Stille Post und die Kette des Glaubens - Predigt zu 2. Petrus 1,16-21 von Wolfgang Vögele
1,16-21

Stille Post und die Kette des Glaubens

Der Predigttext für den ersten Sonntag nach Epiphanias steht in 2Petr 1,16-21: „Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen. Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm kam von der großen Herrlichkeit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge. Um so fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen. Und das sollt ihr vor allem wissen, dass keine Weissagung in der Schrift eine Sache eigener Auslegung ist. Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben von dem heiligen Geist haben Menschen im Namen Gottes geredet.“

Liebe Gemeinde,

Stille Post heißt ein schönes altes Kinderspiel, gut geeignet für die Geburtstage der Fünf- bis Neunjährigen. Möglichst viele Kinder setzen sich in einem Kreis eng nebeneinander. Das erste Kind denkt sich einen lustigen Satz aus: Die Kuh flog in hohem Bogen über die Weide. Sehr lustig! Diesen Satz flüstert das Kind, meistens schon kichernd, dem Nachbarn ins Ohr. Das Nachbarkind flüstert wiederum seinem Nachbarn weiter, was es von diesem ersten Satz verstanden hat. Unablässiges Kichern überall. Nach acht Einflüsterungen und acht leichten Veränderungen des ursprünglichen Satzes ist die Reihe am Ende. Das letzte Kind sagt laut, was es verstanden hat: Der Elefant trinkt Wasser mit dem Rüssel. Das Kichern wächst sich zum großen Gelächter aus, wenn das erste Kind dann den ursprünglichen Satz wiederholt. Von der Kuh zum Elefanten, von der Weide zum Rüssel. Die Kinder beschließen: Das war so schön, das spielen wir sofort noch einmal.

Kinder können über dieses Spiel Tränen lachen. Erwachsene können ihm eine kleine Dosis Psychologie entnehmen: Denn die stille Post bestimmt auch die Lebensgeschichte von Menschen. Jeder Mensch lebt aus Erbe und Erinnerungen. Er bekommt von seinen Eltern ein Erbe mit, das er in seinem eigenen Leben erinnern, wiederholen, durcharbeiten muss. Diese Mitgift aus dem Elternhaus trägt jeder in sich, bewusst oder unbewusst.  Und Eltern vererben ihren Kindern eine ganze Menge, genetisch, psychologisch, philosophisch, finanziell: Einfamilienhäuser oder Anteile an Aktienfonds; Schuldverschreibungen oder Lebensweisheiten; große, kleine, schmale, breite Nasen und blaue, grüne, braune Augen; Lebensfragen und Lebensgewißheiten; gute und schlechte Angewohnheiten und nicht zuletzt auch einen Glauben, religiöse Orientierungen und Überzeugungen.

Lassen wir finanzielle und biologische Aspekte der Sache beiseite und konzentrieren wir uns auf die Psychologie: Kinder übernehmen von ihren Eltern, aber auch von Großvätern und -müttern, Tanten und Onkeln eine Familiengeschichte, die prägend tief in die Seele hineinreicht.

Das kleine Baby steht vor vollendeten Tatsachen: Es wird sich stets diejenigen zum Vorbild nehmen, die es als erste kennen lernt. Vater und Mutter als erste Bezugspersonen prägen das kleine Kind von Anfang an. Je älter Kinder werden, desto mehr lernen sie bewusst von ihren Eltern, und irgendwann, meist im Alter zwischen elf und dreizehn, fangen sie an, sich abzusetzen und selbständig zu werden. Das meiste, was lernwillige kleine Kinder psychologisch prägt, übernehmen sie bewusst und unbewusst von Vater und Mutter. Je älter es wird, desto selbständiger verhält sich ein Kind zu seinem Erbe in Zustimmung und Ablehnung, in Vertrauen und Abneigung. Neben dem offensichtlichen und offenbaren Erbe nimmt das Kind auch die unbewussten, die nicht ausgesprochenen Botschaften der Eltern und Verwandten wahr. Je widersprüchlicher diese Botschaften sich darstellen, desto mehr muss es sich als erwachsener Mensch damit auseinandersetzen.

Das Kind empfängt psychologisch eine stille Post. Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun hat für diesen psychologischen Prozeß denselben Ausdruck gebraucht wie für das Kinderspiel. Das, was die Sender, die Eltern, an unbewussten Botschaften weitergeben, muss nicht unbedingt mit dem übereinstimmen, was die Empfänger, die Kinder aus solchen Botschaften empfangen. Es bestehen Unterschiede zwischen gesendeten und empfangenen Botschaften, und das ist manchmal für die Kinder beschwerlich und mühsam.

