„So sehr Schaf ist niemand, dass er nicht auch Hirte wäre.“ - Predigt zu Hesekiel 34,1-16 von Klaus Pantle
34,1-16

Und des Herrn Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder sie sucht. Darum hört, ihr Hirten, des Herrn Wort! So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, darum, ihr Hirten, hört des Herrn Wort! So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.  Denn so spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will sie aus den Völkern herausführen und aus den Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und wo immer sie wohnen im Lande. Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte  zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.

 

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Ein schmächtiger schwarzer Junge rennt aus dem Schulhof heraus eine abgerissene Straße entlang. Er wird verfolgt von einer Meute stärkerer Jungs. In letzter Not flüchtet er sich in ein leer stehendes Haus. Es gelingt ihm, die Tür von innen zu verbarrikadieren. Bedrohlich treten die Verfolger dagegen. Mit dieser Szene beginnt Barry Jenkins Film „Moonlight“. Dann hält die Kamera direkt auf das Gesicht des geflüchteten Kindes. Dieses blickt direkt in die Kamera und schaut von der Kino-Leinwand herab den Zuschauern unvermittelt in die Augen. Durch das Antlitz des zehnjährigen Jungen und die großen Augen in dem dunklen Gesicht sieht man direkt in sein Innerstes: Man erkennt die Ängstlichkeit, das Hilfsbedürftige und Erduldende, das Unnahbare und Schüchterne. Das Kind verharrt in seinem Versteck auch nachdem die Meute abgezogen ist. Bis es wieder an der Türe rüttelt, von außen ein Fenster herausgerissen wird, ein bulliger schwarzer Typ ins Innere steigt und das verängstigte Kind anlächelt. „Was machst du hier drin, kleiner Mann?“ Und als das Kind nichts sagt: „Sprichst du nicht mit Fremden?“ Alle Versuche des Großen, den Kleinen zum Sprechen zu bringen, scheitern. Schließlich lädt er ihn zum Essen in ein Fastfood-Restaurant ein. Amüsiert beobachtet der Große, wie der Kleine wortlos das Essen in sich hineinschlingt. Dann nimmt er ihn mit nach Hause, wo er mit seiner Freundin lebt. Noch immer ist das Kind hungrig. Es isst und schweigt. Sie lassen ihn über Nacht bei sich schlafen. Am nächsten Morgen erst sagt er, wo er wohnt und der bullige Mann bringt ihn nach Hause zu seiner Mutter.

„Moonlight“ erzählt die Geschichte von Chiron, genannt „Little“, der in Liberty City in Miami groß wird. Das ist ein Viertel voller Armut, kinderreicher Familien, Drogen und Gewalt. Und er erzählt auch von der Rolle, die Juan, der Dealer mit Brillant im Ohr und dickem Auto und dessen Freundin Teresa in seinem Leben spielen. Juan und Teresa gleichen fraglos und mit großer Zärtlichkeit etwas von dem aus, was die cracksüchtige Mutter nicht leistet. Sie schenken dem Kind Sicherheit und Geborgenheit.

Als Juan Tage später nach Hause kommt, sitzt Little in seinem Garten. Juan nimmt ihn mit zum Strand. Mit Mühe gelingt es ihm, den ängstlichen Kleinen, der nicht schwimmen kann, ins Wasser zu locken. Der Große hält den Kleinen so, dass dessen Körper schwerelos im Wasser treibt. „Ich halte dich, das versprech’ ich Dir. Ich lass’ Dich nicht los.“ Und als er es selbst schafft, sich treiben zu lassen: „Ja, du kannst es. Du bist in der Mitte der Welt.“ Juan und das Wasser tragen das Gewicht dieses kleinen Körpers mit all der tragischen Schwere, die mit seiner sozialen und sexuellen Identität einhergehen und ihn zum Mobbing-Opfer machen. Diese Szene zeigt die intime Erfahrung, den eigenen Körper in seiner Schwere zu erfahren, um diese Schwere irgendwann aufzugeben und sich anderen Menschen hingeben zu können. Dabei erinnert die Inszenierung an eine Taufe. Der „Täufer“, spanisch „ Juan“, deutsch „Johannes“, vermittelt dem Kind: „Du kannst mir vertrauen. Du kannst überhaupt vertrauen. Und du bist unendlich wertvoll.“ Zur Stärkung des Selbstwertgefühls verwendet er ein Bild aus der Erinnerung an seine eigene Kindheit auf Kuba: „Im Mondlicht wirken schwarze Jungen blau“, sagt er zu Little. Wer blau schimmert leuchtet von innen heraus.

