Wundern Sie sich? Am 2. Advent – ein Frühlings-, ein Sommerlied ? Lassen Sie sich überraschen! Auch Paul Gerhardt hatte keineswegs nur eine Jahreszeit im Blick, sondern das Paradies – den himmlischen Garten: Welch hohe Lust, welch heller Schein, wird wohl in Christi Garten sein! Erwartung pur. Auch Sehnsucht. Und ein großes Vertrauen.
Der Freund kommt
8Da ist die Stimme meines Freundes!
Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel.
9Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch.
Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter.
Da – die Stimme meines Freundes! Er ist’s. Er kommt!
Hüpft. Springt.
Wie eine Gazelle, wie ein junger Hirsch.
Da – da steht er schon hinter unsrer Wand .
Sieht durchs Fenster…
Blickt durchs Gitter…
Das Mädchen wartet. Wie lange schon? Ich wüsste es gerne. Die Sehnsucht weiß keine Zeit zu messen. Berge und Hügel liegen dazwischen. Also Welten. Der Freund ist noch so weit weg. Er ist immer zu weit weg. Jetzt hört sie ihn. Oder – meint sie das nur? Spielen die Ohren ihr einen Streich?
Ist die Liebe einmal da, klopft das Herz. Schleicht der Freund schon an der Mauer lang? Wenn doch der Haarschopf schon am Fenster erschiene! Seine Augen schon durchs Fenster lugten! Im Kopf tummeln sich die schönsten Bilder. Stört die Liebe nicht, zwitschern die Vögel.
Ein Liebeslied. Ein Liebeslied voller Anmut. Wie es in die Bibel geraten ist? Wollen Sie es wirklich wissen? Da wiegen selbst die Rabbiner nachdenklich ihre Häupter. Es ist, als ob Gott selbst ein solches Liebeslied singen will. Oder hören will? So oder so. Er macht es zu seinem Lied. Er hüpft über die Berge. Er springt über die Hügel. Ihn kann nichts halten. Stört die Liebe nicht, zwitschern die Vögel. Die waren schon im Paradies dabei.
Da – Da ist die Stimme meines Freundes! Er kommt!
Sehnsucht
Ich muss Ihnen erst einmal verraten, wo Sie dieses Lied finden.
Hoheslied Kapitel 2, Verse 8-13. Direkt nach den Psalmen, den Sprüchen und dem Buch Prediger. Sozusagen ein Höhepunkt mitten in der Bibel. Und Höhepunkt aller Weisheit! Im Mittelalter hatten Menschen ihre Freude gerade an diesem Buch – Juden wie Christen. Sie haben Thorarollen kunstvoll beschrieben, Bücher gemalt und Lieder gesungen. Ein Bestseller, lange bevor es das Wort gab. Überhaupt: Es gibt kein biblisches Buch, das so zärtlich, so menschlich von Liebe singt. Alle, die mitsingen, spüren das Streicheln, sehen die leuchtenden Augen, schmecken den Kuss.
Sie sagt: Ich bin eine Blume in Scharon und eine Lilie im Tal. –
Er antwortet: Wie eine Lilie unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Mädchen. –
Sie: Er erquickt mich mit Traubenkuchen und labt mich mit Äpfeln;
denn ich bin krank vor Liebe.
Seine Linke liegt unter meinem Haupte,
und seine Rechte herzt mich. –
Dann eine dritte Stimme: Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, bei den Gazellen,
bei den Tieren auf dem Felde,
dass ihr die Liebe nicht aufweckt und nicht stört, bis es ihr selbst gefällt.
Wollen Sie wissen, wer hier die Rolle des Freundes spielt? Shalomon. Der König Salomon. Wollen Sie auch wissen, wie die Schöne heißt? Shulamit. Shalomon und Shulamit haben in ihren Namen sogar eine gemeinsame Wurzel! Shalom! Hebräisch: ganz, heil, zusammengebracht. Kurzum: Glück. Sie gehören wohl von Anfang an zusammen. Bis in die Laute, in den Klang ihrer Namen.