Nun will ich Sie, liebe Gemeinde, nicht dazu verführen, über die Botschaften Ihrer Eltern nachzudenken, die Sie als stille Post empfangen haben. Aber der Verfasser des 1.Petrusbriefes und auch wir heute stellen eine entscheidende Frage: Wie geben wir Christenmenschen das weiter, was wir Glauben nennen? Was geben wir unbewusst weiter und was geben wir öffentlich und mit Anerkennung und Respekt weiter? Wird der Glaube beim Weitergeben verfälscht? Wird er verfälscht, indem wir uns von den Ursprüngen des Glaubens entfernen? Wird er verfälscht, indem wir in den biblischen Glauben das eintragen, was unserer eigenen Überzeugung entspricht?

Der Briefeschreiber, den die alte Kirche Petrus genannt hat, scheint genau das zu befürchten. Wortgewaltig wehrt er sich dagegen, dass die Christen seiner Zeit „ausgeklügelten Fabeln“ folgen. Zu seiner Verteidigung beruft er sich darauf, dass er den Prediger aus Nazareth persönlich kennengelernt hat. Er ist ein unmittelbarer Augenzeuge des Heilsgeschehens.  Er war ein Zeuge.

Der Zeuge in einem Gerichtsprozess berichtet in der Regel von einem vergangenen Ereignis.  Weil von Zeugenaussagen Gerichtsurteile abhängen, haben die Gesetzgeber nicht in erst in neuer Zeit eine ganze Reihe von Regeln dafür aufgestellt: Um eine folgenlose Falschaussage zu verhindern, kann ein Zeuge vereidigt werden. Wer dann trotzdem vor Gericht eine falsche Aussage macht, wird wegen Meineids bestraft.

In den ersten Jahrhunderten breitete sich das Christentum schnell über den gesamten Mittelmeerraum aus. Die christlichen Gemeinden, die sich in den größeren Städten gründeten, stellten sich die Frage: Was gehört zu den unverzichtbaren Gehalten? Und was ist Beiwerk, das ist nicht unbedingt notwendig ist? Was widerspricht womöglich dem, was Jesus von Nazareth und die ihm nachfolgenden Apostel verkündigt haben? Darum schrieben Paulus, Petrus und Jakobus Briefe an die Gemeinden, die sie gegründet hatten. Sie wollten Streitfragen klären, Konflikte schlichten und den Glauben bekräftigen. Sie wollten das stark machen, was Glaube, Liebe und Hoffnung auf den Weg brachte. In einer Zeit ohne Internet und Email, ohne Chat und SMS waren diejenigen glaubwürdig, die mit eigenen Augen und Ohren gesehen und gehört hatten, was Jesus geredet und wie er gehandelt hatte. Im Gegensatz zu unserer modernen Gesellschaft waren damals Nachrichten nicht im Überfluss vorhanden, sondern eine begehrte Mangelware.

Glaubwürdig ist, wer den Heiland mit eigenen Augen gesehen hat und von ihm erzählen kann. Er gewinnt eine besondere Autorität.  Glaube lebt nicht nur von Erinnerung und Vergangenheit, sondern auch von der Gegenwart, von einer glaubwürdigen und respektgebietenden Haltung und Einstellung, von einer Frömmigkeit.

Es genügte für die ersten Christen in den Hafenstädten am Mittelmeer nicht, sich auf die ersten Zeugen zu berufen, auf diejenigen, die von Anfang an in der christlichen Bewegung mitgetan hatten. Glaube und Vertrauen an Gott werden in der jeweiligen Gegenwart Wirklichkeit. Glaube geht nicht auf in Geschichten, die wir einfach aus der Vergangenheit übernehmen. Glaube ist mehr als ein schwieriges Erbe und erst recht mehr als die Botschaft einer stillen Post. Richtig ist: Glaube lebt aus der Vergangenheit, aber er zielt auf Gegenwart und Zukunft.

Darin gleichen sich diejenigen, die heute versuchen, als Christen zu leben, mit denjenigen, die in der Zeit des 1.Petrusbriefes um den rechten Glauben stritten. Wir haben diese Möglichkeit nicht mehr, die ersten Zeugen zu befragen. Wir können nur noch die Briefe, Evangelien und andere Texte lesen und immer wieder neu deuten. Darin kehren wir immer wieder in die Ursprungszeit des Glaubens, in die ersten Jahrhunderte nach Christus zurück.

