Geburt des Gottessohnes in einer Behausung von Tieren, das wusste selbst Matthäus nicht, der sich doch noch darüber aufgeregt hatte, dass dieser Markus so gar nichts von der Geburt des Herrn geschrieben hatte. Ja, Lukas wusste, was so alles erzählt und geschrieben wurde über Jesus, den Christus. Aber vieles, was ihm wichtig war, fehlte dort, und um manches wurden viele Worte gemacht, die doch nicht weiter führten. Er wollte sich mit seiner Schrift nicht wichtigmachen, und auf seinen Namen kam es auch gar nicht an. Aber er wollte schreiben, was ihm wichtig war. Und das war zum Beispiel dieser letzte Satz seines Evangeliums, den er über die Jünger geschrieben hatte: "und [sie] waren allezeit im Tempel und priesen Gott."

Ja, das war für ihn von großer Bedeutung, diese enge Verbindung zum Tempel. Er wollte betonen, dass die, die Jesus folgten, nie das Band zum Glauben ihrer Vorväter haben abreißen lassen. Ja, es gab Auseinandersetzungen und Streitgespräche mit den Vertretern des Glaubens der Mütter und Väter. Aber die gab es immer. Das war es ja gerade, was diesen Glauben ausmachte: das Ringen um die Wahrheit. Der Kampf ums Wort Gottes mit den Worten, die Gott im Herzen seiner Gläubigen lebendig werden ließ. Dass dieses Ringen um Worte seinen Herrn ans Kreuz geführt hatte, war zunächst unglaublich. Aber wie wurde dieser Glaube gestärkt, als er die Worte Jesu am Kreuzt hörte: "Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!". Wer in dieser Situation so versöhnlich sein kann, der hat eine besondere Nähe zum Gott der Väter. Andere erzählen davon, Jesus habe als letztes Wort gesagt: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mk 15,34) Aber Lukas konnte sich nicht durchringen, das in seinen Bericht zu schreiben. Für Lukas zeigt Jesus am Kreuz das, was ihn immer ausgemacht hat: Er ist eins mit Gott. So schrieb Lukas als letztes Wort Jesu am Kreuz: "Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!" (Lk 23,46) Ja, den Händen des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs vertraut er seinen Geist an. Jesus ist eins mit Gott und dem Gottesvolk. Egal, was passiert ist. Und dieser Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der ihn vom Tod am Kreuz zurück ins Leben geholt hat, der zeigt, dass die Liebe siegt. Auch und gerade die Liebe zu diesem Volk, das Jakob mit wenigen nach Ägypten geführt hat, und das Mose mit vielen zurück ins gelobte Land gebracht hat.

Einen besseren letzten Satz kann es nicht geben: "und [sie] waren allezeit im Tempel und priesen Gott."

Ja, im Tempel fing alles an: Als Zacharias für den Tempeldienst erwählt wurde! Der wolle damals nicht wahrhaben, dass er einen Sohn bekommen würde. Gott hat ihn wegen seines mangelnden Vertrauens stumm gemacht. "Er soll Johannes heißen", das konnte er nicht aussprechen, sondern musste es auf eine Tafle schreiben, denn er konnte immer noch nicht wieder sprechen. Sein Sohn soll Johannes heißen, später würden sie ihn "den Täufer" nennen. Er bereitete den Weg für den, der kommen sollte: Jesus. Und auch dessen erste Wege ließ Gott zum Tempel führen. Wie froh war Lukas, dass man ihn von den beiden alten Leuten erzählt hatte, die Jesus im Tempel priesen: Simeon und Hannah, sie hatten ihr ganzes Leben auf den Christus gewartet und nun hatten sie ihn in dem neugeborenen Jesus erkannt. Und als Jesus zwölf Jahre alt war, machte er seinen Eltern Angst und lief weg. Drei Tage haben sie nach ihm gesucht. Drei Tage war er nicht zu sehen, sie standen Todesängste aus. Das Kind war verschwunden! Es war wie eine Vorahnung auf die drei Tage nach dem Ereignis am Kreuz. Und wo fanden sie ihn nach diesen drei Tagen? Im Tempel, im Haus seines Vaters, wie er sagte. Er sprach mit den Schriftgelehrten seines Gottesvolkes, im Tempel!

Lukas, dreht immer wieder an seiner Schriftrolle, schaut hier noch mal nach, und vergleicht dort mit den Aufzeichnungen seiner vielen Zwiegespräche, die er in all den Jahren geführt hat. Theophilus wird stolz auf ihn sein. Nein, stolz ist das falsche Wort! Glücklich soll sein erster Leser Theophilus sein über die Worte, die Lukas berichtet.

Während er den gottesfürchtigen und glücklichen Freund Theophilus vor Augen hat und hier und da noch einen Federstrich nachzieht, bleibt sein Auge an einer Stelle hängen, die so gar nicht glücklich erscheinen will.