Die jüdischen Ausleger haben als Schöne Gottes Israel gesehen. Die christlichen Ausleger sahen die Kirche als Gottes Freundin. Gestritten wurde darüber auch. Heftig. Ohne Liebe. Aber Gott lässt sich seine Freundin nicht nehmen. Von keinem Menschen.
„Dass ihr die Liebe nicht aufweckt!“
Erster Rückblick
In der Woche erzählten mir Menschen Geschichten. Auch Geschichten von Liebe. Auch Geschichten der Sehnsucht.
Eine junge Frau erzählt von der Diagnose, die ihr gerade gestellt wurde. Krebs. Ich zucke zusammen. Eine junge Familie. Zwei kleine Kinder. –
Ein anderer erzählt voller Trauer, dass sich seine Frau von ihm trennen will. Kurz vor Weihnachten. Er kann die Tränen nicht zurückhalten. Die Wut aber auch nicht. –
Eine ältere Dame erzählt beim Beerdigungskaffee traurig, dass sie seit Jahren keinen Kontakt mehr habe zu ihren Kindern. Es muss wohl einen großen Streit gegeben haben. Jetzt liegt ein eisiges Schweigen über dem Leben einer Familie.
Drei Beispiele. Menschen stehen vor dem Fenster und schauen erwartungsvoll hinaus.
Wenn doch jemand auftauchte, lächelte und sagte: Komm!
Aber Mauern haben Menschen umschlossen. Vielleicht sogar eingeschlossen.
Wenn doch jemand ums Haus schliche, behutsam und sacht: Gleich bin ich bei dir.
Martin Luther hat in einer Adventspredigt das Hohelied leuchten lassen.
„Hier ist er – Gott – verborgen, gleichsam wie es die Braut im Hohelied sagt:
Siehe, er steht hinter der Wand und schaut durchs Fenster;
das ist so viel, dass er unter den Leiden – die uns gleichsam wie eine Wand, ja eine Mauer von ihm trennen wollen – verborgen ist.
Er sieht dennoch auf mich und lässt mich nicht.
Denn er steht (hinter der Mauer) und ist bereit, in Gnaden zu helfen,
und lässt sich durch die Fenster des Glaubens im Dunkel sehen.“
Zwar ist von einem Freund die Rede, der gleichsam mit Siebenmeilenstiefeln über Berg und Tal eilt, um seine Freundin zu treffen – schon die jüdischen Ausleger haben aber in ihm Gott gesehen, der so verliebt ist, dass ihn nichts aufhalten oder hindern kann. Martin Luther hat die Spur aufgenommen. Er – Gott – lässt mich nicht! Im Lied knistert eine wunderschöne erotische Spannung. Wir hören das Herzklopfen. Da – da, ich höre meinen Freund. Er ist ganz außer Atem. Über Berge ist er geeilt, über Hügel gehüpft. Wie eine Gazelle, wie ein junger Hirsch. Nur, um zu mir zu kommen. Er lässt sich durch die Fenster des Glaubens im Dunkel – sehen. Im Dunkel ist er auch da.
Frühling
Das Lied von den beiden Liebenden hat noch eine Strophe.
10Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her!
11Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin.
12Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande.
13Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften.
Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!
Der Freund schaut durchs Fenster. Die Tür ist verschlossen. Flüstert er? Wie laut darf er sein? Wird er sich verraten? Wir hören ihn mit seiner leisen Stimme:
„Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her!
Soll sie das Fenster öffnen? Die Tür? Sie wird die Tür öffnen. Sie wird herauskommen. Gehen, nein, eilen wird sie. Zu ihm.
