Golden geht die Sonne auf über der Prärie und bescheint die Häuser von Henky-Town. Aus der Kirche am Ende der Straße dringt ein Choral aus vielen Kehlen. Der Ort ist versammelt zum Gottesdienst. Die Straßen sind leer. Ein Windzug wirbelt Staub auf aus der sandigen Straße. Vor dem Sheriffbüro, gegenüber des Saloons, schläft Buster, der treue Mischlingsrüde. Plötzlich hebt er den Kopf, ein Pferd nähert sich. Dort, wo die Straße in die weite Prärie entschwindet, von dort kommt ein einsamer Reiter, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Ein Fremder. Sein Weg führt ihn nicht in die Kirche, er endet auf halbem Weg vor dem Saloon, den er mit klirrenden Sporen betritt.
Er wird sagen, er sei auf der Durchreise, er wolle weder Ärger noch Aufregung. Aber es wird Streit geben mit den Leuten vom Rinderbaron, die hier das Sagen haben und die das auch alle spüren lassen. Dem Pfarrer wird der Fremde in den Arm fallen, als der einen Jungen ohrfeigen will. Und Mary, die Tochter des Bürgermeisters, die wird sich in ihn verlieben, was den Sheriff wütend macht, der ein Auge auf Mary geworfen hat. Und so passiert, was immer passiert, wenn der Fremde nach Henky-Town kommt. Das zart ausbalancierte Gefüge der Gemeinschaft gerät durcheinander.
Sie waren so gut eingespielt. Jeder kannte jeden, jeder wusste, wer was zu sagen hat. Sie trugen gegenseitig ihre Schwächen und halfen einander mit ihren Stärken. Die Männer mit der größten Macht fühlten auch die größte Verantwortung und entschieden auch mal gegen einen. Aber wenn, dann zum größeren Wohl der Gemeinschaft. Wer Macht hat oder genügend Kraft und Gewalt, der kann auch mal für sich entscheiden, aber wenn, dann war auch das zum größeren Wohl der Gemeinschaft.
Kommt dann ein Fremder dahergeritten und tut nicht einfach, was man ihm sagt, sondern tut, was er für richtig hält, was er für gerecht hält und angemessen und gut, dann kommt es zu Ärger, dann kocht die Wut hoch, dann bricht die Gewalt durch: erst leidet der Fremde – dann nimmt er Rache. So war es im wilden Westen und so, stell ich mir vor, war es auch im wilden Osten, in Ninive, als Jona, einer von uns, in die ihm fremde Stadt kam und wie der „Machine Gun Preacher“ zu den Leuten von der Rache eines Gottes sprach, den dort keiner kannte und der dennoch verlangte, das jeder tut, was gut ist und gerecht. Und so ist es im wilden Süden, aus dem die fremde Königin kommt. Und verdammt nochmal, sie haben doch auch Recht, der Fremde, der Jona und die Königin.
Keine Angst, zu uns hier werden sie nicht kommen, in unsere gemütliche Runde – das heißt, darin liegt genau das Problem: Wir haben es so gemütlich. Ich fühl´ mich so gut bei Euch. Wir singen so tolle Lieder über das Leiden und hören ganz aufmerksam zu, wenn aus der Bibel vorgelesen wird, wie die Pächter die Knechte verprügeln und den Sohn ermorden und wie der Besitzer dann die Pächter umbringt. Und dann wird diese Geschichte vom Fremden gelesen, von Jona, der in der Fremde war und von der Königin, die aus der Fremde kommt und wie sie alle verdammen werden, alle die so gespannt zuhören, die zuhören und hoffen: Gleich macht er wieder einen seiner Tricks, über’s Wasser laufen oder Brot vermehren. Aber statt Wundertricks und Zauberzeichen gibt es diesmal nur Worte:
„Ihr wollt von mir ein Zeichen – aber ich werde Euch kein Zeichen mehr geben. Ich werde vielmehr Euch dazu bringen, dass Ihr mich zum Zeichen macht. Und viel muss ich dafür nicht tun und viel müsst Ihr nicht dafür tun. Ihr müsst nur tun, was Ihr immer getan habt mit den Fremden aus dem Westen und dem Osten und dem Süden. Ihr habt sie hingehangen oder ausgespuckt. Und ich, ich werde tun, was sie getan haben. Ich spiele Euch das Lied vom Tod. Drei Tage und drei Nächte sollt Ihr es hören. In dieser Zeit will ich sammeln, die Ihr verdammt habt, die Ihr ausgestoßen habt. Und ich will alle die sammeln, die sagen: Wir kennen Euren Gott nicht, aber wir haben erkannt, dass es besser ist, in diesem Leben gerecht zu sein und Gutes zu tun. So soll es sein: Ihr werdet mich zum Zeichen machen für die Wunder, die Ihr selber tun könnt und jeder, dem Ihr sie tun könntet, den will ich herzurufen, wenn für Euch das Lied vom Tod gespielt wird.“
Und so passierte, was eben passiert ist. Der Wundertäter wurde selbst zum Zeichen des Jona und wie einst Jona über Bord geworfen wurde, so verschlang ihn ein Meer aus Angst, Leid und Tot. Diesmal trug ihn das Wasser nicht, sondern die Fluten verschluckten ihn.Ihn, den sie beschwert hatten mit dem Holz auf der Schulter – mit dem verfluchten Holz. Und an das verfluchte Holz haben sie ihn gehangen mitten zwischen Himmel und Erde. Haben ihn gehangen über eine Erde, aus der das Blut unserer Brüder und Schwestern zu Gott schreit und uns anklagt. Unter einen weiten und endlosen Himmel haben sie ihn gehangen. Einem Himmel, aus dem beides kommen muss: das Gericht über unsere sündigen Taten und Gnade über unser Sünder-Sein.
Seitdem passierte, was eben passiert ist: knien Gläubige auf der geknechteten Erde, erheben ihre Stimmen zum Himmel und bitten um ein weiteres Zeichen, um ein letztes Wunder. Sie zweifeln nicht an Gott – sie glauben fest an ihn und dass er allein es ist, der dieses Wunder tun kann. Sie zweifeln an sich selbst und daran, ob er das Wunder an ihnen tun wird. Deshalb erheben sie ihre Stimmen und rufen: „Kyrie eleison – Herr erbarme Dich über uns! Gott, wir fordern keine weiteren Zeichen von Dir. Wir bitten Dich, Gott: Mach uns zum Zeichen, tu´ an uns jenes letzte Wunder: Ruf´ uns aus den Toten und lass uns auferstehen.“
So haben sie es gesungen in Henky-Town, in der Kirche am Ende der Straße und so singen wir es, in der Hoffnung, dass Gott auch über unser Leben spricht, was der Sohn allen Lebens zuletzt von sich sagte: „Es ist vollbracht.“
Und bis es soweit ist, möge der Friede Gottes, der tiefer reicht als der Abgrund aller Zweifel, möge er Eure Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus, unserem Kyrios und Lebensspender in diesem und im nächsten Leben.
Amen.