In Stein gemeißelt?! - Predigt zu Joh 8,3-11 von Luise Stribrny de Estrada
8,3-11

In Stein gemeißelt?! - Predigt zu Joh 8,3-11 von Luise Stribrny de Estrada

Kanzelgruß

„Dein Wort ist meines Fußes Leuchte
und ein Licht auf meinem Weg.“ (Ps 119,105)
Gott, segne unser Hören und unser Reden
und erleuchte uns mit deinem Licht. Amen.

Liebe Schwestern und liebe Brüder!

Annäherungen

Treue

„Wenn mein Mann mich jemals betrügt, werde ich ihn sofort verlassen“, vertraut mir eine Freundin an. „Ich könnte es nicht ertragen, wenn er etwas mit einer anderen Frau anfängt. Dann wäre für mich Schluss. Da bin ich altmodisch – oder eben treu. Und das erwarte ich auch von meinem Mann. Das habe ich ihm deutlich gesagt.“

Leidenschaft

Ich lese: Eine verheiratete Frau verlässt ihre Familie, als ihre Kinder drei und fünf Jahre alt sind. Sie verschwindet mit ihrem Geliebten. Endlich will sie die Liebe mit ihm leben, die so lange unerfüllt geblieben ist. Sie macht sich keine großen Sorgen um ihren Mann und auch nicht um ihre Kinder. Jetzt ist sie dran, nach all den Jahren, in denen sie um Mann und Kinder gekreist ist. Die leidenschaftliche Liebe ist ins Zentrum ihres Lebens gerückt (Elena Ferrante, Die Geschichte der getrennten Wege, Bd. 3 der Neapolitanischen Saga, Berlin 2017, 2. Auflage, S. 530ff).

Betrug

Meine Eltern sind mit einem Pfarrersehepaar befreundet. Sie werden eingeladen zu Gesprächen über Gott und die Welt in ihrem schönen Haus auf dem Land. Es sind erfüllte Nachmittage mit interessanten Menschen. Eines Tages höre ich, wie mein Vater meiner Mutter entsetzt erzählt: „Stell dir vor, Pfarrer P. betrügt seine Frau. Mit einer Studentin. Frau P. kann es nicht fassen. Sie hat mich gerade angerufen und es mir erzählt. Sie hofft, dass wir zu ihr halten. Das tun wir doch, oder?“ Meine Mutter antwortet: „Natürlich, die Arme. Wie kann Herr P. nur so etwas tun?“
Menschen, die ihre Ehepartner hintergehen. Sie verstoßen gegen das sechste Gebot: „Du sollst nicht ehebrechen“. Wer nicht unmittelbar betroffen ist, weiß meistens wenig oder gar nichts über die Motive. Vielleicht können wir beide verstehen: den Ehepartner, der betrogen worden ist und den, der ein neues Leben mit einem anderen anfängt. Sehr oft ist unsere Sympathie bei dem, der verlassen worden ist.

In der Evangeliumslesung haben wir heute von Jesus und der Ehebrecherin gehört. Wie erlebte die Frau die Szene?

Mirjam

Simon und ich – das war etwas Besonderes! So eine leidenschaftliche Liebe hatte ich noch nie erlebt, und dabei so viel Übereinstimmung. Wir waren das ideale Paar. Wir sind uns in unserem Landhaus begegnet. Ich bin mit Nikodemus (vgl. Joh. 3,1; 7,50; 19,39) verheiratet, seit ich 15 Jahre alt bin, er ist 20 Jahre älter. Am Anfang unserer Ehe habe ich ihn bewundert für sein Wissen, seinen Großmut, dafür, dass er seinen Platz im Leben gefunden und es zu einem gewissen Reichtum gebracht hat. Aber mit der Zeit verebbte meine Bewunderung und ich fing an, mich mit ihm zu langweilen. Er wurde mir gleichgültig. Vielleicht lag das auch daran, dass wir keine Kinder hatten.

Aber zurück zu Simon: Sein Haus grenzt an unseres und wir konnten uns sehen, wenn einer von uns im Garten war. Ab und zu kam Simon vorbei und brachte ein kleines Geschenk für mich, einen Granatapfel oder einen Brief mit einem Gedicht. Wir verliebten uns ineinander und als mein Mann eines Tages nicht da war, kam Simon zu Besuch, da war es um uns geschehen. Seitdem suchten wir jede Gelegenheit, um zusammen zu sein; aber es war gefährlich, wir mussten aufpassen. Ich war verheiratet, er zwar nicht, aber auf Ehebruch stand laut dem Gesetz des Mose (Lev. 20,10 und Dtn. 22,22-24) die Todesstrafe, die allerdings oft nicht vollzogen wurde. Trotz der Gefahr trafen wir uns zwei, drei Mal auch in unserem Haus in Jerusalem. Beim letzten Mal entdeckte uns meine Magd. Sie rannte sofort zu Jakob, einem Freund meines Mannes, der auch Pharisäer ist. Er kam angelaufen und sah Simon noch von hinten, der gerade aus dem Fenster stieg. Jakob konnte ihn nicht mehr festhalten, aber mich ergriff er und ließ mich nicht los. Er schleppte mich in den Tempel. Unterwegs schlossen sich uns andere Pharisäer und Schriftgelehrte an. Es schien wie ein Lauffeuer herumzugehen, von überall hörte ich es flüstern: „Die Frau des Nikodemus hat ihren Mann betrogen. Elende Ehebrecherin! Das soll sie büßen.“

