Sind wir nicht angemessene Ersatzgäste?
Einer, der mit zu Tisch saß, sprach zu Jesus: Selig ist, der das Brot isst im Reich Gottes! Er aber sprach zu ihm: Es war ein Mensch, der machte ein großes Abendmahl und lud viele dazu ein. Und er sandte seinen Knecht aus zur Stunde des Abendmahls, den Geladenen zu sagen: Kommt, denn es ist alles bereit! Und sie fingen an alle nacheinander, sich zu entschuldigen. Der erste sprach zu ihm: Ich habe einen Acker gekauft und muss hinausgehen und ihn besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der zweite sprach: Ich habe fünf Gespanne Ochsen gekauft und ich gehe jetzt hin, sie zu besehen; ich bitte dich, entschuldige mich. Und der dritte sprach: Ich habe eine Frau genommen; darum kann ich nicht kommen.
Und der Knecht kam zurück und sagte das seinem Herrn. Da wurde der Hausherr zornig und sprach zu seinem Knecht: Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen, Verkrüppelten, Blinden und Lahmen herein. Und der Knecht sprach: Herr, es ist geschehen, was du befohlen hast; es ist aber noch Raum da. Und der Herr sprach zu dem Knecht: Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, dass mein Haus voll werde. Denn ich sage euch, dass keiner der Männer, die eingeladen waren, mein Abendmahl schmecken wird.
Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei. Der Tisch ist festlich gedeckt. Blumen, Kerzen, gestärkte Servietten, funkelnde Gläser, glänzendes Silber. In der Küche dampft es über den Töpfen, die Platten sind angerichtet, die Schüsseln vorbereitet. Die Gläser für den Aperitif warten auf Tabletts. Der Bote sagt, dass wir kommen sollen. „Kommt, denn es ist alles bereit!“ Wir sind eingeladen. Uns hat der Bote gesagt, dass wir kommen sollen – uns! Wir? Bisher war von uns noch nie die Rede. Aber wir sind offensichtlich gemeint.
Die uns weniger freundlich gesonnenen Kommentatoren sagen uns, dass wir nur Ersatzgäste sind. Sie erzählen uns, dass eigentlich andere kommen sollten, aber abgesagt haben. Von dem einen heißt es, dass er wegen eines größeren Vertragsabschlusses nicht kommen konnte. Irgendeine Immobiliengeschichte. Saß vielleicht noch im Flieger. Solche Leute werden ja ohnehin dauernd eingeladen. Darum würde so einer wahrscheinlich das köstliche Mahl gar nicht schätzen. Wenn sich solche Leute an einen festlich gedeckten Tisch setzen, dann haben sie immer noch ihre Geschäfte im Sinn – von Familienfeiern vielleicht abgesehen. Es heißt, er habe sich immerhin entschuldigen lassen. Gute Manieren haben sie in der Geschäftswelt – das muss man ihnen zugestehen. Doch das Fest geht bis Mitternacht, er hätte doch alle Zeit der Welt gehabt, um noch nachzukommen und mitzufeiern. Wahrscheinlich wollte er von vornherein nicht kommen. Er verachtet den Gastgeber. Auf so einen Gast kann man also verzichten und stattdessen uns einladen.
Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei.
Es heißt, dass noch ein anderer aus der Geschäftswelt eingeladen war und auch nicht gekommen ist. Dem Vernehmen nach war der aus der Logistikbranche und hatte noch mit der Anschaffung seiner neuen Wagenflotte zu tun. Der war vom gleichen Schlag wie der mit den Immobilien. Schade, dass das Geschäftsleben so abfärbt. Man muss echt aufpassen, dass man nicht auch so wird. Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei. Ein Dritter war noch eingeladen. Der hat sich nicht einmal entschuldigt. War beim Anwalt, um den Ehevertrag mit seiner künftigen Frau zu unterschreiben. Die Anwälte empfehlen das heute ja auch wieder. Hat man Vermögen, schließt man so für den Fall aller Fälle jeden Streit aus. Liebe ist gut, aber besser ist es doch, man sichert sich ab. Wer nur Verträge im Kopf hat, denkt natürlich nicht daran, sich zu entschuldigen.
Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei.
