Alter Himmel
Eines Morgens lag der Himmel tiefblau in tausend glitzernden Tautropfen auf der Wiese hinter dem Haus. Die Morgensonne senkte sanft ein paar Baumschatten ins Gras. Manchmal dampfte der Himmel auch weiß aus den alten Linden am Kriegerdenkmal oder den riesigen Kastanien am Schulweg, wenn ein Sommergewitter den Staub vom Kopfsteinpflaster gewaschen hatte.
Himmelunten also - zwischen Kuhstall und Kirchhof in einem Dorf in der Mark Brandenburg - schlug mein Kinderglaube die Augen auf.
In der Schule gab es keinen Gott. So besuchte ich ihn nachmittags mit Sumpfdotter unter den Kopfweiden am Bach, mit Klatschmohn und blauen Kornblumen am Feldrain, mit gelben Butterblumen in den dunkelgrünen Feuchtwiesen. Als Dank schickte er im Sommer Wolkenschiffe übers Land. Der Winterhimmel klirrte hell mit Eisblumen in den Fenstern. Am Heiligabend kam er zwischen Wachskerzen und Strohsternen in die kalte Kirche und hisste weiße Fahnen über den singenden Mündern. „Ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben.“ Gott war ein himmlisches Kind. Bis Neujahr hüllte sich die Welt in ein geliehenes Schneeweiß. Dann wurde das Jahr umgekippt und die Sehnsucht auch. Manchmal wurde ein Kind im Winter getauft. Dann dampfte der Himmel im Taufwasser, und der Jordan floss von unten nach oben. Die alte Welt stand Kopf.
Von Gott blieb eine innig leuchtende Spur im Herzen.
Alte Welt
In Monika Marons Roman „Zwischenspiel“ steht die Ich-Erzählerin Ruth eines Morgens auf dem Balkon und schaut sehr lange in den Himmel. Erstaunt sieht sie einer Wolke nach, die plötzlich rückwärts gegen den Strom treibt. In diesem Moment zerspringt die alte Welt vor ihren Augen. Alles, auch sicher Geglaubtes, geht in die Brüche. In den Bruchstücken entdeckt sie ihr eigenes gelebtes Leben. Sie sieht sich auf Wegen mit vertrauten Menschen, durchstreift vormals bewohnte und verlassene Welten, fragt nach Bilanzen und am Ende auch nach Gott. Wirklich klar sieht sie aber allein das, was sie in sich trägt. Zeitlose Begegnungen, vergessene Gesichter, geglaubte Worte, bewegte Bilder suchen sie heim. Die Erinnerung schärft sich ein, aber die Gegenwart, eben noch zum Greifen nahe, verschwimmt. „Manchmal hat man nur die Wahl zwischen falsch und falsch,“ ist ihr Fazit angesichts der alten Welt.
Was im Roman als „Zwischenspiel” auf einen Tag begrenzt bleibt, kann im „richtigen Leben” zu Norm und Not werden. Die Macht der Gewohnheit raubt der Hoffnung allmählich die Konturen. Kein Wunder, wenn die Vergangenheit sich verklärt. Alte Momentaufnahmen fügen zusammen, was nicht zusammengehört.
Bald verändert sich nicht nur Hören und Sehen, sondern auch die Wahrnehmung. Zuerst zerplatzen die Illusionen, dann entfärben sich die Träume. Vieles scheint einander immer ähnlicher zu werden, selbst die Gesichter. Tatsachen bestimmen bald Gedanken und Pläne. Zuletzt sind selbst die Aussichten so fest gebunden, dass schon für das kleinste Alltagswunder der Raum fehlt. Der Himmel verliert sich, die Welt altert weiter vor sich hin. Das Staunen vergeht angesichts präziser Leistungskurven. Der Glaube verblasst. Es ist ein schleichender Prozess. Etwas wie verschlepptes Heimweh. Aber ein „richtiges Leben im Falschen” gibt es nicht.
Die Suche nach dem verlorenen Himmel verwackelt die Weltsicht. Wer seine Träume retten will, muss sich losreißen. Tiefe Wurzeln verbieten sich, solange die Sehnsucht stärker ist als der Alltag.
Hintertür
Aber wohin führt diese Sehnsucht, wo endet sie? Die vertrauten Bilder können sich schnell sperren oder verschließen, wenn man sie zu hastig nach Trost und Gewissheit absucht. Eifer und Ungeduld verriegeln das Herz. Und ein Cherub, so scheint es, bewacht den Himmel mitsamt den Verheißungen. Die Suche nach einer Hintertür endet mitten in der Welt: „Ich will bei ihnen wohnen“, heißt es im Text. Die Sehnsucht Gottes ist der Mensch.
