"Sieben" - Predigt zu Apostelgeschichte 6,1-7 von Dörte Gebhard
6,1-7

"Sieben"

Liebe Gemeinde,
„ ... wenn das nicht einmal in der Kirche geht – wo dann?“
„Von der Kirche habe ich etwas anderes erwartet!“
Rote Empörung steht der Dame ins Gesicht geschrieben. Sie regt sich auf.
Worüber? Das ist eigentlich weniger interessant, die Geschichte ist auch nicht hier bei uns passiert.
Aber ein herzenskluger Mensch hat einmal gesagt: „Jeder weiss, dass ein Pfarrer auch nur ein Mensch ist, aber wenn es herauskommt, wollen die meisten nichts mehr davon wissen.“[1]
Die Dame ist noch immer sehr aufgebracht – aber ist sie es zu Recht?
Das wissen wir noch nicht, das wird die Predigt weisen. Wir alle müssen noch etwas Geduld haben.
Seit es die Kirche gibt, hat man sich über sie aufgeregt.
Dass sie so weit hinter ihren Idealen zurückbleibt!
Eben, dass der Unterschied zwischen Heiland und Jüngern so groß ist!
Hören Sie von den ersten Aufregungen der jungen Christenheit. Der Predigttext steht in der Apostelgeschichte des Lukas im 6. Kapitel:
Die Wahl der sieben Armenpfleger
1 In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. 2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. 3 Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. 4 Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.

5 Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen aus Antiochia. 6 Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie.


Liebe Gemeinde,
zwischen den Zeilen steht alles, was wir jetzt noch wissen müssen, damit uns die Kirche in Zukunft nicht mehr Anlass zu Empörungen bietet, damit wir es zuletzt hoffnungsvoller anschauen können.

1. Die Zahl der Jünger nahm zu – die Kirche wuchs. Es wurden immer mehr, aber gerade das schafft auch größere Probleme.
Was bilden wir uns im 21. Jahrhundert eigentlich ein, wenn wir immer betonen, es sei schwierig, wenn die Gemeinden kleiner werden?!
Wissen wir überhaupt, ob das wahr ist? Ich bin überzeugt, niemals waren so viele Menschen freiwillig da. Ohne sie könnten wir nichts tun.
Früher gehörte es sich, dazuzugehören. Nicht wenig Druck und Zwang wurde ausgeübt, nicht immer war das am Tageslicht, aber dafür nicht weniger spürbar.

Wer heute und hier bei uns kommt, hat sich etwas dabei gedacht. Die Freiwilligen nehmen verhältnismäßig zu.

Wer sich weltweit zu den Christen zählt, muss sich auch etwas dabei denken und inzwischen wieder mancherorts schweres Leiden, sogar Folter gewärtigen, die Verfolgungen und die Gewalttätigkeiten, die Verspottungen und Verleumdungen nehmen auch – wieder – zu. 80% der derzeit um ihres Glaubens willen Verfolgten sind Christinnen und Christen.
Wer damals, zu Lukas’ Zeiten kam, musste sich auch etwas dabei denken,
sie wurden mehr, aber damit auch mehr Drangsalierte, vom Rest der Welt mehr oder weniger Verlachte oder Verachtete.

2. Es erhob sich ein Murren – auch typisch, nicht wahr? Konflikte in Kirchgemeinden brechen in der Regel nicht explosionsartig aus, sondern murren sich so langsam ins allgemeine Bewusstsein und nörgeln sich allmählich ins Empfinden aller Betroffenen und Beteiligten.

3. Griechische Juden gegen hebräische Juden, das können wir heute gar nicht mehr nachvollziehen. Aber wir können es uns nur allzu gut vorstellen! Es gilt für Köln und Düsseldorf, für Basel und Zürich, für ...
Denn überall, wo sich Menschen begegnen, gibt es sogleich die einen und die anderen. Winzige kulturelle und sprachliche Unterschiede reichen schon aus, dass wir sagen „wir hier und die da“. Soziologen ordnen uns heute höflich und vornehm, aber doch deutlich in unterschiedliche Milieus ein.

Die einen hören nur Musik mit Schlagzeug, die anderen immer ‚mit ohne’. Den einen fehlt dann immer genau das, was den anderen besonders lästig ist. Die einen sprechen Mundart, die anderen sehr viele sehr andere Sprachen, verstehen sich auch untereinander nicht gerade leicht. Die einen gingen gern zur Schule, die anderen waren nur froh, als es vorbei war. Die einen fahren ans Meer - oder in die Berge, die anderen verreisen nie, weil sie dazu kein Geld übrig haben. Die einen ..., die anderen ...

