Liebe Gemeinde,
im Mai 1985 stehe ich mit zwei Freunden auf einer kleinen Bergstraße, die in das rumänische Retezat-Gebirge führt. Hinter uns liegen 18 Monate Armeezeit in der NVA. Vor uns liegen die Berge, da wollen wir wandern und die Freiheit genießen. Ein klappriger LKW hält, wir steigen auf zu den anderen Mitfahrenden auf der Landefläche, Menschen aus dem Bergdorf, die zum Feierabend nach Hause fahren. Zerfurchte, müde Gesichter. Mit wenigen Worten verständigen wir uns.
„Wo kommt ihr her?“, fragt einer.
„Aus Deutschland.“
„Da war ich mal“, antwortet ein älterer Mann.
„Im April 1945.“
Wir schauen uns an und wissen Bescheid. Der deutsche Krieg hat dafür gesorgt, dass es diesen einfachen Mann aus den rumänischen Bergen in die fast 1500 km entfernte deutsche Hauptstadt verschlug. Er schaut stumm vor sich hin, da auf der LKW-Ladefläche, die Erinnerungen sind da, vierzig Jahre später. Wir Jungen, 20 Jahre alt, wecken Erinnerungen, Erinnerungen an Krieg und Grauen.
All das, liebe Gemeinde, ist heute neu präsent mit den Bildern und Berichten aus der Ukraine. Bomben auf Häuser, Krankenhäuser, Schulen, Gärten. Menschen voller Angst in Kellern, flüchtende Mütter mit dem Kind an der Hand. Frische Gräber, massenhaft.
Die Erinnerungen der Generation sind da. Meine Mutter, 9 Jahre alt mit drei Schwestern und der Mutter auf dem Pferdewagen im Februar 1945 auf der Flucht von Westpreußen gen Westen. Von Dorf zu Dorf. Eine verschworene Gemeinschaft. Es ging ums Überleben. Sie hatten Glück und kamen unversehrt an in einem Dorf in Mecklenburg. Der Krieg war zu Ende. Prägende Erfahrung für ein ganzes Leben: Todesangst, Bewahrung, verlorene Heimat, verlorene Sicherheit. Viele Menschen aus dieser Generation blieben nach dem Verlust der Heimat Fremde ihr Leben lang. Ihre Überlebensstrategie: Zähne zusammenbeißen, Gefühle außen vor lassen, sonst droht der Zusammenbruch, lieber auf sich selbst verlassen, als von anderen abhängig sein, Einsamkeit. Das gaben sie weiter an die nächste Generation.
Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern und Kindeskindern sind die Zähne stumpf geworden.
Auf der Bergstraße in Rumänien an diesem Maiabend habe ich erfahren, wie mich dies betrifft.
Einfache Wahrheiten gibt es da nicht. Wer ist schuld an den Verbrechen der Deutschen? Was hat das mit mir zu tun, zwanzig Jahre nach Kriegsende geboren? Es spielt eine Rolle, was ich dazu sage, wie ich mich verhalte, vor allem gegenüber den Opfern.
Unsere Väter haben die sauren Trauben gegessen und uns Kindern sind die Zähen stumpf geworden.
So sagen die Menschen in Babylon. Sie bezahlen für das falsche Tun ihrer Väter und Mütter. Israel hat sich von Gott abgewendet und deshalb alles verloren: das Land, den Tempel in Jerusalem, den König. Und nun sitzen sie in Babylon, gefangen, ohne Heimat, ohne Zukunft. Wer trägt die Verantwortung, die Schuld?
Unsere Väter haben die sauren Trauben gegessen. Wir sind nun die Opfer der Schuld unserer Vorväter. Gefangen in Schuldverstrickung, wir können nichts tun. So sitzen die Menschen in Babylon, resigniert und wie gelähmt.
Diese Haltung kennen wir.
„Ich bin so von Kind auf geprägt. Das kann ich nicht einfach so abstreifen.“
„Als einzelner kannst du nichts tun. Du schwimmst mit. Das war schon immer so. Zwecklos, sich dagegen zu stellen.“
So heißt es im Kleinen und im Großen. Und die Folgerung: Wenn die Väter saure Trauben essen, dann müssen wir Kinder die Folgen tragen. Da steckt viel Erfahrung drin. Und auch das ist hoch aktuell: Was bedeutet der Krieg in der Ukraine für die Kinder, die den Schrecken erleben? Was bedeutet er für das Miteinander von Ukrainern und Russen in der Zukunft? Mir stehen die Kinder und Jugendliche vor Augen, die seit März in unserer Stadt leben und hier Kindergärten und Schulen besuchen. Was bedeutet es für Kinder, Opfer von sexuellem Missbrauch zu sein? Oft geschehen in Familien, in Freundeskreisen, im Sport und auch in der Kirche. Auch hier habe ich manchmal den Eindruck, dass alle Aufklärung, alle Gegenmaßnahmen so wenig bewirken. Was bedeutet unser riesiger Energieverbrauch für unsere Kinder? Die Schulkinder haben uns in den letzten Jahren diese Frage nachdrücklich gestellt. Und wir müssen Antworten finden.
Manchmal stellt sich eben auch dieses Gefühl ein. Es bleibt Lähmung und Resignation.
Unsere Väter haben die sauren Trauben gegessen und wir Kinder haben stumpfe Zähne.
Gegen dieses Denken und gegen diese Haltung erhebt der Prophet Ezechiel seine Stimme.