Aber warum nur erzählt der Freund vom Frühling? Der Winter ist vergangen. Blumen sprießen. Die Turteltaube ruft. Die Feigen reifen in der Sonne, die Weinstöcke blühen und duften. Auch der Regen hat aufgehört. Hat der Freund das gesehen? Gerochen? Auf dem Weg zu seiner Freundin? Dass er das als Erstes erzählt, muss doch etwas bedeuten, oder? Selbst wenn es Winter wäre, eisig und kalt – der Freund wäre doch auch geeilt. Seine Spuren wären im Schnee zu sehen. Eilende Schritte – weit auseinander.
Es muss etwas anderes sein: Der Freund bringt den – Frühling. Oder ist er der – Frühling? Dass die Liebe so ist, ahnten wir schon lange. Sie gleicht einer Sonne. Alles, aber wirklich alles, wird warm und hell. Die Herzen, die Augen, die Hände, die Haut. Sogar die Welt. Dann blühen Blumen. Dann ruft die Turteltaube. Dann duften die Reben. Im Winter. Alles, was karg ist, tot, abgestorben – fängt zu leben an. Man spürt es den Worten an: selbst sie geraten in Bewegung. Sie überschlagen sich förmlich.
Die alten Ausleger, die jedes Wort in die Hand genommen und gewogen haben, die das ganze Lied aufblätterten, sahen einen Garten. Wobei der Garten dann auch die Erinnerung an das Paradies ist. Die Erinnerung an die heilvolle Zeit vor allem Anfang.
Im Hohelied finden wir die Spur:
„Ein Gartenbrunnen bist du, ein Born lebendigen Wassers, das vom Libanon fließt.
Steh auf, Nordwind, und komm, Südwind, und wehe durch meinen Garten,
dass der Duft seiner Gewürze ströme!
Mein Freund komme in seinen Garten und esse von seinen edlen Früchten.“ (Hdl. 4,15f.)
Alte Geschichten wissen von dem Geheimnis, dass selbst in Eis und Schnee ein Garten – wie aus der Zeit gefallen – grünt und blüht.
Zweiter Rückblick
Der 2. Advent liegt nun nicht im Frühling. Es ist kalt geworden. Wir wärmen uns an einem Glas, einem Becher Glühwein. Viele freuen sich auf den Weihnachtsmarkt. Viele treffen sich dort auch. Das Wechselspiel von Kälte und Wärme steht für Geborgenheit.
Aber in der Ukraine gehen die Lichter aus. Heizungen bleiben kalt. Die Infrastruktur wird beschossen, ein Volk terrorisiert. Finster ist die ganze Situation, weltweit. Nicht nur wirtschaftlich. Wir sind ratlos. Die Wahrheit kämpft mit dem Schutt. Der Hass aber wächst weiter.
In Ägypten waren etwa vierzigtausende Menschen aus fast zweihundert Ländern zur Weltklimakonferenz zusammengekommen. Die Ergebnisse sind beschämend. Klimawandel, Wandel… In den Worten wird das Unheil zugedeckt, das auch Menschen über Menschen bringen. Dürren, Überschwemmungen, Stürme. Weltuntergänge. Zuschauer, Voyeure gibt es auch. Leider auch Nutznießer.
An vielen Orten geht bei uns die Angst um. Menschen bangen, wie sie durch den Winter, überhaupt durchs Leben kommen sollen. Die Inflation frisst Hoffnungen. Die Über-Gewinne werden von anderen gemacht. Bei ärmeren Menschen aber huscht Frau Sorge durch die Tür, setzt sich an den Küchentisch und schlüpft am Abend mit unter die Decke.
Das Lied von der Freundin und ihrer Sehnsucht,
das Lied von dem Freund, der den Frühling bringt,
lässt sich singen, auch wenn es dunkel wird und kalt.
In die Welt, unüberschaubar, unübersichtlich, zerrissen, hochmütig und ängstlich zugleich, kommt Gott mit seiner Liebe.
Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!
„Komm her“ sagt der, der kommt.
„Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart,
wie uns die Alten sungen, von Jesse kam die Art
und hat ein Blümlein bracht mitten im kalten Winter
wohl zu der halben Nacht.“ (EG 30,1)
Wohl zu der halben Nacht! Mitternacht. Mitten in der Nacht beginnt der neue Morgen.