Griechische Juden murren gegen hebräische Juden, sie sind einander so ähnlich, aber nahe sind sie einander nicht, nicht einmal in dieser neuen, frischen Gemeinde.

4. Weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung.
Darauf legt Lukas, der friedliebende und harmoniebedürftige Mensch, wirklich wert! Niemand hatte irgendeine böse Absicht, schon gar nicht in den jungen Gemeinden. Damit ist es Lukas ernst, er ist unter allen Evangelisten derjenige, dem die Sozialkompetenz seiner Gemeinde am meisten am Herzen liegt. Er fördert sie mit allen, ihm verfügbaren Mitteln. Die Beispielerzählung vom Barmherzigen Samariter gibt es zum Beispiel nur bei ihm. Er überliefert sie in seinem Evangelium, weil es ihm so dringend wichtig ist für seine Gemeinde.

Nein, die Witwen werden tatsächlich übersehen. Wenn heute Hilfe ausbleibt, Menschen sich enttäuscht zeigen und abwenden, dann meist auch genau darum, weil sie übersehen wurden, weil sie keine Lobby hatten, die laut für sie rief, weil sie im Hauptwettbewerb unserer Mediengesellschaft, im Wettkampf um Aufmerksamkeit nicht bestehen können.
Übersehen konnte man die griechischen Witwen erst noch, überhören kann man das Murren darüber allerdings nicht mehr. Gottlob! Die Ohren kommen den Augen zu Hilfe. Hilfe kommt nun auch in den Blick:

5. Seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte!
Dass nur Männer gefragt und gesucht werden, hat man inzwischen oft beklagt. Aber die Probleme liegen noch tiefer, als es dass es nur um die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen ginge. Jesus hätte es den Witwen natürlich selbst zugetraut, sich zu organisieren. Er hätte diese damals besonders rechtlosen Frauen in Ämter und Würden gebracht, sie ermutigt, sich selbst zu helfen, selbst zu erkennen, was hilfreich für sie ist.

Die Jünger bringen das nicht mehr so einfach über’s Herz. Sie hören wieder auf ihre Zeitgenossen, sie machen vieles doch wieder so, wie es die Leute erwarteten. Sie richten sich wieder nach den Üblichkeiten. Jesus war allen unseren Zeiten himmelweit voraus.
Der Abstand zwischen Jesus und seinen engsten Vertrauten war und ist darum auch bleibend groß.
Lange waren die Jünger mit Jesus unterwegs, so haben sie etwas gelernt: sieben Männer müssen sein, sieben sind aber auch genug.

Die Sieben ist seit Jahrtausenden eine bedeutsame Zahl. Sie verbindet die göttliche Drei mit der irdischen Vier. Wir glauben an den dreieinen Gott und haben vier Himmelsrichtungen auf Erden, vier Jahreszeiten und bauen meist Viereckiges.

Himmlisches und Irdisches gibt zusammen etwas Größeres.

Drei und Vier gibt Sieben.

Die Sieben hat sich seit Menschengedenken zu bewähren: beim Siebenkampf und den sieben Weltwundern schon in der Antike, auf den sieben Weltmeeren, bei den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen und bei den sieben Schweizer Bundesräten (vor den sieben Bergen), es gibt sieben Tugenden und sieben Laster, sieben Todsünden und sieben Sakramente, allerdings nur in der katholischen Kirche, „Über sieben Brücken musst du gehen“[2], es sind sieben Worte Jesu am Kreuz, sieben Wunder im Johannesevangelium, sieben Werke der Barmherzigkeit sind zu tun, es gibt ein Buch mit sieben Siegeln und unsere „Siebensachen“, sieben Streiche von Max und Moritz und das Vater Unser mit sieben Bitten, die Musikgesellschaft besteht aus 3x7 Musikerinnen und Musikern und hier nun werden sieben Armenpfleger eingesetzt.

Sieben ist gerade eben und zugleich auch vollkommen genug.

