So soll es nicht mehr sein! - Predigt zu Jesaja 54,7-10 von Peter Haigis
54,7-10

„So soll es nicht mehr sein!“

Liebe Gemeinde,

„Wo ist Gott?“ – so fragen Menschen, wenn das Leben Wunden schlägt. Da stirbt ein geliebter Mensch und der Partner oder die Partnerin steht plötzlich leer und verloren da. „Es ist kalt geworden in meiner Wohnung“, sagt mir jemand, „kalt auch in meinem Leben.“ Da bringt ein unvermuteter Unfall die gewohnten Abläufe durcheinander; da wendet eine Krankheitsdiagnose alle Zuversicht und endet gemeinsam geschmiedete Pläne; da schneidet der Tod hart und grausam ins Leben…

Nach Beispielen für derlei Erfahrungen müssen wir nicht lange suchen. Und immer fehlen die Worte, das Unfassbare zu benennen. Es fehlt der hoffnungsvolle Blick nach vorne. Es fehlt das Gefühl, im Leben zuhause sein zu dürfen. Im Gegenteil: Die Hütte des Lebens bekommt Risse, bekommt einen Schlag, ist einsturzgefährdet.

„Wo ist Gott?“, fragen Menschen in solchen Situationen oder auch: „Warum ich?“ So fragen wir im Angesicht des Leids, das uns selbst widerfährt oder dessen unmittelbare Zeugen wir werden. Es sind Fragen, die zum Ausdruck bringen, dass man sich hinauskatapultiert fühlt aus dem Leben und ungeborgen, unbehaust geworden ist. Und es sind Fragen, auf die es keine Antwort gibt – jedenfalls keine Antwort, die einfach so zu formulieren wäre wie die Frage selbst. Die möglichen Antworten auf diese Fragen können nur im und mit dem Leben selbst gegeben werden. Sie stellen sich ein, werden formuliert und gewonnen im Laufe eines lange währenden Prozesses, für den es viel Geduld braucht und der auch kein geradliniger Weg ist, sondern bei dem es ein Hin und Her, ein Auf und Aber, ein Vor und Zurück gibt.

Im Angesicht solcher Fragen, die sich mangels anderer Worte aufdrängen, ist es deshalb entscheidend, ob am Ende der Frage ein bloßes Fragezeichen steht, oder gar mehrere, oder ob es einen Doppelpunkt gibt, der über die Frage hinaus führt und hinein, ja zurück ins Leben.

Die Frage „Wo ist Gott?“ wurde und wird nicht nur im Blick auf individuelle Schicksalserfahrungen gestellt. Sie ist immer wieder auch Ausdruck für die Erfahrung einer Gruppe von Menschen, einer Sozialgemeinschaft, einer Generation. Die Älteren unter uns, die noch lebendige Erinnerungen an die Jahre des letzten Krieges oder an die unmittelbare Nachkriegszeit haben, werden sich daran erinnern, wie die Frage nach der Gegenwart Gottes Ausdruck für das Lebensgefühl einer Volks- und Schicksalsgemeinschaft geworden ist. Die ängstigenden Bombennächte in den Schutzbunkern oder die kargen Hungerwinter in den Ruinen drängten vielen diese Fragen auf: „Wo ist Gott?“ oder auch: „Warum müssen wir dies erleben?“

Von einer solchen schicksalhaften und niederschmetternden Erfahrung einer ganzen Volksgemeinschaft sprechen auch die Worte, die der Prophet Jesaja hier im Namen Gottes hörbar macht. Indirekt sprechen sie davon, rühren diese Erfahrungen noch einmal auf. Die Zeiten des Krieges, der Eroberung und Verschleppung sind vorüber, lange vorüber. Doch die Erinnerung daran sitzt noch in den Knochen. Da war das Gefühl, von Gott verlassen zu sein, übermächtig und die Empfindung, Gott habe sein Angesicht verborgen, stark.

