Sieben Tage, sieben Nächte - Predigt zu Hiob 2,1-13 von Manfred Wussow
2,1-13

1 Es begab sich aber eines Tages, da die Gottessöhne kamen und vor den Herrn traten, dass auch der Satan mit ihnen kam und vor den Herrn trat. 2 Da sprach der Herr zu dem Satan: Wo kommst du her? Der Satan antwortete dem Herrn und sprach: Ich habe die Erde hin und her durchzogen. 3 Der Herr sprach zu dem Satan: Hast du acht auf meinen Knecht Hiob gehabt? Denn es ist seinesgleichen auf Erden nicht, fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse und hält noch fest an seiner Frömmigkeit; du aber hast mich bewogen, ihn ohne Grund zu verderben. 4 Der Satan antwortete dem Herrn und sprach: Haut für Haut! Und alles, was ein Mann hat, lässt er für sein Leben. 5 Aber strecke deine Hand aus und taste sein Gebein und Fleisch an: Was gilt’s, er wird dir ins Angesicht fluchen! 6 Der Herr sprach zu dem Satan: Siehe da, er sei in deiner Hand, doch schone sein Leben! 7 Da ging der Satan hinaus vom Angesicht des Herrn und schlug Hiob mit bösen Geschwüren von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel. 8 Und er nahm eine Scherbe und schabte sich und saß in der Asche. 9 Und seine Frau sprach zu ihm: Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb! 10 Er aber sprach zu ihr: Du redest, wie die törichten Frauen reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? In diesem allen versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen.11 Als aber die drei Freunde Hiobs all das Unglück hörten, das über ihn gekommen war, kamen sie, ein jeder aus seinem Ort: Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama. Denn sie wurden eins, dass sie kämen, ihn zu beklagen und zu trösten. 12 Und als sie ihre Augen aufhoben von ferne, erkannten sie ihn nicht und erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder zerriss sein Kleid, und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt 13 und saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.

Schweigen
Sie kennen die drei bestimmt nicht! Ihre Namen tauchen auch sonst nie auf: Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama. Elifas ist in der Reihe wohl der Älteste, Bildad in den mittleren Lebensjahren und Zofar der Jüngste. Junger Vogel, heißt er. Wenn man seinen Namen wörtlich übersetzt. Hiobs Freunde kommen auch von weit her, sie bringen die große Welt mit – oder: die große Welt macht sich auf, das Leid eines Menschen mitzutragen. Hiob ist nur noch ein Häufchen Elend. Nichts ist ihm geblieben. Die Asche, auf die er hockt, riecht nach verbranntem Leben.
Sieben Tage, sieben Nächte werden die Freunde auf dem Erdboden verbringen, sieben Tage, sieben Nächte – schweigen. Das Leid ist so groß, dass alle Worte schwinden. Von der Vergangenheit reden, macht in der Situation traurig und verzagt, was ist, lässt sich nur beklagen, was kommt, kennt noch keine Worte.
Stellen wir uns die Szene doch einmal vor! Auch wenn die „sieben Tage“ und „sieben Nächte“  nicht wörtlich zu nehmen sind, es ist eine gemeinsame Zeit. Dabei können auch „sieben Tage“ und „sieben Nächte“ eine Ewigkeit sein. Wie eine Zeit, die kein Ende nimmt – oder, auch: eine gefüllte Zeit mit eigenem Glück. Einmal wird man darüber reden können, jetzt aber sind Deutungen und Vertröstungen nur bitter. Doch ein riesiges Vertrauen schält sich aus dem Schweigen heraus. Wir sind bei dir. Wir stehen zu dir. Du bist nicht alleine.
Im Himmel aber werden Zweifel gesät. Eine dubiose Figur taucht auf, die keinen Namen hat. Satan? Das ist doch der, der alles verwirrt. Hiob glaube und vertraue ja doch nur, weil es Gott gut mit ihm gemeint habe. Mit Reichtum, großer Familie, strotzender Gesundheit. Erfolg, Glück in Hülle und Fülle. Wenn ihm das alles genommen wird – du wirst sehen, Gott: Du bist dann weg! Mach dir keine falschen Hoffnungen! Hiob ist so wie die anderen! Und ganz unverhohlen dazu: Du, Gott, hast dir den Glauben von Hiob auch nur erkauft. Du bist – käuflich!
Hiob weiß nichts davon. Die Freunde auch nicht.

