"Spurenaufnahme", Predigt über 1. Thessalonicher 1, 2-10 von Stefan Knobloch
1,2
Spurenaufnahme
Mit einer beinahe übertriebenen Dankeshymne beginnt Paulus seinen ersten Brief an die Gemeinde von Thessalonich. Wir befinden uns etwa in den Jahren 50/51 nach Christus. Paulus hatte bis dahin gewiss im kleinasiatischen Raum Gemeinden unter Heidenchristen gegründet, aber der Schritt nach Griechenland, nach Europa, war für ihn – jenseits aller heutigen Assoziation mit dem Euro – noch einmal etwas Neues. Hier gründete Paulus die Gemeinden von Thessalonich und Korinth. In Thessalonich schien es eine sehr erfolgreiche Gemeindegründung gewesen zu sein, wie der Eingang des Briefes deutlich macht, übrigens des ersten und ältesten Briefes, der von Paulus auf uns gekommen ist.
Gewiss müssen wir einräumen, dass es zum antiken Briefstil gehörte, mit Verneigungen und Ehrbezeugungen vor dem Adressaten zu beginnen. Im Falle von Thessalonich aber muss die Freude und Genugtuung bei Paulus über die gelungene Gemeindegründung besonders groß gewesen sein. Dabei klingt das geradezu zu technisch, zu organisationstheoretisch, einfach von Gemeindegründung zu sprechen, als hätte es sich um einen Rechtsakt gehandelt. Nein, Paulus war ganz entzückt darüber, dass die durch und durch hellenische Welt Thessalonichs sich so bereitwillig geöffnet hatte, sein Evangelium von Jesus Christus und von Gott, seinem Vater, offen und in tiefer Ehrlichkeit anzunehmen. Paulus staunt über ihren Glauben, über ihre belastbare Liebe, über ihre geduldige Hoffnung, die sie aus seinem Evangelium für sich gewonnen hatten.
Er hatte ja auch nicht nur Worte gemacht, eine Fähigkeit, die ihm nicht unbedingt sehr zu Eigen war. So sei er, wie er im ersten Korintherbrief gesteht, zum Beispiel in Korinth in Schwäche und in Furcht, ja zitternd aufgetreten (1 Kor 2,3). In Thessalonich aber muss ihm eine beeindruckende, vom Heiligen Geist erfüllte überzeugende Verkündigung gelungen sein, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Wenn man die Sätze des Paulus genau liest, hat man den Eindruck, dass er sich hier jeder Zurückhaltung enthielt. So sagt er, und zwar in dieser Reihenfolge, die Thessalonicher seien seine bzw. seiner Begleiter Glaubensnachahmer geworden und die Nachahmer des Herrn. Und günstig habe es zunächst gar nicht ausgesehen. Denn sie hätten sein Wort in ziemlich misslicher Lage, unter allerhand Drangsal, aber in der Freude des Heiligen Geistes angenommen. So sei ihr Glaube sprichwörtlich bekannt geworden im griechischen Raum nach Norden wie nach Süden, ähnlich, nur unter anderem Vorzeichen, wie der Unglaube des „ungläubigen“ Thomas. Über Thessalonich müsse man in dieser Hinsicht kein Wort verlieren.
Paulus tut es dann aber doch. Und wieder ist die Art und Weise interessant, in der er es tut. Es sei überall herumerzählt worden, wie sie ihn, Paulus, und seine Begleiter aufgenommen hätten; das hält er als Erstes fest. Erst dann kommt das vermeintlich Wichtigere: Überall sei herumerzählt worden,  wie sie sich von den Götzen ihres Lebens zum lebendigen und wahren Gott bekehrt hätten. Jetzt würden sie den Sohn Gottes vom Himmel erwarten, der von den Toten auferstanden sei und in dem alle Rettung Wirklichkeit geworden sei.
Wenn wir das heute so hören, mögen wir darüber schmunzeln, wie charmant Paulus gegenüber der Gemeinde von Thessalonich sein konnte. Über seine unangefochtene Wortwahl aber von der Annahme des Evangeliums, von der Freude im Heiligen Geist, von der Hinkehr zum lebendigen und wahren Gott, vom wiederkommenden Herrn dürften uns allerdings die Gesichtszüge gefrieren. Wird, so könnten wir fragen, von uns erwartet, dass wir da glaubensmäßig bruchlos und nahtlos anknüpfen können? Und werden wir aus dieser Absicht heute mit diesem Brief konfrontiert?
