Sabine ist vom Leben gebeutelt. Eine Behinderung schränkt ihre Mobilität stark ein, irgendwann wird sie beim mühsamen Überqueren der Straße von einem Autofahrer angefahren und alles wird noch schlimmer. Sie findet Liebe bei einem Mann, drei wunderbare Kinder werden geboren, aber schon bald ziehen Gewalt, Demütigung und Aggression in die Familie ein, einige Familienmitglieder durchleben schwere psychotische und depressive Phasen, und dazu kommt oft existenzielle Not, die Sorge um das tägliche Auskommen, den Teller Suppe und das Schulbrot jeden Tag. Sabine ist damit auf sich alleine gestellt, komplett.
Als ich Sabine das letzte Mal treffe, ist gerade ihre Tochter beerdigt worden. 25-jährig ist diese innerhalb weniger Wochen an einer fatalen fulminanten Krankheitsentwicklung gestorben – sie war die einzige gewesen, die der Familie so etwas wie Stabilität geben konnte. Mir fehlen die Worte, ganz und gar. „Gott, wie ungerecht kannst Du sein?“, schreit es die ganze Zeit in mir, während ich mir die Geschichte der Krankheit, des Sterbens und der Beerdigung anhöre. Aber dann sagt Sabine den Satz: „Gott gibt mir schon immer die Kraft, die ich brauche – ohne diese Erfahrung und dieses Vertrauen würde ich es nicht schaffen“.
Und dann zitiert sie den Abschnitt aus Dietrich Bonhoeffers Bekenntnis, das in den Konfirmationszeiten ihrer Kinder wohl eine Rolle gespielt hat:
Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.
Als sie das sagt, bin ich noch sprachloser als vorher. Denn sie sagt das nicht, weil sie meint, das müsse sie, um der Pfarrerin zu gefallen – so spüre ich ganz deutlich. Eher vielleicht, um mich zu trösten in meiner Hilflosigkeit. Aus dem Besuch gehe ich, die ich doch gekommen war, um zu stärken, getröstet und gestärkt hervor – und voller Ver- und Be-wunderung auch.
Im entscheidenden Moment hat Gott mir immer einen Engel geschickt, sagt Sabine. Jemanden, der die Einkäufe trägt. Das Formular ausfüllt, sich traut, einen bohrenden Anruf zu machen beim Amt.
So viel du brauchst, kannst du finden, vor deinen Augen, täglich, wenn du in der Lage bist, dich darauf einzulassen, darauf vertraust.
Offensichtlich ist dies auch, worum es geht in der Erzählung von Manna und Wachteln in der Wüste im zweiten Buch Mose. In der wir uns, wie ja so häufig in der Bibel, so unfassbar ertappt fühlen, so erschreckend lebendig wie präzise beschrieben als die Menschen, die wir sind, vor Tausenden von Jahren offensichtlich genau so wie heute.
Gerade noch wurde die errungene Freiheit bejubelt, die gelungene Flucht aus der Sklaverei in Ägypten gefeiert – ein großes Fest, Tanz und Musik und Lobgesänge. Doch schon wenige Tage danach setzt Ernüchterung ein und bald Ärger. Erst findet sich nichts zu Trinken für Mensch und Vieh, und Mose muss mit Gottes Hilfe bitteres Wasser trinkbar machen – und kurze Zeit danach beginnt das Volk über die Versorgung mit Essen zu maulen. Wären wir mal in Ägypten geblieben. Hätten wir uns mal nicht von Mose motivieren lassen zum Aufbruch. Hätte, hätte Fahrradkette. Es gibt kaum etwas Sinnloseres und Destruktiveres als so zu reden und zu denken: hätten wir mal besser, wären wir mal nicht… Erlittene Unterdrückung und brutale Gewalt in Ägypten – alles vergessen und verdrängt?