Jetzt soll kein Hass unter uns wuchern.
Jetzt kann die Liebe unter uns wachsen.
Jetzt wird die Gerechtigkeit unter uns Blüten treiben.
Entschuldigen Sie, fast hätte ich vergessen, dass die Freundin als Schöne bezeichnet wird. Gewiss, ein Kosename. Aber nicht vielleicht auch mehr? Es ist doch die Liebe, die einen Menschen schön macht, ihm Schönheit verleiht. Das stecken sogar die Wörter „herrlich“, „groß“ und „gut“ darin. Was die Liebe nicht fragt, ist: Hast du das verdient? Würde sie das denken: Sie wäre dahin. Die große Überraschung, fast am Schluss, ist: Weil wir geliebt sind, werden wir als Schöne gerufen. Weil wir geliebt sind, können wir schön sein. Es gibt genug Fratzen, die sich in die Albträume der Menschen schleichen.
Advent heißt Ankunft. Jesus kommt. Gott kommt.
Kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg hat Paul Gerhardt das Adventslied „Wie soll ich dich empfangen“ geschrieben, schön vertont von Johann Krüger:
Nichts, nichts hat dich getrieben zu mir vom Himmelszelt
als das geliebte Lieben, damit du alle Welt
in ihren tausend Plagen und großen Jammerlast,
die kein Mund kann aussagen, so fest umfangen hast.
Das schreib dir in dein Herze, du hochbetrübtes Heer,
bei denen Gram und Schmerze sich häuft je mehr und mehr;
seid unverzagt, ihr habet die Hilfe vor der Tür,
der eure Herzen labet und tröstet, steht allhier. (EG 11,5.6)
Da – Da ist die Stimme meines Freundes! Er kommt!
Er hüpft über die Berge. Er springt über die Hügel.
Mein Freund gleicht einer Gazelle, einem jungen Hirsch.
Da – da steht er schon hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster.
Er blickt durchs Gitter.
Und die Liebe Gottes,
die größer ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus, unserem Herrn
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Advent 2022. Für viele Menschen eine zerrissene Zeit: Inflation, Krieg, Klima. Dann auch die Sehnsucht nach ein bisschen Normalität. Nicht nur nach Corona. Eine gespannte Erwartung lässt sich in vielen Gesprächen ausmachen. „Noch ist Polen nicht verloren“.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Predigttext Hld 2,8-13 hat mich bisher noch nie in eine Predigt begleitet. Jetzt wurde er mir auch zum Geschenk mit seiner (erotischen) Spannung, der Begegnung von zwei Liebenden und dem „Frühlingsausbruch“. Das mit dem Advent zu verbinden und in einem Gottesdienst zu feiern, ist eine abenteuerliche Geschichte. Das Hohelied hat eine ungeheure jüdische und christliche Auslegungsgeschichte, die nur sehr verhalten in die Predigt ragt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich möchte im neuen Kirchenjahr den Weg des Freundes und der Freundin in Hld 2,8-13 weiter verfolgen – fiktiv, aber auch biografisch. Wird ihre Liebe auch alt? Wird sie alle Probleme bestehen? Wird sie wachsen? Es wäre doch zu schade, am 2. Advent die Fäden nicht zu sehen. Das Hohelied ist in der Gemeinde noch nicht zu Hause.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ein Predigtcoach hat bei der Predigterarbeitung nicht dabei sein können. Ich habe mehrere Anläufe genommen. Eine Herausforderung habe ich darin gesehen, die Sprache des Predigttextes in der Predigt weitgehend zu bewahren, eine andere, Lebenserfahrungen einzubeziehen. An mehreren Stellen habe ich, nachdem die Predigt eigentlich „fertig“ war, noch die Verbindung zum Advent hergestellt. Nach Abgabe der Predigt bin ich mir aber nicht sicher, ob die Predigt nicht auch ohne „Adventsbezug“ rund geblieben wäre.