 

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Das Bild vom Hirten und der Herde ist bis heute wirkmächtig geblieben, auch wenn den meisten von uns Hirten und Schafherden höchstens noch im Urlaub begegnen. In diesem Bild kommt eine in der menschlichen Seele tief verwurzelte Sehnsucht nach behütetem Leben zum Ausdruck. Es ist das Bedürfnis nach einer Existenz in Geborgenheit, in der ich mich sicher weiß vor Anfechtungen und Gefahren und mich in der Obhut einer Macht befinde, die die Kraft hat, sich durchzusetzen. Es ist eine Macht, die Lebensraum gewährt, wo Quellen sprudeln und ungetrübte Gemeinschaft erlebt werden kann.

Vermutlich gibt es dieses Sehnsuchtsbild seit Kain und Abel. In der altorientalischen Königsideologie, auf die sich der Prophet Hesekiel bezieht, gleicht ein guter König einem Hirten, der sein Volk bewahrt. Die äußeren Feinde wehrt er ab, im Inneren sorgt er für Recht und Gerechtigkeit und sichert die Lebensgrundlagen. Wirkmächtig ist über die Jahrhunderte auch die antike Vorstellung vom Land Arkadien geblieben, von dieser Idylle, wo Schäferinnen und Schäfer in trautem Glück mit ihren Tieren in einer traumhaft schönen Landschaft leben. Noch in der Romantik träumt man von diesem Land, wo die Zitronen blühen.

Allerdings grätschen alttestamentliche Propheten mit brutalem Realitätsbewusstsein in diese Bildwelt hinein und weisen auf ihre dunkle Rückseite hin. Hesekiel zeichnet das Bild von den schlechten Hirten und kritisiert auf allgemeingültige und zeitlose Weise alle, die in der religiös-politisch-sozialen Verantwortung stehen und diese missbrauchen: Im Blick auf das Israel seiner Zeit sind das König, Priester, Propheten, Adlige und Älteste. Sie sind schlechte Hirten, narzisstisch auf das eigene Wohlbefinden bedacht, stets in Sorge für sich selbst statt für die ihnen anvertraute Herde. Für sie „ist die Herde der Befehle empfangende Mensch“ (Sema Kaygusuz), über dessen Körper sie bedingungslose Macht ausüben. Deshalb werden diese schlechten Hirten dem göttlichen Gericht unterworfen. Gott entzieht ihnen das Hirtenamt und macht sie zu Nichten. Denn ein Hirte ist ohne seine Herde nichts.

 

Die menschliche Grunderfahrung der Orientierungs- und Schutzlosigkeit kennt jeder. Manche suchen darin einfache Antworten und laufen Menschen nach, die einfache Antworten geben. Das gilt im politischen wie im religiösen Bereich. Das scheint erst einmal bequem zu sein, aber das geht selten gut aus. Allzu oft betrügen solche Führer die Herde, die aus einfältiger Sehnsucht nach Sicherheit ihnen alle Macht übertragen hat, und führen sie in den Abgrund. Insofern ist das Bild vom Hirten und der Herde auf Menschen übertragen immer zwiespältig. Ohne Zweifel brauchen wir Menschen, die uns in bestimmten Situationen unseres Lebens helfen, unseren Weg zu finden. Aber solche Hirtinnen und Hirten sind zumeist Menschen, die vielschichtige und durchaus widersprüchliche Persönlichkeiten sind wie zum Beispiel der Dealer Juan aus dem Ghetto. Sie lassen sich nicht einem eindeutigen Muster „schwarz-weiß“ oder „gut-böse“ zuordnen.

 

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Hesekiel bringt in seiner Gerichtsansage über die schlechten Hirten Gott ins Spiel. Nur er ist in der Lage, die Situation zu klären, Rettung herbeizuführen und Heil zu schaffen. Gott selbst setzt heilsame Seelsorge an seinen Menschen ins Werk. Nicht um das Ausnützen von Menschen geht es, sondern dem einzelnen Menschen zu jener Würde zu verhelfen, die ihm aufgrund seiner Erwählung von Anfang an zukommt. Hirtensorge richtig verstanden ist das aufrichtige Interesse am Menschen, an seinem Lebensweg und an seiner Lebensgeschichte, ohne Hintergedanken und Nebenabsichten. Gott selbst führt seine Menschen hinein in einen Lebensraum, in dem Lebensfülle möglich ist.

Das Klischeebild vom Hirten, der voran geht und dem die Herde nachfolgt, geht sowieso an der Realität vorbei. Ein guter Hirte geht nicht vor der Herde her, sondern hinter ihr. Er hält seine Tiere im Blick. Und weil er alle im Blick hat, merkt er, wenn ein Schaf verloren geht. Auch die Schafe sind nicht so dumm, dass sie ohne Hirten völlig hilflos wären. Es gibt Beispiele, wo Hirten im Gebirge in dichtem Nebel von ihrer Herde über Abgründe zum Ziel geführt wurden. Und es gibt erfahrene Mutterschafe, die versprengte Herdenteile durch gefährliche Landschaften hindurch auf sichere Weidegründe führen. Die Hirten- und Herdenwirklichkeit ist komplexer als man denkt.