Leben wir nicht in einer ganz anderen Zeit, in der – um es platt zu sagen – Gott für viele keine Rolle mehr spielt? Und von diesem Empfinden mögen wir selbst auch infiziert sein. Andererseits hat der Wind in den letzten Jahren gedreht. Heute fällt unsere Zeit nicht mehr durch einen selbstverständlichen Atheismus auf, sondern eher durch das Phänomen der Pluralisierung des Religiösen. Das mag für die, die seit geraumer Zeit das Ende der Religion prognostizieren, ärgerlich sein. Das hatten sie nicht erwartet. Worauf sie allerdings verweisen können, ist die spürbare Entkirchlichung des Lebens bzw. die um sich greifende Inndifferenz gegenüber allem Kirchlichen. Das drückt sich auch im Rückgang der Zahlen aus. Im Jahr 2010 waren etwa zwei Drittel der Einwohner Deutschlands Christen. 24,6 Millionen gehörten der katholischen, 23,9 Millionen der evangelischen Kirche an. Aber was sagt das schon. Die Motive, die eigenen Kinder nicht taufen zu lassen, aus der Kirche auszutreten, können sehr komplex sein. Manchmal haben sie weder mit der Kirche noch mit Gott zu tun. Oder sie haben damit zu tun, aber anders als wir denken.
Wie auch immer, die Zeiten haben sich auch in der Weise gewandelt, dass manche heute davon sprechen, dass für Religiöses heute vermehrt Interesse bestünde, weniger aber für Gott. Sollte das zutreffen, und die Vielfalt religiöser Suchbewegungen und Phänomene scheint das zu bestätigen, dann heißt das als Erstes, dass die Kirchen in der traditionellen Weitergabe des Glaubens die Regie über die Religiosität der Menschen verloren haben. Das zieht die Frage nach sich, ohne dass wir hier die Gewichte einseitig verteilen wollen,  ob religiös Suchende möglicherweise aus Interesse an religiösen Fragen zum kirchlichen Leben auf Distanz gehen und andere, religiös weniger wache Menschen aus Gründen der Tradition und Gewohnheit am kirchlichen Leben irgendwie festhalten. Wer von beiden Gruppen hat mehr mit Gott zu tun? Eine schwer zu entscheidende Frage, um die es letztlich aber geht: um die Frage nach Gott im eigenen Leben.
Da stehen wir vor einem zweiten Punkt: Kommt Gott, kommt die Sache Gottes in den Kirchen überhaupt ausreichend vor? Nicht das Wort „Gott“, das wird genug strapaziert, aber Gott in seiner Geheimnishaftigkeit? In seiner Transzendenz, der zugleich die Weltimmanenz eigen ist? Wird in den Kirchen zu harmlos, zu selbstgewiss, zu sicher von Gott gesprochen und artikulieren sich darin nur unsere Vorstellungen und unsere Wünsche an Gott? Bleibt darüber das Dunkle, das Unsagbare, das Unauslotbare an Gott ungesagt? Diese Problematik klingt in unserer Lesung an. Die Thessalonicher nahmen das Evangelium offenbar nicht in der Erwartung an, dass damit Gott wie ein „deus ex machina“ erscheine, der alle Lebensprobleme löse. Sie rechneten damit, dass es in der Freude des Heiligen Geistes zum Evangelium passe, im Vertrauen auf Gott in Jesus Christus durch Dick und Dünn zu gehen.  
Und damit stehen wir an einem dritten Punkt. Ist Gott für uns nicht häufig deshalb in eine Schieflage geraten, weil wir zu wenig nach seiner Spur in den eigenen Ereignissen und Erfahrungen des Lebens fragen? Gerade die Leerstellen unseres Lebens, die Phasen der Leerläufe können Treff-Orte sein, an denen uns Gott unerkannt berührt. An denen es uns so ergeht, wie der Frau am Jakobsbrunnen in Joh 4, die aufgrund des biographischen Gesprächs mit Jesus aus sich selbst die Frage vernimmt: „Ist er vielleicht der Messias?“ (Joh 4,29). 
Am Ende sollten wir hinter dem Interesse auch der heutigen Menschen am Religiösen die, wenn auch nicht ausdrücklich gestellte, Frage nach Gott vermuten. Nicht zuletzt bei uns selbst. Darin müssen wir es nicht gleich zum Vorbildcharakter der Thessalonicher bringen, aber wir sollten in Ansätzen der Spur ihres Glaubens, ihrer Liebe und ihrer Hoffnung auf Jesus Christus folgen.
Perikope