Manchmal führt die Hintertür in ein Gefängnis. Um das Jahr 95 n. Chr. saß Johannes, der Verfasser der Offenbarung, ohne Aussicht auf Befreiung auf der berüchtigten Gefangeneninsel Patmos in römischer Beugehaft. Wir müssen ihn in seiner Zelle besuchen, sonst stehen wir in der Gefahr, uns mit seinen Worten an der Wahrheit vorbei zu beten.
Über Patmos ist der Himmel in Blei gegossen. Die leuchtenden Bilder, mit denen Johannes dagegen anschreibt, sind in härtester Währung bezahlt: Trübsal, Angst, Verfolgung, Hunger, Kälte, Blöße, Gefahr und Tod hat Johannes hinter sich (vgl. Römer 8,35). Eben auch den Tod, denn die Hoffnung stirbt keinesfalls zuletzt. Sie unterliegt jeden Tag von neuem der grausigen Wirklichkeit im Gefängnis. Aber nur so wurde auch aus einzelnen Wörtern das Wort - gegen den Augenschein.
Das himmlische Jerusalem ist in Ohnmacht und Dunkelheit geboren. Johannes sucht den Himmel ab und „kriecht“ zurück in seine Taufe. Da reißt der Himmel über ihm auf, und er findet irdischen Trost in einem ewigen Bild: „Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Mann“.
Neuer Mensch
Der Beginn ist die Liebe, das Ende auch, wie Luther schreibt: „Es muss der ganze Mensch in das Evangelium kriechen und da neu werden. Er muss die alte Haut ausziehen wie die Schlange tut. Wenn ihre Haut alt wird, sucht sie ein Loch im Felsen, da kriecht sie hinein und zieht selbst ihre Haut ab und lässt sie draußen vor dem Loch. Also muss der Mensch sich auch in das Evangelium und Gottes Wort begeben und getrost seiner Zusage folgen.“
Dieser neue Mensch wird Augen machen: Er hofft und sucht anders, er findet anders, er urteilt anders, er liebt anders. Mitten in der alten Welt unter dem neuen Himmel.
Echter Trost kommt an der alten Welt nicht vorbei. Und er muss durch mein enges Herz. Meiner Ohnmacht, meinem Trotz, meinen Ängsten und Zweifeln muss er standhalten. Nur die Stimme der Wahrheit kann trösten. Ich muss sie heraushören aus der Welt - im Schweigen und in tausend Stimmen. Der Glaube muss sich aber darauf gefasst machen, Gott gerade nicht anzutreffen. Jedenfalls nicht dort, wo er ihn erwartet. Gott antwortet nicht auf die Erniedrigung. Er wird erniedrigt. Gott antwortet nicht auf die Folter. Er wird gefoltert. Gott antwortet nicht auf den Tod. Er wird getötet. Gott antwortet nicht. Er ist die Antwort. Gott muss in jedem Gebet neu geboren werden, im Wagnis, gegen den Augenschein. Das Gebet unter verschlossenem Himmel ist alles zugleich: Ringen und Halt, Verlassenheit und Paradies, Anfechtung, Vertrauen, Trotz. „Gott ist nur wahrhaft Gott, wenn er dein Gott ist“, sagt Martin Luther.
Neue Welt
Johannes trotzt dem ungewissen Gefängnisalltag mit himmlischen Gewissheiten. Zeile für Zeile hält er das Ewige fest und segnet damit das Zeitliche. So nimmt er mit behutsamen Worten das Gefängnis gefangen. Es ist der Mühe wert, den neuen Himmel in der alten Welt zu entdecken und nie wieder aus den Augen zu verlieren. Gegen eine geschmückte Braut ist eine Kompanie von Bewachern ein trostloser Anblick. Das leuchtende Jerusalem stellt alle Macht und Pracht Roms in den dunklen Winkel der Geschichte. Ein Zelt Gottes auf dem Gefängnishof macht auf Dauer jede Zellentür zum Himmelstor. Aber auch im Kleinen nimmt die neue Welt Einzug. Der ganze Himmel passt durchs Zellenfenster, eine einzige Hundeblume färbt das Hofpflaster gelb, ein Amselschrei am Morgen lässt den Weckruf verstummen. So verliert der Tod Schritt für Schritt die alte Welt. Die neue gibt sich freudig zu erkennen.
Aber der Tod gibt nicht so einfach auf.
Solche Freude
Einmal klingelte ich in meiner alten Welt an meinem alten Gefängnis.*) Das graue Tor schob sich quietschend auf. Ich ging hinein und wartete auf dem Hof.
Himmel bleibt Himmel, dachte ich trotzig. Aber auch: Welt bleibt Welt. Und Tor bleibt Tor. Wachturm bleibt Wachturm. Jedenfalls im Gedächtnis.