Warum in aller Welt hat der Gastgeber nur diese vermögenden Geschäftsmenschen eingeladen? Hat er nicht gewusst, dass sie arrogant bis in die Haarspitzen sind? Hat er nicht geahnt, dass sie ihn höflich lächelnd abblitzen lassen? Oder hat er ihnen eine Chance gegeben, obwohl sie so sind, wie sie sind? Hat er gehofft, dass sie hinter der arroganten Fassade herzliche und interessierte Menschen sind. Er hat wohl hinter ihrem fleißigen und glatten Auftreten eine große Sehnsucht gespürt. Hat er gesehen, wie verletzlich auch die Herzen von harten Hunden sind. Unser Gastgeber muss so hoffnungsvoll gewesen sein, so unerschütterlich vertrauensvoll.
Aber es war kein Versehen von den dreien. Sie sind mit voller Absicht weggeblieben. Sie wollten unseren Gastgeber kränken.
Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei.
Ob sie damit gerechnet haben? Sie haben unseren Herrn gekränkt und provoziert. Ob sie dachten, dass der sich dann eben allein hinsetzt, weint und seinen Wein alleine trinkt? Oder dachten sie, er würde es einfach so hinnehmen. Was kann man tun, wenn die Gäste einen versetzen? Sie haben ihn gekränkt und er ist zornig – mit vollem Recht.
Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei.
Nein, das Mahl hat noch nicht begonnen und unser Herr trinkt seinen Wein auch nicht allein. Er zeigt lieber, wie göttlicher Zorn aussieht. Auf die Schnelle werden die eingeladen, die noch nie von Meißner Porzellan gegessen haben, die nicht wissen, was Messerbänkchen sind, die noch echten Hunger kennen und deren Geschmack nicht zwischen den erlesenen Weinen unterscheiden kann. So etwas passiert, wenn man den Herrn des Lebens kränken will. Das Kostbarste der Erde wird denen aufgetischt, denen bisher das Glück des Lebens vorenthalten wurde. Der Zorn richtet sich nicht gegen die, die ihn verdient hätten. Der Zorn verwandelt sich in Reichtum für die Armen, in Liebe für die Übersehenen, in Tapferkeit für die Ängstlichen, in Erfolg für die Verlorenen, in Hoffnung für die Trostlosen, in Tanzen für die Trauernden, in Glück, einfach nur Glück. Der Festsaal wird beben vom Jubel. Er wird von Lebensenergie bersten. Mit seinem Zorn schafft der verachtete Gastgeber pure Freude bei denen, die bisher kaum Freude kannten.
Hat das Mahl schon begonnen? Der Bote sagt, dass alles bereit sei. Wir wollen da auch hin, wo der göttliche Zorn eine Welle puren Glücks auslöst. Wir wollen da auch hin, wo wir trotz Erdenschwere in den Himmel tanzen, wo sich die Lebenslust nicht schämen muss, wo wir nicht mehr sein müssen als wir sind, wo es egal ist, wo wir herkommen, welche Sprache wir sprechen, wer wir sind. Wir wollen da auch hin und wir bringen auch unsere Vorfreude mit. Wir bringen unsere Hoffnung mit, unserem Herrn endlich alle Fragen stellen zu können, die uns bisher gequält haben. Wir bringen unsere Wehmut über die verlorene Zeit mit. Wir bringen unsere Schuld mit. Wir bringen unsere Sehnsucht nach Frieden mit. Sind wir nicht angemessene Ersatzgäste? Passen wir nicht gut zu denen, die bisher nur Hunger kannten? Wir kommen. Sag Bescheid, Bote, sag Bescheid, wir kommen so schnell es geht.
Hat das Mahl schon begonnen? Nein, es hat noch nicht begonnen. Der Bote ist noch unterwegs. Auf den Straßen, in Zügen, auf Plätzen, in Foren und Netzwerken, an den Raststätten, Flughäfen, Lagern, auf den Schiffen übers Mittelmeer, im Jobcenter, unter den Brücken. Der Bote muss noch weiter.
Bevor die Sonne untergeht wird unser Herr das Mahl nicht beginnen lassen. Solange können wir mit dem Boten zusammen unterwegs sein. Zwischendurch müssen wir uns noch stärken. Brot und Wein haben wir dabei. Wenn die Sonne untergeht, werden wir rechtzeitig an Ort und Stelle sein. Sicherheitshalber achten wir auf den Boten und hören, auf ihn. Wenn er dann sagt: Kommt, es ist alles bereit, dann werden wir mit ihm bei seinem und unserem Herrn ankommen und essen, trinken, tanzen, jubeln.
Amen.