Aber nun ist dies alles vorbei, ist Vergangenheit – und der Prophet wendet den Blick im Namen Gottes in eine neue Zukunft. Er malt den zerschlagenen Volks- und Leidensgenossen ein strahlendes Bild von Gottes neuer Zukunft vor Augen. Aus der drückenden Perspektive ihrer Leiderfahrungen heraus sollen Menschen wieder auf- und nach vorne schauen können. Sie sollen aufatmen dürfen. Ihre verletzten und geschundenen Seelen sollen Beruhigung, Zuversicht, ja Heilung erfahren.

Wie gesagt, dies ist ein Weg im Leben, manchmal sogar ein besonders langer und mühsamer. Man kann eigentlich wenig über ihn sprechen, jedenfalls nicht im Rahmen einer Predigt. Es ist ein therapeutischer Weg, ein Weg, der Begleitung erfordert, sicher auch Worte, die trösten und ermutigen, vor allem aber, Hände, die einen wohltuend berühren und stützen, oder einfach auch nur Ohren, die offen sind für all die Klagen, und die zuhören, lange geduldig zuhören. Solch ein Weg zurück ins Leben braucht Zuspruch und viel spürbare Gegenwart von anderen Menschen, die einfach nur da und nahe sind.

Aber über etwas anderes kann und muss gesprochen werden in dieser Predigt über Jesajas tröstende und aufmunternde Worte, die er im Auftrag Gottes seinem Volk übermittelt: Ist die Abwesenheit Gottes, die da so bitter erfahrbar war, ein Gefühl, eine Empfindung in mir – oder ist sie eine Tatsache? Hat sich Gott wirklich abgewandt und verborgen oder habe ich / haben wir dies „nur“ so empfunden? Und wenn ja: Welchen Grund hatte Gott, sich von mir / von uns abzuwenden? Warum hat er sich verborgen, sich aus meinem Leben zurückgezogen?

Die Worte, die Jesaja im Namen Gottes wieder- und weitergibt, sprechen in der Tat davon, dass es Gottes Abwesenheit im Leben von Menschen gibt. Dass Gott sich also von uns Menschen zurückzieht, sich verborgen hält, sich gerade nicht von ihnen finden lassen will und sie nicht hört: „Ich habe dich verlassen“, „ich habe mein Angesicht vor dir verborgen“. Das ist nicht nur ein Gefühl, es ist hier eine Tatsache, die ihren Grund im Handeln Gottes selbst hat.

Nimmt man diese Worte ernst, dann geht die Geschichte eben nicht aus wie in jenem anrührenden Bild von den Spuren im Sand. Dann ist es nicht nur ein Wahrnehmungsproblem, dass wir in schweren Zeiten des Lebens Gottes Spuren neben uns nicht mehr gesehen haben bzw. seine Spuren in den Zeiten, in denen er uns getragen hat, nur einfach nicht erkannt haben. Dann gibt es kein tröstliches Aufatmen am Ende. Sondern es ist wirklich so: „Ja, ich, Gott, habe dich verlassen; hier und da war ich nicht anwesend, habe dich nicht begleitet.“

Aber ist das Gott, so wie wir ihn kennen gelernt haben und auf ihn vertrauen? Müssen wir dies und müssen wir so an ihn glauben, dass es eben auch Zeiten seiner Abwesenheit und Verborgenheit in unserem Leben gibt? Zeiten, in denen er sich fernhält, ganz bewusst fernhält?

Da ist es ein kleiner Trost zu wissen, dass die Zeiten seiner Gnade und seines Erbarmens größer sein sollen als die Zeiten seiner Abwesenheit und Verborgenheit. So kann das Leben doch nicht ausgehen: wie eine Bilanz, die uns aufzeigt, wie viele Male Gott uns im Leben nahe und wie viele Male er uns ferne war!