Jesus weint. Jesus vergießt Tränen. Tränen über Jerusalem: Diese bedeutende Stadt, Zentrum des Glaubens. Die Stadt, die der große König David gegründet hat. Er hatte viel mit ihr vor, er wollte die Ansiedlung des kleinen Volks der Jebusiter zum Zentrum des Glaubens der Kinder Israels machen. Doch erst sein Sohn Salomon hat das geschafft, indem er den prächtigen Tempel errichten ließ. Als Jesus auf diesen Tempel sah, mag er daran gedacht haben, wie er mit zwölf Jahren hier mit den Lehrern gesprochen hat. Aber er sah nicht mehr den Tempel, den Salomo errichten ließ. Der wurde zerstört, weil sein Volk den Pakt mit den Mächtigen eingehen wollte, aber zwischen diesen Mächtigen zerrieben wurde. Vierzig Jahre saßen sie an den Wassern von Babel und weinten, bevor sie wieder zurück konnten. Und viele Jahre brauchte es noch, bis sie wieder Mut und Kraft hatten, einen neuen Tempel zu errichten. Auf diesen Tempel fällt sein Blick, ein Blick unter Tränen, denn Jesus sieht, was in Jerusalem noch niemand wahrhaben will: Geschichte wird sich wiederholen, jedenfalls zum Teil.

Lukas, hatte die Menschen in Jerusalem gefragt. Viele wussten, dass Jesus damals geweint hatte. Doch sie verstanden erst warum, als die Römer ernst gemacht hatten. Sie hatten die Stadt angegriffen und den Tempel zerstört. In Rom rühmten sie sich mit Skulpturen und Triumphbögen, dass sie die heiligen Geräte aus dem Tempel geholt hatten. Das Volk Gottes ist gedemütigt worden. Es vergoss wieder Tränen, wie damals an den Wassern zu Babel. Jesus hatte diese Tränen schon im Voraus vergossen. Und er sprach dabei zu dieser Stadt Jerusalem:

Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!

Ja, wieder einmal hat man auf die falschen Mächte vertraut. Ein König wie Herodes, war König von Roms Gnaden, und der Hohe Rat, die höchste religiöse Institution, scheute sich nicht, die Römer zu instrumentalisieren, wenn man meinte, das könnte helfen. Aber das große Römische Reich lässt sich nicht von einem kleinen Volk an der Nase herumführen.

Lukas las die Worte Jesu, die man ihm berichtet hatte: 43 Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen 44 und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.

Und nach diesen Worten, fielen die Blicke Jesu auf den Tempel. Er liebte diesen Tempel. Es war für ihn von Kindheit an das Haus seines Vaters. Lukas dachte daran, wie andere schrieben, Jesus könne den Tempel abbrechen und ihn in drei Tagen wieder aufrichten. Ja, so erzählten sie überall. Aber wie Lukas seine Hand auch hielt, seine Feder wollte diese Worte einfach nicht zum Papyrus bringen. Jesus wollte den Tempel abbrechen? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Die das sagten, bezogen Natürlich die drei Tage auf seine Auferstehung. Aber das konnte Lukas nicht schreiben. Da musste sein Leser Theophilus, sich mit den drei Tagen begnügen, die Maria und Joseph brauchten, bis sie den kleinen Jesus im Tempel wieder fanden.

Jesus liebte diesen Tempel. Deshalb konnte er auch nicht ertragen, wie man in seinen Vorhöfen Geschäfte machte. Jesus wischte seine Tränen ab, und machte sich daran, dieser Geschäftemacherei ein Ende zu machen. Aber bitte nicht mit Gewalt. Andere schrieben, er habe da die Tische umgekippt. Das konnte Lukas sich nicht vorstellen. Wer geht in sein Vaterhaus und wirft die Möbel um? Nein, hinauskomplimentiert wird er sie haben. Mit scharfen Worten, die im nicht fremd waren, aber nicht mit Handgreiflichkeiten: »Mein Haus soll ein Bethaus sein«!

Lukas ließ beim Lesen der eigenen Worte die Gedanken schweifen. Hat er es richtig gemacht? Hat er es wirklich so geschrieben, wie man ihm berichtet hat, obwohl doch manche in Einzelheiten anderes verlesen? Er wollte sich selbst treu bleiben und dachte an seine Worte, mit der er seine Schrift einleitete. Da hatte er geschrieben: (Lk 1:) 1 Viele haben es schon unternommen, Bericht zu geben von den Geschichten, die unter uns geschehen sind, 2 wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Worts gewesen sind. 3 So habe auch ich's für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es für dich, hochgeehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben, 4 damit du den sicheren Grund der Lehre erfährst, in der du unterrichtet bist.