Dann kamen wir im Tempel an und sie brachten mich zu dem Rabbi aus Galiläa, von dem alle Welt sprach. Ich hatte Angst, panische Angst: Was würde jetzt passieren? Würden sie mich umbringen? Was würde der fremde Rabbi sagen? Jakob und die anderen stellten mich vor ihn hin: „Lehrer, diese Frau da wurde auf frischer Tat beim Ehebruch überrascht. Im Gesetz schreibt uns Mose vor, solche Frauen zu steinigen. Was sagst nun du dazu?“ Ich merkte, wie ich zitterte. Steinigen wollten sie mich, die Frau ihres Kollegen und Vertrauten Nikodemus, so sollte ich für meine Übertretung büßen. Die Ordnung sollte aufrecht erhalten werden: Die Ehefrau gehört ihrem Mann, sie selbst hat keine Gefühle und keine eigene Meinung zu haben, basta! - Sie hielten schon die Steine in der Hand, um sie nach mir zu werfen.

Aber sie mussten die Antwort des Rabbis abwarten, sie hatten ihn ja jetzt als Richter mit hineingezogen. Was tat er? Was machte er nur? Ich sah, dass er mit dem Finger auf die Erde schrieb. Was schrieb er? Ich konnte es nicht erkennen. Es wirkte so, als würde er sich aus der Situation herauslösen, als sei er ganz woanders mit seinen Gedanken. Ich war in Todesgefahr, hing ab von seinem Urteil, und er entzog sich einfach. Hätte ich nicht so viel Angst gehabt, wäre ich wütend geworden.

Dann sagte er plötzlich: “Wer von euch ohne Schuld ist, soll den ersten Stein auf sie werfen!“ Danach schrieb er weiter auf die Erde. Ich fragte mich, aus welcher Ecke der erste Stein auf mich fliegen würde. Ich überlegte, wie ich in Deckung gehen könnte - vergeblich. Da hörte ich ein trockenes Klacken. Jemand hatte seinen Stein weggeworfen und ging. Dann ein Poltern, und noch eines und noch eines. Einer nach dem anderen ging davon, als letzter Jakob, der mich entdeckt hatte. Ich konnte es kaum glauben: Sie waren wirklich alle weg. Der Satz des Lehrers hatte ihnen den Spiegel vorgehalten: Keiner war ohne Schuld. Das hatten sie selbst eingesehen und vor sich und den anderen Männern zugegeben.

Der Rabbi wandte sich jetzt an mich: „Wo sind sie? Hat dich niemand verurteilt?“ „Niemand, Herr“, antwortete ich. Er sagte: „Ich verurteile dich auch nicht. Geh, und lad von jetzt an keine Schuld mehr auf dich.“ Ich war so erleichtert, dass ich es kaum glauben konnte. Ich war gerettet! Er, dieser Jesus, hatte mein Leben gerettet. Und er verurteilte mich nicht, obwohl ich genau wusste, dass ich gegen das Gesetz verstoßen hatte. Ich war frei, ich war gerettet. Am liebsten hätte ich ihn umarmt. Aber das ging nicht, er war zu weit weg von mir, gehörte in eine andere Sphäre. Dann gab er mir einen schweren Satz mit auf den Weg: „Geh, und lad von jetzt an keine Schuld mehr auf dich.“ Wie sollte ich das verstehen? Ich sollte wohl zu meinem Mann zurückkehren und die Liebe mit Simon aufgeben. Wie gerne hätte ich es umgekehrt gemacht und mit Simon ein neues Leben angefangen. Aber vielleicht würde mein Mann mich aus der Ehe entlassen, nachdem ich ihn betrogen hatte. Dann wäre ich frei, neu zu heiraten. Vielleicht könnte ich Nikodemus dazu bringen, mir einen Scheidebrief zu schreiben oder, warum nicht, sogar selbst einen Scheidebrief aufsetzen. Wir müssten in Ruhe miteinander reden. Ob ich das hinkriegen würde nach allem, was geschehen war? Jedenfalls konnte es nicht einfach so weitergehen wie vorher, da hatte der Rabbi recht. Und ich wollte klare Verhältnisse schaffen, soweit es in meiner Macht lag: Mit einem Mann zusammenleben, nicht mit zweien. Ich suche mir meinen Weg, sagte ich leise vor mich hin, als ich nach Hause ging.