Hiobsbotschaft
Entschuldigung, ich habe gar nicht gefragt, ob Sie Hiob kennen. So richtig viel wissen wir von ihm nicht. Er ist als der große Dulder in die Geschichte eingegangen. Was ihm widerfährt, was ihm auch Stück für Stück zugetragen wird, wird „Hiobsbotschaft“ genannt. Nicht, dass es so etwas nicht vor ihm auch schon gegeben hat – aber mit Hiob haben die Hiobsbotschaften einen Namen bekommen.
Bei ihm ging es Schlag auf Schlag. Eine Hiobsbotschaft folgte der nächsten. Erst ging sein Vieh unter – sein Reichtum. Dann kommen die Kinder um – seine Zukunft. Und schließlich wird seine Haut von Geschwüren gefressen – es geht ihm ans Fell. Noch mehr geht nicht. Die letzte Steigerung wäre der Tod. Aber angesichts dieses Übermaßes an Leid wäre der Tod Erlösung. Nur – die wird nicht gewährt.
Hiob muss dadurch.
Hiobsbotschaften kommen aus heiterem Himmel. Dann ist das Leben nicht mehr wie vorher. Es ist, als ob die Erde nachgibt, der Himmel gar über einem Menschen zusammenfällt. Nichts ist mehr in Ordnung. Es ist, als ob die Schöpfung zurückgenommen wird.
Manchmal erzählen mir Menschen von Hiobsbotschaften.
Ein Arztbesuch. Harmlos. Eigentlich. Aber die Diagnose lautet: Krebs. Wie vom Donner gerührt. Die Zeit  bleibt stehen.
Eine Hiobsbotschaft.
Die Arbeit macht Freude. Die Familie freut sich. 1.000 Stellen sollen gestrichen werden. Dann kommt die Kündigung. Ein paar Zeilen. Floskeln.
Eine Hiobsbotschaft.
Zwei Menschen, die sich liebten, haben sich auseinandergelebt. Sie konnten nicht darüber reden. Das Schweigen half nicht. Dann kam die Trennung. Gefühlt wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Eine Hiobsbotschaft.
Angst vergreift sich zuallererst an den Herzen der Menschen. Und gelegentlich kommt die Wut dazu. Eine stille Wut. Eine Wut, die sich nach innen kehrt. Manchmal igeln sich Menschen dann ein. Sie möchten keinen Rat und auch keinen Trost. Sie möchten mit sich alleine sein. Manchmal aber möchten Menschen einfach in den Arm genommen werden, ohne etwas sagen, etwas hören zu müssen. Zusammen still zu sein, ist eine Kunst. Dann wärmt die Nähe.
Eine andere Hiobsbotschaft jährt sich gerade. Vor einem Jahr wurde die Ukraine quasi über Nacht überfallen. Nach einem öffentlichen Ringen. Alte Sicherheiten – und alte Täuschungen – sind auseinander gefallen. Blöcke türmen sich jetzt auf. Feindbilder werden geputzt. Unendlich viele Menschen sterben, viele sind geflohen, viele verlieren alles. Wenn es doch nur eine Hiobsbotschaft gäbe! Aber – die eine gebiert immer neue.
Eine Hiobsbotschaft ist noch ganz frisch. Eine? Im Stundentakt vermehrte sie sich. Die Erde bebte in der Türkei und in Syrien. Häuser fielen in sich zusammen und begruben Menschen im Schutt. Fassungslos sprechen Menschen auch von Schuld. Und von Schuldigen. In den Opferzahlen verschwinden Gesichter und Geschichten. Was sagen schon Zahlen? Dreißigtausend, Vierzigtausend, Fünfzigtausend? Was heißt, kein Zuhause mehr zu haben? Was heißt, vergessen zu werden?
In der öffentlichen Wahrnehmung müssen Hiobsbotschaften sich mit dem Sekundentakt begnügen.
In den Nachrichtensendungen auch. Danach geraten die schlimmsten Szenen und entsetzlichsten Geschichten sogar ins Hintertreffen. Es gibt zu viele. Jeden Tag.
Manchmal höre ich nicht mehr zu.
Aber ist das nicht auch eine – Hiobsbotschaft?