Vage Befürchtungen und Untergangsszenarien, verbunden mit mangelndem Vertrauen und Verklärung der Vergangenheit ergeben immer eine unheilvolle Mischung… Und dabei spielt es dann gar keine Rolle, ob es in Ägypten wirklich Fleischtöpfe gegeben hat (eher unwahrscheinlich für die Sklaven, die sie waren) und auch nicht, ob wirklich Hungertod droht in der Wüste. Entscheidend ist die Befürchtung, dass es so kommen könnte. Ein selektiver Blick nach vorne und zurück, der alles Vergangene schön und alles Gegenwärtige und Kommende unweigerlich schlecht redet. Wer ist schuld an der Misere? Natürlich die politischen Anführer, Mose und Aaron. Die da oben. Grade noch haben wir sie gefeiert, weil sie uns in die Freiheit führten. Aber die neugewonnene Freiheit ist offensichtlich schwer erträglich. Der Verlust des Vertrauten verunsichert, wahrscheinlich gerade weil die Spielräume in Ägypten stark eingeschränkt waren. Wir kennen das – nicht nur – aus der Zeitung und immer wieder: Auf die verheißungsvolle Revolution, auf die Befreiungsgeschichte folgt sehr schnell Ernüchterung und Enttäuschung, die manches Mal in Aggression umschlägt.
Aber Gott lässt sich nicht ein auf das Spiel. Von ihr gibt es keine Retourkutschen, keine Moralpredigt oder Richtigstellungen: „wie undankbar seid ihr doch. Reißt euch mal zusammen!“ Gott schenkt den Menschen, was sie brauchen: Versorgung und Ruhe. Eine Unterbrechung in ihrer frenetischen Sorge. Denn – was im Lesungstext ausgespart blieb: Am Freitag durften die Israelit:innen eine doppelte Portion sammeln, damit sie auch für den Samstag, den Ruhetag genug hatten. Das Manna lehrt Israel den Sabbat.
Und das Manna lehrt auch, auf das zu sehen, was vor uns liegt.
Denn Manna – wahrscheinlich getrockneter Tamariskensaft – am Morgen und Wachteln am Abend sind natürliche Erscheinungen auf der Halbinsel Sinai – Gott lenkt den Blick auf die Möglichkeiten, die der Alltag bietet. Direkt vor mir, buchstäblich vor meiner Nase. Ich muss gar nicht weit schauen, um etwas finden, um etwas tun zu können. Wenn es drauf ankommt, finden sich auf einmal ungeahnte Hilfsbereitschaft und Solidarität. Achtsamkeit und Zuwendung tun sich auf, wenn der Tau des Morgens geschmolzen ist. Schau nur genau hin!
Jeder sammelt, so viel er braucht und möchte – am Ende haben alle gleich viel. Darin besteht das Wunder der göttlichen Versorgung in der Wüste. „Und die Israeliten taten’s und sammelten, einer viel, der andere wenig. Aber als man’s nachmaß, hatte der nicht darüber, der viel gesammelt hatte, und der nicht darunter, der wenig gesammelt hatte. Jeder hatte gesammelt, soviel er zum Essen brauchte.“
Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie uns nicht im Voraus…
Dietrich Bonhoeffers Bekenntnis quillt aus im Glauben interpretierter Erfahrung. Die kann ich niemandem vorschreiben. Das Erleben „am Ende hat es immer gereicht“ führt zu Vertrauen in die Zukunft, zu Vertrauen in Gottes Begleitung auf allen Wegen, in der Wüste und im finsteren Tal. Sabine hat mich das gelehrt, und die Israeliten in der Wüste auch.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Meine innenstädtische Berliner Kirchengemeinde mit Predigthörenden, die Lust an biblischen Details, Geschichte und Literatur haben – und auch mit biblischen Zusammenhängen zum Großteil – und für mich immer wieder auch überraschend – gut vertraut sind.
Der Predigtentwurf geht davon aus, dass der Text als Lesung bereits im Gottesdienst gelesen und gehört wurde.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das im Eingangsteil der Predigt beschriebene Erlebnis mit „Sabine“ hat mich tagelang beschäftigt. Die Erkenntnis, dass hier eine ähnliche Grundhaltung zu finden ist, wie sie den Israelit:innen das Auffinden des Mannas ermöglichte, hat den Predigtprozess in Schwung gebracht.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das eigentliche „Wunder“ besteht nicht im Auffinden von Manna und Wachteln, sondern darin, dass jeder genau so viel sammelt, wie er braucht, und am Ende haben alle gleich viel.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Narrative Entschleunigung und Konkretisierung im alltäglichen Heute. Vielen Dank dafür!