Jesajas Worte sprechen aber nicht nur von Gottes tatsächlicher Abwesenheit, sie nennen auch einen Grund hierfür: in seinem Zorn hat sich Gott von den Menschen abgewandt und sich verborgen gehalten. Mit dieser Stimme ist Jesaja nicht allein. Viele andere Stellen der Bibel führen den Zorn Gottes als Grund für seine Verborgenheit ins Feld. Da ist es dann mit der Gnade und dem Erbarmen vorbei – und Menschen bekommen eine frostige und dunkle Seite Gottes zu spüren. Psalmen sprechen von dieser Erfahrung bzw. bitten darum, Gott möge sich nicht in seinem Grimm und Zorn offenbaren.

Immer wieder waren der Zorn Gottes und die Schuld des Menschen ein Erklärungsmodell für erfahrenes Leid. Die Frage „Warum ich?“ sollte die Antwort erhalten: „Weil du dir dies oder jenes hast zu Schulden kommen lassen und nun dafür büßen musst.“ Die Frage „Wo ist Gott?“ sollte die Antwort erhalten: „Er hat sich von dir abgewandt in seinem Zorn.“

Ob solche Antworten im Prozess der Bewältigung von Leid wirklich hilfreich sind, darf man fragen. Ob auf diese Weise mit dem erfahrenen Leiden besser umzugehen ist, wenn man zudem auch noch eine mögliche Schuld zu bearbeiten und zu bewältigen hat – ich bezweifle es. Und meine Zweifel rühren nicht nur aus einem Unbehagen über einen derart gnadenlosen Gott, der uns Leid zufügt, damit wir uns unserer Schuld stellen bzw. der sich aus Zorn weigert, uns auf dem Weg der Bewältigung von Leid und Schuld zu begleiten. Meine Zweifel haben ihren Grund in den Worten Jesajas selbst. Denn Jesaja kündigt hier im Namen Gottes eine grundstürzende Wende an. Sie steht unter der Generalüberschrift: „So soll es nicht mehr sein!“

Um seinen Wort Nachdruck zu verleihen, verweist Jesaja im Namen Gottes auf die Sintflutgeschichte: Zu Zeiten Noahs, in grauer Vorzeit also, da mag es so gewesen sein. Da gingen die Wasser über die Erde und vertilgten alles Leben auf ihr – aus Gründen des Zornes Gottes, wie uns die Geschichte erzählt. Doch dann schwor Gott, solches Unheil nicht mehr über die Erde zu bringen, und der Regenbogen sollte die Menschen an dieses Gelöbnis Gottes erinnern.

Zu Zeiten dieses Jesajas, der hier vor seinen von Kriegserfahrungen und Gefangenschaft gedemütigten Volksgenossen auftritt, kündigt sich nun eine ähnliche Wende in Gott selbst an und ein ähnliches Versprechen: „Mit meinem Zorn ist es vorbei“, sagt Gott. „Mit ihm brauchst du nicht mehr zu rechnen.“ Zum Zeichen für das Ende des Zornes Gottes mit seinem Volk richtet sich der Blick auf die Festigkeit und Unerschütterlichkeit der Berge. Sicher, da mag es noch manches Grollen geben, aber sie werden eher in sich zusammenstürzen als Gottes Gnadenbund.

Und heute? Heute leben wir in den Zeiten nach Noah und nach Jesaja. Heute gilt dies für uns: Wir sollen uns an Gottes Erbarmen und an seine Gnade halten. In Erfahrungen des Leids sollen wir nicht mit Gottes Zorn rechnen und uns das Hirn über mögliche Schuld und Strafe zermartern. Das bedeutet nicht, dass die Schuld klein geredet wird. Es bedeutet nur, dass es mit der unseligen Verquickung von Schuld und Leid ein Ende hat, ein definitives Ende: So soll es nicht mehr sein! Sondern so: Wo wir Schuld in unserem Leben erkennen, da sollen wir sie im Vertrauen auf Gottes Vergebung bekennen. Und wo uns das Leiden trifft, da sollen wir im Vertrauen auf Gottes Kraft diesen schweren Weg annehmen und ihn gehen. In aller Geduld und in aller Gewissheit um Gottes Nähe, die so unverbrüchlich ist wie die Gestalt der Berge, ja, noch unerschütterlicher. Amen.

Perikope
30.03.2014
54,7-10