Der siebte Tag
Sich mit einer Situation abzufinden, das Schicksalhafte anzunehmen und das Unerklärliche zu akzeptieren, kann keinem Menschen auferlegt werden. Hiob wird mit seinen Freunden noch große Dispute darüber führen. Das heben wir uns für eine andere Gelegenheit auf.
Dass Schweigen sehr böse werden kann – oder auch böse enden, haben Menschen oft schon leidvoll erlebt. Als sie Nähe suchten, bekamen sie Distanz, als sie auf Verstehen hofften, schlug ihnen Desinteresse entgegen. Wenn Abstände entstehen, über die keine Brücke führt, gibt es keinen Weg. Die, der – da. Ich – hier. In diesem Schweigen gehen Menschen unter. Ich müsste schreien! Aufstehen!
Der Hiob in der Asche ist nicht alleine. Er geht nicht unter. Seine Freunde sind schweigend im Gespräch mit ihm vertieft. Was sie verbindet, braucht keine Worte. Eine große Ruhe stellt sich ein. Gedanken klären sich, Ängste werden abgewogen und neue Perspektiven tun sich auf. Schweigen erweist sich als Offenbarung. Im Schweigen hat sich Gott selbst offenbart. Da verstummte der Sturm. Da verebbte das Feuer. Und Gott ging den Menschen voraus.
Übrigens: Wenn von sieben Tagen und sieben Nächten die Rede ist, ist der siebte Tag Schabbat. Der Tag der Ruhe. Die Anspannung fällt ab. Ein tiefes Durchatmen. Am siebten Tag ruhte Gott und schaute auf sein Werk. Auf seine Schöpfung. Auf die Menschen. Jetzt wächst in dem Schweigen ein neuer Weg. Ein neuer Anfang.  Eine neue Schöpfung.

Glaubensbekenntnis
Die Geschichte von Hiob hat den Weg in die Bibel geschafft. Ein umfangreiches  Buch ist daraus geworden. Das Buch Hiob. Mit den Fragen, die uns immer noch umtreiben und immer wieder neu: Warum es Leiden gibt? Warum Ungerechtigkeit? Warum einen ungerechten Gott? Warum – Hiobsbotschaften?
Hiobs Frau spricht aus, was der Zweifelsäer längst erwartet und mit bestechender Logik vorgebracht hat: Jetzt hast du nichts mehr, lieber Hiob – lass es gut sein, schwör ab, fluche Gott, stirb! Es gibt nichts, was dich hält. Es gibt nichts, was uns hält. Wir sind am Ende!
Und Hiobs antwortet:
„Du redest, wie die törichten Frauen reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“
Es ist ein Satz. Kein Wort ist zu viel. Man hört den Atem.
Hiob klagt nicht darüber, was ihm genommen wurde, was verloren ging, was ihn geschlagen hat. Hiob fragt auch nicht: Warum?
Hiob schaut auf Gott. Wir ihm empfangen wir Gutes. Von Anfang an.  Er ist die Quelle des Lebens. Schöpfer der Welt. Fels in der Brandung. Burg im Gebirge. Licht der Welt.
Hiob überrascht uns mit seinem Glaubensbekenntnis. In der Situation. Er hockt in der Asche. Von Kopf  bis Fuß ist er gezeichnet. Aber seinen Glauben hat er nicht verloren, er hat ihn sich auch nicht nehmen lassen, er wird von ihm getragen. Wir könnten sogar Dankbarkeit heraushören, aber das ist vielleicht doch zu gewagt.
Dass Gott Hiobs Bekenntnis hört, wird nicht erzählt – dass es der geheimnisvolle Gegenspieler wenigstens zur Kenntnis nimmt, auch nicht. Wir aber hören es! Es ist für unsere Ohren! Wir haben Gutes empfangen! Das Leben – und Gottes Treue!
Paulus wird viele Jahrhunderte später in seinem Brief an die Gemeinde in Rom auf Hiob Bezug nehmen: Wer hat Gott etwas gegeben, das er es ihm vergelten müsste? Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! (Röm. 11,35f.)