So stand ich zwischen den Mauern im Novemberschneematsch, hinter dem Eisentor, beschattet von vier drohenden Türmen, unter dem alten Himmel. Diese Geschichte hört nie auf.
Manche Wörter bleiben in der Vergangenheit kleben. Du wachst plötzlich mitten im Leben auf und vergisst die falschen Dinge. Die Wahrheit verschwimmt. Die Erinnerung verschmiert. Die Wörter werden trübe, als hätten sie kein Gewissen. Und plötzlich ist nichts mehr wie es ist. Die Träume sind wieder schwarzweiß - wie damals. Die Erinnerung macht beim Verhör dunkle Löcher ins Papier. Jeder Stein droht. Nur das Auge des Postens schwimmt gleichgültig blau im Spion. Fanggitter, Schleusen, Bewacherstiefel, Lichtwurf. Es gibt kein Entkommen.
Schnell hat die alte Welt mich wieder. Das braungefärbte Drillichzeug klebt mir am Leib, die endlosen Runden im Käfig ermüden mich. Die Bewacher auf der Brücke rauchen ihre Zigaretten in Ruhe. Ich friere mich in grauer Unterwäsche ohne Decke durch endlose Winternächte. So was bleibt immer wie es ist. Die Schlüssel hören nicht auf zu singen. Und plötzlich verlierst du den Himmel ganz aus den Augen, mitsamt Maschendraht. Und vergisst ihn viel zu schnell.
Noch einmal schiebt das Tor sich quietschend auf. Straßenbäume, Häuser, Autos, Kopfsteinpflaster. Und lebendige Menschen. Ich stehe wie angewurzelt auf den Betonplatten. Sie sind wirklich gekommen. Der berühmteste Knabenchor Deutschlands, die Leipziger Thomaner, lauter Jungen in warmen Mänteln mit bunten Mützen und Schals kommen auf den Gefängnishof und jagen das Grau von den Mauern. Sechzig 10-18-jährige Jungen - unter dem alten Himmel in der alten Welt. Sie gehen vorbei an Gittern und Schleusen und Fangdrähten und sammeln sich im unterirdischen Zellentrakt. Dann fangen sie an zu singen. Ich reibe mir die Augen, denn ich kann nicht glauben, was ich jetzt sehe und höre: „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!“
Verlegen komme ich Gott zuvor. Er sollte doch die Tränen abwischen. Aber er weint ja vielleicht selbst.
Diese Jungen singen wie die Engel. Ja, das ist er, der neue Himmel! Eine Motette von Johann Sebastian Bach, klar und rein gesungen, mitten in der Hölle. Und Jahrzehnte voller Schmerz und Seufzen fliehen augenblicklich aus diesen Mauern. Zum Schluss erklingt das Gloria, mit dem der verzweifelte Pastor Philipp Nicolai im Pestjahr 1599 gegen den Augenschein von Schmerz, Leid, Ohnmacht und Tod das Neue Jerusalem herbeisehnte und -sang. Und während es erklingt, ist Gott selbst zu Besuch an diesem Ort, nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal - mitten in der alten Welt:
Gloria sei dir gesungen
Mit Menschen- und mit Engelszungen
Mit Harfen und mit Zimbeln schon.
Von zwölf Perlen sind die Tore
An deiner Stadt, wir stehn im Chore
Der Engel hoch um deinen Thron.
Kein Aug hat je gespürt,
Kein Ohr hat je gehört
Solche Freude.
*) Der Verf. saß in der DDR in Stasi-Haft und besuchte im November 2002 mit dem Thomanerchor Leipzig sein ehemaliges Gefängnis, die heutige Gedenkstätte Hohenschöhausen
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt richtet sich an eine bunt gemischte Stadtgemeinde, besonders geprägt durch vielfältige musikalische Arbeit. Am Morgen des Ewigkeitssonntags ist der Gottes-dienst gut besucht. Posaunen und Kantorei werden anwesend sein, das Lied „Wachet auf ruft uns die Stimme“ wird in Variationen erklingen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Verschiedene Erinnerungen an die starken Bilder des Predigttextes, besonders aber ein Besuch mit dem Leipziger Thomanerchor in der Gedenkstätte Hohenschönhausen (ehemaliges Gefängnis der Staatssicherheit). Aus der Gloria-Strophe des dort intonier-ten Liedes stammt auch der Titel der Predigt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass mitten in der alten Welt Gott selbst unerwartet tröstet und Tränen trocknet - und ein neuer Himmel und eine neue Erde sichtbar und greifbar - schon jetzt - erscheint. -
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Martin Sommer hat mir überaus hilfreiche Tips gegeben.
(Unter anderem habe ich mich schweren Herzens von einem Dostojewskij-Zitat ge-trennt und fand den Text hinterher selbst wie von Ballast befreit leichter, besser und klarer…)