 

Jesus hat das vielleicht besser begriffen als jeder andere. Jesus ist Hirte und Lamm zugleich. Sein Hirtenamt übt er aus, indem er sich in die Herde einreiht. Er wird Lamm, um aus Lämmern und Schafen Hirtinnen und Hirten zu machen. Insofern sind wir als Glaubende Schafe, aber auch Hirten. „So sehr Schaf ist niemand, dass er nicht auch Hirte wäre“ (Karl Friedrich Ulrichs). Jesus lebt uns die richtige Hirten-Haltung vor: die „Misericordia Domini“. „Misericordia“ heißt „Trauerherzigkeit“. Das ist die Fähigkeit, Schwache und ihre Schwäche wahrzunehmen, berührt zu sein vom Elend und von der Verletzlichkeit ihres Körpers und ihrer Seele. Und es ist die Bereitschaft, mit ihnen zu trauern und ihnen zu helfen, sich aufzurichten. Am Beispiel des auferstandenen Gekreuzigten und seiner Trauerherzigkeit wird deutlich, wie Gott in unsere komplexe Welt hineinwirkt und Menschen aufrichtet: „Die Ehre Gottes ist der aufrechte Mensch“ (Irenäus). Das gilt ausnahmslos für alle seine Geschöpfe, aber ganz besonders für die Schwächsten unter ihnen: die Kinder. Wenn nicht in einem Ghetto in Miami, sondern in einer reichen Stadt wie München morgens 3000 hungernde Kinder in die Grundschule kommen, dann ist das ein Zeichen dafür, dass bei uns etwas nicht stimmt. Es ist gut, wenn Ehrenamtliche „Trauerherzigkeit“ zeigen und für solche Kinder Frühstück organisieren. Kein hungerndes Kind ist in der Lage zu lernen. Aber da bräuchte es schon grundlegende sozialpolitische und bildungspolitische Entscheidungen, um diesen Kindern gerecht zu werden. Hirtinnen und Hirten, die hier Verantwortung übernähmen, müssten sich auf die göttliche Perspektive auf diese Kinder einlassen. Gelänge ihnen das, dann würden möglicherweise auch ihnen ganz neue Erfahrungen zuteil. Vielleicht könnten auch sie dann sagen: „Ich hörte das Lachen eines Kindes und sah in der Landschaft einen Bogen“ (Peter Handke).

 

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Grundsätzlich geht es für uns heute in all dem Getümmel in unserer komplex gewordenen Welt nicht darum, einen perfekten Hirten zu finden oder perfekte Hirtin oder ideales Schaf zu sein. Es geht darum, in dynamischem Wechsel, je nach Situation, beide Eigenschaften zu leben.

Der Film „Moonlight“ zeigt die Entwicklung des kleinen „Little“ zum muskelbepackten Dealer, der sich „Black“ nennt, mit Brillant im Ohr und edlem Retromobil. Am Ende des Films sitzt er mit seinem Kindheits- und Jugendfreud Kevin am Tisch eines schäbigen amerikanischen Diners. Kevin war der einzige, der ihm in der Schule half. Und er war der einzige Mensch, mit dem er jemals eine Liebesszene hatte, als Jugendlicher am Strand. Aber Kevin hat ihn danach an den Schul-Mob verraten. In der letzten Dialogszene des Filmes finden nach langer Zeit zwei Menschen wieder zusammen, die noch etwas vom jeweils anderen brauchen und die dem jeweils anderen noch etwas geben können. Und so öffnet sich für beide überraschend ein neuer Lebensraum.

Das ist vielleicht das Berührendste an dieser Geschichte: wechselseitiges Geben und Nehmen ist selbst durch Scheitern hindurch und darüber hinaus möglich. Man kann einander Hirtin und Hirte sein in fragmentarischem Gelingen. Selbst durch Misslingen hindurch kann man lernen, sich hinzugeben. Selbst unter unmöglichen Umständen sind Wärme und Zuneigung möglich. Vertrauen kann erfüllt werden. Jesu Geist setzt sich durch und gewinnt Gestalt in Menschen. Ein Raum öffnet sich. Sicherheit und Geborgenheit sind spürbar. Sogar Liebe wird Wirklichkeit. Leben in Fülle ist möglich.

 

Hinweise:

„Moonlight“, Regie: Barry Jenkins, USA 2016, nach dem Theaterstück: „In Moonlight Black Boys Look Blue“ von Tarell Alvin McCraney

Sema Kaygusuz, Der Wahn des Drachen, Süddeutsche Zeitung 22./23.03.2017, S. 18

Karl Friedrich Ulrichs, Göttinger Predigtmeditationen 71/2017, S. 238

https://www.brotzeitfuerkinder.com/

Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts, Frankfurt/M. 1985, S. 202

Perikope
30.04.2017
34,1-16