Hiobs Botschaft
In einer langen Geschichte, die hier nicht nacherzählt werden kann, ist mit den Hiobsbotschaften die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes gestellt. Das große Wort heißt: Theodizee. Nach dem Erdbeben von Lissabon, 1755, wurde die Warum-Frage öffentlich diskutiert. Zum ersten Mal gab es durch die damals aufbrechenden Medien eine große, fast weltweite Anteilnahme. Warum geht eine so große und bedeutende Stadt unter? Was haben die Menschen denn getan? Warum gibt es überhaupt so viel Ungerechtigkeit in der Welt? Warum keine Barmherzigkeit?
Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama mögen zwar schweigen, aber sie – sie sehen.  Ausdrücklich, eindrücklich weiß die Geschichte davon zu erzählen. Die Freunde sehen das große Leid.  Sie sehen  aber auch den Glauben. Die Freunde teilen sieben Tage und Nächte mit Hiob. Sie teilen mit ihm auch sein Vertrauen. Mit ihren Augen heben sie Hiob aus dem Staub, tragen ihn aus der Asche. Hiob wird gesehen. Hiob wird wahrgenommen. Was der Zweifelsäer mit Gott besprochen hat, wissen die Freunde nicht. Sie können es nicht einmal ahnen. Nur: Das letzte Wort bekommt das Leiden nicht. 
Den Hiobsbotschaften gesellt sich Hiobs Botschaft zu: Ich halte mich an Gott fest, ich lasse mich von ihm halten, mit ihm gehe ich in ein neues Leben.
Dieser Glaube kann in einem Schweigen wachsen und schließt dann neue Worte auf.

Sie kennen die drei jetzt! Ihre Namen können nicht vergessen werden: Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama. Hiobs Freunde kommen von weit her, sie bringen die große Welt mit – oder: die große Welt macht sich auf, das Leid eines Menschen mitzutragen. Hiob ist kein Häufchen Elend. Der Glaube trägt ihn. Die Asche, auf die er hockt, riecht nach neuem Leben.

Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Manfred Wussow

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich sehe Menschen vor mir, die mit ihrem Schicksal, mit ihrem Leben hadern. Und ich sehe Menschen vor mir, die mit der Warum-Frage kämpfen, aber Frieden finden. Hiob ist ein besonderer Gesprächspartner, auch in der Stille. Wenn seine Freunde dazu kommen, wird der Gottesdienst komplett.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Hiob! Beflügelt hat mich u.a., dass die Predigt Station auf einem Weg ist – vom Psalm über das Kyrie bis hin zu den Fürbitten und dem gemeinsamen Abendmahl. Insofern wird Hiob Gast in einem großen Programm und Gesprächspartner Jesu auch. Dass nur die Predigt veröffentlicht wird, ist ein Manko.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mehr Hiob! Das Buch ist eine Fundgrube, seelsorgerlich, literarisch, philosophisch und theologisch. Selbst säkulare Zeitgenossen können sich mit Hiob gut auseinandersetzen und vielleicht Gott entdecken. Wenn nicht, tauchen sie in eine große Geschichte ein, die ihre Spuren auch in der Weltliteratur hinterlassen hat.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach (oder Coachin) hat kluge Fragen gestellt. Das „stille“ Gespräch mit ihr hat der Predigt gut getan. Jede Leserin, jeder Leser, begibt sich ohnehin auf eine eigene Reise.

Perikope
26.02.2023
2,1-13