„Unter euch gibt es dieses Sprichwort: Die Väter haben Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne stumpf geworden. Dieses Sprichwort gilt nicht mehr in Israel. So spricht der lebendige Gott. Ab nun gilt: Jede Generation, jeder einzelne Mensch wird danach beurteilt, was er oder sie tut oder nicht tut.“ Ezechiel führt auf, worum es geht:
Jeder einzelne soll sein Brot mit dem Hungrigen teilen und den Nackten kleiden.
Jeder einzelne soll Recht und Gerechtigkeit üben.
Jeder einzelne soll sich zu Gott halten.
Und Ezechiel sagt, was jeder einzelne nicht tun soll: Andere bedrücken, Pfand und Zins fordern, Gewalt üben, des Nächsten Frau beflecken, fremden Göttern opfern. Jede Generation wird danach beurteilt, wie sie dies befolgt: Großväter und Großmütter, Eltern, Kinder, Kindeskinder. Wer falsch handelt, soll solches erkennen, umkehren und den neuen Weg gehen. Er wird am Leben bleiben. So verspricht Gott. Das ruft Ezechiel den Menschen in Babylon zu: „Ihr seid jetzt gefragt, ob ihr so handelt. Nicht eure Vorfahren bestimmen euer Leben und eure Zukunft. Ihr selbst bestimmt dies. Der Tempel in Jerusalem, die Stadt Gottes, der König sind verloren. Gott aber ist nicht verloren. Er ist da und gegenwärtig. Auch in der fremden Stadt Babylon. Er fragt dich heute. Wie lebst du? Was tust du? Ihr seid frei und ihr seid verantwortlich. Macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Schaut nicht in die Vergangenheit und in die Ferne. Schaut zu dem, der neben euch steht.“
Freiheit, Verantwortung, Lebendigkeit, Hilfe.
Liebe Gemeinde, das ist Ezechiels Botschaft.
Die Geschichte vom verlorenen Sohn und dem liebenden Vater zeigt, wie sich das im Leben eines Menschen abspielen kann. Der Sohn nimmt sich die Freiheit, er verlässt Vaterhaus, Heimat und Familie. Er riskiert vieles und verliert alles. Und dann, ganz tief unten, kehrt er um. Er geht dahin, wo er hofft, einen Ort zum Leben zu finden. Er kehrt um und geht zu seinem Vater. Dazu gehören Mut und Vertrauen. Der Vater begreift, um was es geht. Um Tod und Leben. Um Liebe und Vertrauen. Und nimmt den verlorenen Sohn auf. Er zeigt Größe und Vertrauen. Ein neues Leben beginnt. Ein neues Herz, ein neuer Geist.
Umkehr, Vergebung, neues Leben. Gibt es dazu auch Geschichten?
Die Geschichte der Flucht meiner Mutter ging weiter. Der Vater kehrte nicht aus dem Krieg zurück, er blieb verschollen. Die junge Mutter mit den vier Töchtern war auf sich allein gestellt. Sie fanden irgendwie zwei Zimmer, in denen sie notdürftig wohnten. Die vier Schwestern gingen zur Schule, erlernten einen Beruf, studierten, gründeten Familien und blieben. Sie halten zusammen bis heute. Eine verschworene Gemeinschaft. Ich bewundere die Kraft der Mutter und die Energie der jungen Frauen in der Zeit nach dem Krieg. Und ich habe kürzlich erlebt, wie das Zusammenleben nach dem schrecklichen Krieg in Europa vor 70 Jahren, zwei Generationen später, möglich wird. Ich bin unterwegs in der Erfurter Innenstadt mit einem Kirchenchor aus Nordengland. Die jüngsten Sängerinnen sind 10 Jahre alt. Wir stehen vor der Ruine einer großen gotischen Kirche mitten in der Erfurter Altstadt. Ich erzähle, wie britische Bomber die Stadt im November 1944 angriffen und viele Häuser zerstört haben. Davon zeugt diese Kirchenruine. Einer der englischen Jungs schaut mich an und sagt: „So sorry!“ „Es tut mir sehr leid.“
Die Väter haben saure Trauben gegessen.
Die Kinder wissen um deren Schuld.
Die Nachfahren von Opfern und Täter sprechen darüber.
Und gemeinsam beginnen sie neu.
Das schenkt uns Gott.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich gestalte am 3.7.2022 Gottesdienste in zwei Dörfern vor den Toren der Stadt Erfurt. Ich erwarte jeweils ca. 20 Gottesdienstbesucher. Es werden eher die Hochverbundenen sein. Ich möchte junge und alte Hörer*innen ansprechen. Es geht um Lebenserfahrungen, um Lebensgeschichten, um alte und sehr aktuelle Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich erinnere mich an Friedensgebete aus den 80iger Jahren, in denen der Spruch von den sauren Trauben eine wichtige Rolle spielte. Das Wort begleitet mich schon lange und es ist auch heute überaus sprechend. Ich habe es als spannend erlebt, die offenen Fragen mit Lebensgeschichten zu verknüpfen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das „So sorry!“ des englischen Jungen hat mich sehr berührt. Deutsche Bomber haben auch in Nordengland schreckliches angerichtet. Versöhnung ist möglich, auch über die Generationen hinweg. Wir stehen jetzt in der Verantwortung.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Coachin hat zunächst von der Wirkung der Geschichten berichtet. Geschichten sind stark und spannend. Man ist sofort drin und hört zu.
Sie hat die verschiedenen Themenstränge und Ambivalenzen wahrgenommen. Dies habe ich zunächst bewusst so in Worte gefasst. Im Abstand klärte sich dann, worauf ich mich konzentriere und welche Botschaft ich senden will.