Heute

Mirjam hat vor 2.000 Jahren gelebt. Vieles hat sich seitdem im Verhältnis von Frauen und Männern geändert, viele Vorstellungen von der Ehe sind heute anders. Frauen sind selbstbewusster und unabhängiger geworden. Frauen und Männer sind gleichberechtigt, das Finanzielle ist geregelt, und es gilt nicht mehr das Schuldprinzip, sondern das Prinzip der Zerrüttung der Ehe.
Ehebruch kommt häufig vor, es ist kein Tabu mehr. Trotzdem verletzt er in den allermeisten Fällen den oder die, die betrogen wird, tief. Gefühle wie Wut, Kränkung, Enttäuschung, Verwünschungen und die Angst, verlassen zu werden, sind im Spiel. Manche Partner überstehen das und finden gemeinsam einen neuen Anfang, andere trennen sich.

Was wäre heute, unter unseren Bedingungen, aus Mirjam geworden? Ich möchte den Satz Jesu an sie „Geh und lad von jetzt an keine Schuld mehr auf dich“ anders interpretieren. Ich glaube, dass auch diejenige Schuld auf sich lädt oder sündigt, die gelingendes Leben verhindert (siehe dazu: Gottesdienst Praxis, IV. Perikopenreihe, Bd. 3, Gütersloh 2022, S.99). Wenn jemand in einer Ehe oder Beziehung unglücklich ist, darf sie kein Gesetz zwingen, weiter in dieser Beziehung zu bleiben. Im Gegenteil sollten wir sie als Christinnen und Christen ermutigen, sich zu trennen und noch einmal anders zu beginnen. Das muss nicht notwendig eine neue Beziehung sein, sondern kann eine Zeit sein, in der sie erst einmal zu sich selber kommt und das verarbeitet, was sie in ihrer Ehe erlebt hat.

Mirjam könnte sich heute von Nikodemus trennen und sich eine eigene Wohnung nehmen. Dann würde sie in Ruhe ihre Gefühle erforschen und darüber nachdenken, ob sie Simon wirklich liebt. Je nachdem würde sie die Beziehung mit ihm fortsetzen oder bliebe allein. Sie hätte die Chance auf ein gelingendes Leben, ein Leben, das nicht andere für sie bestimmt hätten, sondern das ihr entspräche. Sie würde nicht mehr sündigen, indem sie sich verleugnet oder sich und ihre Bedürfnisse übergeht.

Gott will, dass wir ein gelingendes, erfülltes Leben leben. Wir sind seine geliebten Kinder, er möchte, dass es uns gut geht. So gibt er uns durch seine Gebote die Freiheit, unser Leben zu gestalten.
Gott sei Dank.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastorin Luise Stribrny de Estrada: 

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die meisten Gottesdienstbesucher, gerade in der Ferienzeit, sind ältere Menschen und Konfirmand/innen. Das Thema Ehebruch wäre eher für die mittlere Generation aktuell, aber von ihnen wird kaum jemand in den Gottesdienst kommen. Andererseits begegnet auch den Anwesenden indirekt dieses Thema, bei Kindern oder Eltern. Spannend ist es, denke ich, für alle. Auch im Konfirmandenunterricht sind die Jugendlichen bei der Sache, wenn es um das sechste Gebot geht.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mir geht es darum, die Frau nicht zum Objekt zu machen, wie die ganze Szene in Johannes 8 (außer Jesus in seinem letzten Satz) es tut, sondern zum Subjekt. Ich möchte sie ins Licht holen und mögliche Beweggründe für ihren Ehebruch erkennen. Ich möchte Verständnis für ihr Handeln wecken, anstatt sie zu verurteilen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich fand die Entdeckung hilfreich, dass Sünde die Verhinderung gelingenden Lebens ist. Das ist ein Sündenbegriff, mit dem ich etwas anfangen kann und der m.E. Gottes Blick auf uns entspricht.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich fand die Beobachtung hilfreich, dass wir alle beim Thema Ehebruch einbezogen sind und viele Assoziationen hochsteigen an Menschen, die ihre/n Ehepartner/in betrogen haben. Ein Ehebruch löst heftige Gefühle aus. Wir könnten alle noch viele weitere Geschichten erzählen wie bei den „Annäherungen“.

 

Perikope
Datum 10.07.2022
Bibelbuch: Johannes
Kapitel / Verse: 8,3-11