Standhaft bewegt. 500 Jahre Luther in Worms - Predigt zu Gal 5,1.16 von Jochen Riepe
5,1-6

 „Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen.“ „Wandelt im Geist.“
…denn ich bin nicht bei Hofe, sondern im engen mönchischen Winkel aufgewachsen…“ 
„Aber ich bin ein Mensch und nicht Gott… Eure allergnädigste Majestät … möchte mir Beweise vorlegen, mich des Irrtums überführen und mich durch das Zeugnis der prophetischen und evangelischen Schriften überwinden. Ich werde völlig bereit sein, jeden Irrtum, den man mir nachweisen wird, zu widerrufen…“. 
(Der biblische Text sowie die Zitate aus Luthers Rede vor dem Reichstag zu Worms 1521 werden vor der Predigt gelesen. Zudem sind sie in der Gottesdienstordnung abgedruckt.)

I

Ein anderes Wort für Freiheit: Ich darf einen Raum betreten, in dem ich geschützt bin. Ein Raum, in dem ich atmen, hören, sprechen, widersprechen und auch irren kann… Mein Geist gerät in Schwung, heiße Herzen, rote Ohren… Ich lerne. Wir sind Kontrahenten, keine Feinde, und ein Bier schmeckt danach besonders gut. Streitkultur am runden Tisch.

II

Luther in Worms 1521, vor Kaiser und Reich. Der Mann in der Mönchskutte und die Granden aus Politik, Kirche und Wissenschaft. Wir wissen: Man hatte ihn vorgeladen, zu widerrufen… seine Thesen, seine Angriffe auf Papst, Kirche, Ablaß. Das Verhör sollte zwei Tage dauern. Nach anfänglichem Zaudern – Luther sprach mit niderer Stimm – schwamm er sich am Tag darauf frei. Ein erstaunlich öffnender Satz, der mein heldenhaftes Luther-in-Worms-Standbild in Bewegung bringt: Sollte man ihn aus der Bibel und durch klare Gründe widerlegen, dann wolle er selbstverständlich alle Irrtümer widerrufen und der allererste sein, der meine Bücher ins Feuer werfen will.
Ein Mönch, ein Professor, will diskutieren mit dem Kaiser und ein politisches Tribunal im Bischofshof zum Hörsaal umdrehen!? Hat er da etwas mißverstanden? Die hohen Räte werden den Kopf schütteln: Ein Verhör ist keine ergebnisoffene Diskussion.

III

Zur Freiheit hat uns Christus befreit, schreibt der Apostel Paulus, und sicherlich ist dessen Brief an die Galater eine der Wurzeln für die Standfestigkeit, zugleich aber auch für die ausdrückliche Gesprächsbereitschaft, mit der Martin Luther in Worms auftrat. Der Streit um die Wahrheit war zu dieser Zeit bereits gefährlich politisiert, mittendrin glühte jedoch das Feuer der Erkenntnis des Evangeliums. Wandelt im Geist. Luther war ein fröhlicher und "leidenschaftlicher Disputator" (P. Neuner). Die Wahrheit suchen im Widerspruch der Meinungen. In Argument und Gegenargument immer besser eine Sache erkennen. Auch der Thesenanschlag in Wittenberg war ja eine Aufforderung zum Disput.
Wer diskutieren will, muss vorbereitet sein: Im fleißigen Lesen, im Erarbeiten von Vorlesungen, im Meditieren, im Er-beten eines Textes, schließlich in der Auseinandersetzung mit Gefährten und Gegnern, hatte er doch die Befreiungstat des Christus an sich selbst erfahren und gedanklich verarbeitet. Das ist unser höchster Trost, Christus so anziehen…zu dürfen, und daß wir ihn sehen…als den, der unser aller Sünde trägt. Später nannte Luther den Brief an die Galater seine Kaethe von Bora, seine Ehefrau, der er sich öffnen, von der er empfangen konnte und die ihn oft genug herausforderte. Wandel im Geist - Freiheit in einer kreativen Bindung.