Um der Deutung der Bibel willen steht die Predigt in der Mitte des evangelischen Gottesdienstes. Wir alle sind darauf verwiesen, diejenigen Geschichten und Predigten zu hören und Briefe und Evangelien zu lesen, die die ersten Christen in den Jahrzehnten nach Jesu Kreuzigung verfasst haben. Wir alle empfangen den Glauben als Erbe von denjenigen, die uns in diesem Glauben vorangegangen sind. Wir sind angewiesen auf Botschaften und Zeugnisse derer, die Jahrhunderte vor uns dem biblischen Gott vertraut haben.

Niemand wird sich gern die Aufgabe wegnehmen lassen, für sich selbst herauszufinden, was er an christlichen Überzeugungen nachvollziehen, beten, handeln und leben kann. Darin ist er nur seinem Gewissen verantwortlich. Und genauso kann jeder wissen, dass er mit seinen persönlichen Überzeugungen in einer langen historischen Kette des Glaubens steht. Das ist die Kette der Weitergabe des Glaubens, die Kette des christlichen Erbes.

Wir lernen glauben von unseren Vätern und Müttern. Selbst wenn das nicht die leiblichen Väter und Mütter sind, so treten andere stellvertretend ein, um dieses Erbe des Glaubens weiterzugeben. Deswegen richtet sich große Aufmerksamkeit auf Kindergärten, in denen biblische Geschichten erzählt werden, auf Kindergottesdienst, in denen die Botschaft des Evangeliums kindgerecht weitergesagt wird, und auf den Konfirmanden- und Religionsunterricht. Denn alle diese Einrichtungen haben die Aufgabe, Kinder und Jugendliche von Glauben und Vertrauen zu überzeugen, liebevoll und sanft die Botschaft des Jesus von Nazareth – im wahren Sinn des Wortes – glaubwürdig, dem jeweiligen Alter angemessen weiterzugeben, nicht aber stur auswendig lernen zu lassen oder Bekenntnisse einzubimsen.

Damit solches liebevolle Lernen, das Vertrauen und Glauben schafft, Gestalt gewinnen kann, braucht es Menschen, die zu Zeugen des Glaubens werden, Menschen, die das christliche Erbe nicht im Sinn einer stillen Post weitergeben, sondern die eigene Geschichte des Glaubens mit allen Höhen und Tiefen offenlegen. Sie legen sie offen, weil der Glaube an Gott nichts zu verbergen hat. Wir alle haben die Aufgabe, den Glauben in der Gegenwart zu verantworten und dabei das Erbe derer aufzunehmen, die uns vorangegangen sind. Das geschieht in aller Vorläufigkeit und Offenheit.

Dazu gibt der Predigttext aus dem 1.Petrusbrief am Ende einige wichtige Hinweise: Mit Hilfe des prophetischen Wortes, so sagt es der Briefschreiber, soll der „Morgenstern“ in unseren Herzen aufgehen. Was ist damit gemeint? Im Glaube, in der christlichen Überzeugung, die uns prägt, kommen ganz unterschiedliche Elemente zusammen. Jeder bezeichnet das als seinen Glauben, was er vor sich selbst und seinem Gewissen verantworten kann. Er braucht dazu keine andere Richtschnur als die Bibel. Aber das zeigt schon: Glauben und Vertrauen leben auch von dem, was von unseren Vätern und Müttern an Glauben und Vertrauen übernommen haben. Und dazu zählen zuallererst die Briefe und Geschichten, welche die ersten Christen verfasst haben und die im Neuen Testament gesammelt sind. Und schließlich, so sagt es der Briefschreiber, gehört dazu die Hilfe des Heiligen Geistes. Glaube ist weder ausschließlich das Ergebnis eigener (Denk-)Arbeit noch die Übernahme dessen, was Väter und Mütter uns mitgegeben habe. Nein, Glaube ist daneben auch Geschenk, eine Gabe des Heiligen Geistes. Er wirkt in denen, die diese Botschaft des Evangeliums weitertragen wollen. Diese Botschaft besteht nicht in einer Sammlung von Regeln. Sie ist keine Moral. Sie besteht auch nicht in einer Sammlung von anrührenden Geschichten aus der Vergangenheit. Sie ist kein historischer Roman. Sie besteht in ihrem Kern in einer Person und in einem Namen: Jesus von Nazareth. Der Heilige Geist hilft uns, dass dieser Jesus von Nazareth in uns lebendig wird.

Er ist der Morgenstern, dem wir in Glauben und Vertrauen nachfolgen.

 

Perikope
09.02.2014
1,16-21