Dieser sichere Grund der Lehre ist ihm wichtig, und der besteht in der Treue zum Glauben an Gott, wie er sich Abraham, Mose und den Propheten offenbart hat, dieser Gott, den Jesus seinen Vater genannt hat. Dieser Gott hat Jesus von den Toten auerweckt, und nun bekennen ihn viele als den Christus, als den erwarteten Heilsbringer, der Gottes Liebe den Menschen mit seinem ganzen Dasein bezeugt.

Wie um das zu überprüfen, fiel der Blick des Lukas nochmal auf seine Schrift. Nach der Auseinandersetzung mit den Händlern im Tempel hatte er über Jesus geschrieben: 47 Und er lehrte täglich im Tempel. Auch etwas worüber andere nicht so viel erzählten. Als sei es auf einmal überhaupt nicht mehr wichtig, dass Jesus lange und intensiv, also täglich im Tempel lehrte. Da erzählt man höchstens, er ging dort umher (Mk 11,27). Und wenn jemand sagte, er lehrte dort (Mt 21,23), dann hatte man nicht den Eindruck, als sei das eine Dauereinrichtung, sondern eher so etwas wie eine Gastpredigt. Lukas war es wichtig, dass sein Freund Theophilus die intensive Beziehung Jesu zum Tempel auch schwarz auf weiß vor Augen hatte.

Und dennoch konnte auch Lukas nicht daran vorbeigehen, was er selbst geschrieben hatte: 47 ... die Angesehensten des Volkes trachteten danach, dass sie ihn umbrächten,

Ja, das kommt vor, das einzelne missgünstige Personen ein ganzes Volk in Misskredit bringen. Lukas konnte die Tatsache nicht übergehen, dass aus der Spitze der Gesellschaft der Auftrag zur Beseitigung eines Ruhestörers namens Jesus kam. Aber nichts hätte ihm ferner gelegen, als dies: Ein ganzes Volk mit seinem überlieferten Glauben dafür verantwortlich zu machen. Eine kleine Führungsclique eines besetzten Landes macht gemeinsame Sache mit den ungläubigen Besatzern. Aus diesem Stoff haben schon die Propheten ihre Strafpredigten entwickelt. Das ist Israel gewohnt. Diese Moralpauken sind ihnen zur Heiligen Schrift geworden, und diese Schrift soll sie immer wieder zurück auf den richtigen Weg führen. Auf den Weg zurück zu Gott, dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Deshalb lieben sie und wir die Worte dieses Psalms. (Ps 119,105) Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.

Lukas hat die Tränen, die Jesus über Jerusalem weinte, an seinen eignen Augen getrocknet. Vielleicht ist sogar eine dieser Tränen auf das Papyrus getopft. Er rollt seine Schrift zusammen und kann sie nun reinen Gewissens an Theophilus übergeben. Alles ist darin, was ihm von Jesus wichtig ist. Die Geburt in Betlehem, die Lehren in Galiläa, die Tränen über Jerusalem, der Leiden auf Golgatha, die Himmelfahrt nach der Auferstehung, und ganz am Ende auch dieser Satz: über die Jünger Jesu: "und [sie] waren allezeit im Tempel und priesen Gott."   Amen.

Nachwort:

Liebe Gemeinde, gestatten sie mir ein Nachwort. Am heutigen traditionellem Israelsonntag, kam es mir darauf an, vorhandene Gräben zwischen Juden und Christen zu überbrücken. Immer wieder führten Aussagen des Neuen Testamentes dazu, diese Klüfte zwischen Juden und Christen zu vertiefen. Ich habe versucht, anhand einiger Besonderheiten des Lukasevangeliums zu zeigen, dass man manches auch ganz anders interpretieren kann. Es kam mir darauf an, die Kontinuität des christlichen Glaubens zur jüdischen Tradition herauszustellen. In den letzten zwei Jahren wurde nicht nur in der Fachwelt eine intensive Diskussion geführt, welchen Stellenwert das Alte Testament gegenüber dem Neuen haben sollte. Einige Diskutanten ließen erkennen, dass das Alte Testament, oder die hebräische Bibel, wie man auch sagt, einen geringeren Wert habe. Dieser Ansicht ist zu widersprechen. Weitesten Teilen des Christentums ist die enge Verbindung zum Judentum wichtig, dies gilt es immer wieder zu betonen. Dass beide Religionen dennoch unterschiedliche Glaubensaussagen treffen, soll nicht dem Frieden dieser Religionen entgegenstehen. - Der Stil der Predigt, ein fiktiver innerer Gedankengang des Evangelisten Lukas, ist sicherlich einigen historischen Romanen zuzuschreiben, die in den letzten Monaten auf meinem Nachttisch lagen. Vielen Dank.

Perikope
09.08.2015
19,41-48