IV

Zur Freiheit befreit. Der Ausdruck des Paulus ist ungewöhnlich. Freiheit: kein Ziel, das einer kämpferisch durchsetzen will und dem sich andere unterwerfen. Keine politische Idee oder Parole. Sie ist auch nicht ein Zuckerl, das den einen, die uns nicht passen, verweigert und den anderen, den Willigen, dargereicht wird. Die Freiheit gleicht hier einem in Christus eröffneten Raum, in dem ich mich ohne Schuldgefühle bewegen, den ich mitgestalten und auch aushalten kann. Paulus spricht von ihr als einem Kleid (Gal 3,27), das mir mit der Taufe angelegt wurde. Kleider sind ja – nach dem Mutterleib – gleichsam der erste Schutzraum, der sich einem Menschen eröffnet.
So angezogen tritt der Mann in der Mönchskutte nach vorn, bereit zu begründen, bereit aber auch nachzugeben, wenn man ihn vom Gegenteil überzeugen kann. Darum: Sobald ich im Gespräch rechthaberisch werde und Tränen des Zorns in den Augen habe, sollte ich mich kneifen oder bis zehn zählen: Wer kompetent ist, kann gelassen bleiben und seine Meinung überprüfen. Er verzichtet darauf, andere nach Gut und Böse zu rastern. Er ist kein Wahrheits- oder gar ein Gottes-Aktivist. 
Sicherlich bringt ein aktueller Wunsch meinen Luther-in-Worms in Bewegung: Ich sehe eine durchaus herausfordernde, lernbereite Situation und von Luthers Seite aus – jedenfalls in dieser Phase seines Wirkens – wohl weniger trutzig-heldenhaft, endzeitlich-verhärtet, als es uns oft erscheint. Wir sollten niemals Freiheit in Christus mit Dickfelligkeit verwechseln.

V

Hier stehe ich… aber hier bewege ich mich auch… Worms 1521. Seht sie euch an: Der junge Kaiser Karl V., seine spanischen und niederländischen Berater, die Fürsten des Reichs, Juristen, Theologen … Ornate, pelzverbrämte Mäntel, Ringe, Halsketten… und dieser graue Mönch. ‚Entschuldigung, falsche Tür…‘. ‚Mönchsgezänk‘, ‚wenig hilfreich‘, so hatten die Eliten die neuen Lehren abgetan. Gab es noch einen gemeinsamen Boden? Oder war Luther mit Illusionen nach Worms gekommen?
Aber nun war er da. Und als sei Gottes Geist ihm in diesem Augenblick ganz besonders Beistand (Joh 14,26), spricht Luther gleich zu Beginn seiner Rede etwas Persönliches an. ‚Ich bin nicht am fürstlichen Hofe erzogen, sondern im engen mönchischen Winkel aufgewachsen‘, so eröffnet er und sieht dabei den Kaiser und seine Berater an.
Eine Demutsgeste? Eine Entschuldigung für unangemessenes Verhalten auf einem für ihn ungewohnten Parkett? Vielleicht. Vielleicht aber auch ein urplötzliches, eben geistesgegenwärtiges Innewerden der Aufgabe, die sich ihm hier in der Fremde stellt: ‚Ich mache mir nichts vor. Ich komme aus einer kleinen Klosterzelle. Meine Vorgaben entsprechen nicht euren Kriterien von Anerkennung. Seht nur mein Kleid! Aber die Stärke eines Mönchs ist es, daß er im Winkel beten, lesen, diskutieren kann und gelernt hat, für das, was er verstanden hat, mit Gründen zu argumentieren‘. Das ist mehr als Haltung, das ist – Geist, der befreit. Wenn ich etwas offen benenne, verliert es seine lähmende Kraft, und ein Gehemmter wird offensiv.

VI

Auch an dieser Stelle erkenne ich den Apostel Paulus als Paten. So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen. Freiheit will bewährt sein, gerade am Ort der Macht. Und das gilt zunächst für die Art, wie ich mit meinen Vorgaben, Defiziten und Stärken umgehe. Ob ich meine Menschlichkeit scheu verstecke oder eben freimütig zeige.
Ist einmal der Verantwortungsraum des Christus-Geistes betreten, auch in einer Klosterzelle, hat einer atmen, reden und darin ‚stören‘ gelernt, so muss die Scham, die niedere Stimme weichen. Scham – dieses Joch im Nacken, diese Hemmung und Angst, zu gering zu sein, immer die falschen Gewänder getragen zu haben und im Spiel der Großen unbeachtet oder verachtet zu bleiben.
Feststehen: Ich bin nicht an fürstlichen Höfen erzogen… aber ich kenne die Schrift, und Verstand habe ich auch. Ich schäme mich nicht meines Kittels, nicht meiner Herkunft, nicht meiner Zwänge und Katastrophen. Alles dies hat mich geprägt, aber in Christus ist es mir verwandelt. Er trägt, was mir zugewachsen ist oder was ich selbst verschuldet habe.