Unter Umständen haben sich die 12 Jünger aber auch nur überlegt, dass es im Streitfall unbedingt eine ungerade Zahl sein muss, waren sie doch nun neuerdings genau zwölf.
Die Zahl wird selten genannt, aber mit Jesus zusammen waren sie immer dreizehn gewesen und nach dem Tod des Judas und Karfreitag nur noch elf. Gleich aber hatten sie wieder einen zwölften Jünger gewählt. Jetzt, da sie die gesamte Verantwortung allein tragen müssen, sind sie ausgerechnet zwölf, so dass es bei Streitereien unentschieden, unentscheidbar stehen kann.

6. Sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen aus Antiochia.

Diese Namen sprechen Bände. Obwohl sie nur sperrig, altertümlich und harmlos tönen: Stephan, Philipp, Prochorus, Nikanor, Timon, Parmenas und Nikolaus.
Namen sind manchmal blöd, manchmal passend, aber niemals harmlos. Es sind alles Namen von Menschen, die in die erste, die vorderste Reihe gehören: Stephan ist der, der sich einen Kranz verdient hat, Philipp liebt Pferde, Prochorus ist der Anführer des Tanzes, Nikanor ist zu deutsch der Sieger, Timon der Angesehene, der aller Ehren Werte, Parmenas nennt sich einer, der Durchhaltevermögen hat, der bleibt, wo andere untergehen und Nikolaus ist einer aus einem siegreichen Volk. Gewinnertypen, alle zusammen.

Schon damals ging es um gute Namen und alles, was man mit einem richtigen Namen machen kann. Sie werden nun Armenpfleger und kommen in die erste Reihe - wenn es ums Dienen geht.

Sieben ist gerade eben und zugleich auch vollkommen genug, um die Armut vor Ort gerade nicht zu übersehen, sondern zu überblicken: wo Hilfe dringend nötig ist und wie Gerechtigkeit annähernd herbeigeführt werden kann. Die Bekämpfung der Armut war unter den ersten Christen eine vordringliche Aufgabe, und wir wissen nur zu gut, dass es bis heute so geblieben ist, wenn wir in die große, weite Welt hinausschauen. Manchmal mag man an den Verheißungen Jesu zweifeln, vollkommen überzeugend hat sich bewahrheitet, als er sagte: Arme habt ihr alle Tage bei euch (Mt 26, 11).

Liebe Gemeinde,
der siebte und damit selbstredend letzte Teil dieser Predigt, denn sieben ist gerade eben und zugleich vollkommen genug.

7. Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie.

Dieser spezielle Moment hat mich besonders berührt. Es wird nicht sogleich und irgendwie gedankenlos losgelegt. Es wird nicht sofort ein Vorsitzender gewählt und eine Sitzung abgehalten. Es wird nicht unmittelbar geleitet und organisiert, es werden nicht zuerst Reglemente erlassen und Formulare geschaffen.

Vor allem anderen steht das Gebet. Auch die besten Leute haben Gebete nötig, wie es hier klingt, gerade sie. Damit bestreite ich nicht, dass alles andere auch sein muss, dass es Regelungsbedarf gibt, dass Entscheidungen gefällt werden müssen, die künftige Willkür verhindern sollen, im Gegenteil. Auch die Kirche auf Erden kommt ohne all das nicht aus, wenn sie Gerechtigkeit üben will, die Betonung liegt auf „üben“, wenn sie versucht, dem himmlisch hohen Anspruch gerecht zu werden und niemanden zu übersehen, sondern die Not, die Armen wirklich zu sehen und zu kennen.

„Von der Kirche habe ich etwas anderes erwartet ...“

Sie erinnern sich an die Dame vom Anfang, mit roten Backen und innerer Hitze vor lauter Wut?

Liebe Gemeinde,
jetzt wissen wir darauf die Antwort: Nicht schon in der Gemeinde, gänzlich erst im Reich Gottes wird es ganz anders werden, zuvor ist es auf der Welt noch wie mitten in der Welt.
Erstaunlich viel Hilfe ist aber schon jetzt möglich, besonders, wenn man Wuthitze in Wärme, Mitgefühl und Energie zur Mitarbeit verwandeln kann.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der wandle in uns alle Wut in Wärme, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus,                                                                                                                            Amen.
 


[1] Werner Jetter, Homiletische Akupunktur. Teilnahmsvolle Notizen, die Predigt betreffend, Göttingen 1976, S. 139.

[2] Rockband Karat (DDR), später von Peter Maffay (Westdeutschland) nachgesungen.

 

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