VII

Freiheit: Du darfst einen Raum betreten, in dem man atmen kann. Du musst kein Standbild werden. Du bekennst vor Gott und den Menschen, was du gelernt hast (2.Tim.3, 14), und du hörst auf Einwände. Wandel im Geist: Auch ‚der andere könnte ja recht haben‘ (H.G. Gadamer), denn wie Luthers Rede es auf den Punkt bringt: ‚Ich bin ein Mensch und nicht Gott‘.
Die Frage bohrt: Ist es nicht naiv, in der großen Politik zu erscheinen und zu meinen, im Gespräch den Streit um die Wahrheit austragen zu können? Worms 1521 – eine nunmehr fünfhundert Jahre währende Illusion? Im Langzeitgedächtnis von uns Evangelischen ist Luthers Auftritt trotz dieser Zweideutigkeit ein wahrlich feierwürdiges, die Christus-Freiheit bezeugendes Geschehen: Ein Einzelner kann wehr- und standhaft bei dem bleiben, was er als wertvoll erkannt hat. Dazu aber kommt: Wenn mit den Mächtigen um die Wahrheit gestritten wird, dann zu den Bedingungen der Wahrheit, in Treue zu den Verfahren und Regeln, in denen sie sich zeigen will. Jeder Standfeste bittet um den Geist, der immer auch den anderen einbezieht und eine gemeinsame Basis achtet oder sucht. Sollte man ihn aus der Bibel oder durch klare Gründe widerlegen, so wäre er der erste, der alle Irrtümer widerruft.   

VIII

Ja, unser Luther-in-Worms-Gedenken: Hier in diesem Gotteshaus darf man stehen. Man darf seine Einsichten vor Gott, vor Kaiser und Reich, äußern, mit lauter, mit  niderer Stimm, gewandt oder ungelenk. Ihr dürft sie bei einem Einbecker, übrigens Luthers Lieblingsbier, oder einem Dortmunder dem Gespräch aussetzen, ohne dass Reichsacht oder Kirchenbann verhängt werden. Eben: Streitkultur vor Gott – mit roten Ohren und heißen Herzen. Für den Reformator ging es anders weiter. Das Land kann seine Worte nicht ertragen (Am 7,10). "Er ist böse. Er ist frei - vogel-frei." Widerrufen sollte er und sich unterwerfen.
Aber hier, hier bitten wir um den Geist, den Geist Christi! Standhaft-beweglich.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Jochen Riepe

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der Reformationstag verbindet sich bei vielen Gottesdienstbesuchern mit der Frage nach einer "evangelischen Identität". Worin besteht die "Freiheit eines Christenmenschen"? Mein Text versucht eine Antwort und nutzt dabei Luthers Erscheinen vor dem Reichstag zu Worms (500 Jahre) als markanten, sozusagen kollektiven "Erinnerungsort". Im Gemeindegesang, im Spiel von Bläserchor und  Orgel, im Vortrag der biblischen Texte sind Prediger und Hörer "geist-lich" getragen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
"Standhaft-bewegt": Es hat mich gereizt, die Predigt in einer dreifachen Perspektive zu entfalten: Im Textbezug  (Gal 5), im Rückblick auf das historische Ereignis (Luthers Rede) und im Ernstnehmen gegenwärtiger Erfahrungen. Der paulinische Text ermöglicht ein Verständnis von Freiheit als einem vom Geist Gottes "getriebenen" (Röm 8,14) "Christus-Gesprächs-Raum". Die Raummetaphorik kann darum den Hörern als orientierender Begleiter dienen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Worms 1521 belegt: Der "Christus-Raum" kann verweigert werden. Der dunkle Horizont jedes Gesprächs – Nichtverstehen, Abbruch, Feindschaft – ist besonders in der Corona-Zeit beobachtet worden. Die grundgesetzlich verbürgte Meinungsfreiheit scheint nach einer Allensbach-Umfrage vom Juni 21 vielen eingeschränkt. Welche Chance eine evangelische Gemeinde in dieser Zeit hat, die Freiheit des Wortes lernend zu leben, ist eine dringende Frage. Die Bitte um den Geist Gottes steht dabei am Anfang.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Predigtcoach hat mich ermutigt, den mehrschichtigen Ansatz der Predigt zu wagen. Ich danke ihm für seine hilfreichen Beobachtungen ("Raum-Variationen") und Hinweise.

Perikope
31.10.2021
5,1-6