Stille werden und hoffen - Predigt zu Jesaja 30,8-17 von Karl Friedrich Ulrichs
30,8-17

Geh hin und schreib es vor ihnen nieder auf eine Tafel und zeichne es in ein Buch, dass es bleibe für immer und ewig. (Jes 30,8)

Und Jesaja ging hin und schrieb in ein Buch und seine Worte blieben und wurden laut, Jahre später und Generationen später. Und auch wir lesen seine Worte und hören sie. Wenn doch nur einem meiner vielen, viel zu vielen Worte aus dem vergangenen Jahr das blühte: aufgeschrieben zu sein und zu bleiben. Aber was ich gesagt habe und aufgeschrieben und gedacht und gemacht, bleibt nicht. Ich vermute, das ist gut so, ich will nicht darüber klagen. Was ich aufschreibe, das sind Worte, Sätze meiner fünfjährigen Tochter, Wortentdeckungen, Worterfindungen und -verdrehungen, Wortüberraschungen, kindliche Wortkunst. Fein säuberlich in ein schwarzes Buch geschrieben, mit Füller, wie sonst nichts. Das aufzuschreiben ist der Versuch zu bewahren, was mich in schönen Augenblicken glücklich gemacht hat.

Das Jahresende ist eine gute Gelegenheit, etwas aufzuschreiben in ein Buch. Das festzuhalten, was 2016 gebracht hat, was wir gehört und erlebt haben, gemacht und unterlassen. Da gibt es für jeden von uns Worte des Jahres und Unworte, Taten und Untaten. Wenn wir auf unser Leben schauen, still auf unsere persönlichen 365 Tage oder öffentlich auf 2016, gibt jeder Jahresrückblick auch Anlass zu Selbstkritik.

Sie sind ein ungehorsames Volk und verlogene Söhne, die nicht hören wollen die Weisungen des Herrn. (Jes 30,9)

Das müssen sich Jesajas Leute anhören. Apropos „verlogen“: 2016 wird als Jahr der Lügen in die Geschichtsbücher eingehen, meinte bei seinem Jahresrückblick zu Recht der Kabarettist Dieter Nuhr. Ist jemals so viel und so frech gelogen worden? Nicht in den Zeitungen – die „Lügenpresse“ kann es bei uns nicht geben, wenn Zeitungen nach Falschmeldungen zu Gegendarstellungen verpflichtet werden können. Gelogen wird in den sogenannten sozialen Medien, dass sich die digitalen Balken biegen und die Rückgrate vieler Menschen. Gelogen wird in Wahlkämpfen – so sehr, dass es den Leuten egal ist, ob jemand lügt. Dass es vielen sogar als pfiffig erscheint, nicht an Fakten, an Tatsachen gebunden zu sein.
Nun ist aufgeschrieben, was Gott von uns fordert in seinem Bund: dass wir nicht „falsch Zeugnis reden wider unseren Nächsten“. Das ist aufgeschrieben für immer und ewig, damit wir es uns nicht abgewöhnen, vor der Lüge zu erschrecken, vor den Lügen im Internet, vor den Lügen von Politikern und vor unseren eigenen Lügen schon gar nicht. Mit dem vergangenen Jahr vergehen auch die Lügen darin.
Aber im neuen Jahr könnte, ach, wird es so weiter gehen. Das gesagt zu bekommen ist unbequem. Menschen, die mahnen, gehen vielen auf die Nerven.

Was wahr ist, sollt ihr nicht schauen und ankündigen! Redet zu uns, was angenehm ist! Sehet, was das Herz begehrt! Und lasst uns in Ruhe mit dem Heiligen Israels! (Jes 30,10f)

Gott stört. Das ist unser Problem mit ihm. Martin Luther hat sich von Gott stören lassen und wurde darum auch unbequem. Das wäre doch etwas für 2017, wenn unser Reformationsjubiläum auch das vermittelt: Gott stört. Und wenn sich Menschen stören lassen und Gott neu für sich entdecken. Das wäre doch etwas!
Sich von Gott nicht stören lassen, damit steht man prächtig da, groß, mit harter Oberfläche. Und dann siehst du doch einen kleinen Riss. Da fängt es an zu rieseln. Und es rieselt immer mehr, bis die Mauer einstürzt. Das Bild von der Mauer ist auch von Jesaja. Ich habe es vor Augen und denke: Hast du einen Riss in deiner Mauer, in deinem Lebensgebäude gesehen im vergangenen Jahr? Oder doch lieber übersehen, das Rieseln nicht wahrhaben wollen, den ersten Staub auf dem Boden schnell beiseite gefegt?

Wie wenn ein Topf zerschmettert wird, malt Jesaja noch ein Bild, wie ein zerschmetterter Topf, dessen Bruchstücke so klein sind, dass du damit keine Glut holen kannst und kein Wasser. (Jes 30,14) Selbst wenn ein Herd in der Nähe ist oder ein Brunnen – sie nützen dir nichts. Kalt ist dir und durstig wirst du sein. Wegen der Lüge und weil du die Wahrheit nicht hören willst und Gott auch nicht.

So spricht Gott, der Herr, der Heilige Israels: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.(Jes 30,15)

Jesaja schrieb diese Worte auf, damit sie auf immer und ewig bleiben und bis zu uns dringen: Diese Worte bleiben Gottes Idee für uns, wenn wir taktieren und paktieren und Stärke mit Gegenmacht begegnen wollen. So, wie es Jesajas Leute gemacht haben, als sie sich, bedroht von einer Macht, mit einer anderen einlassen wollten.

Wir erleben dieser Tage in unserem Land eine zutiefst menschliche Reaktion: Auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz in Berlin werden zwölf Menschen getötet, ihre Familien und Freunde in Verzweiflung gestürzt. In der Mitte sind wir getroffen, wie der Bundespräsident sagte. Wir Bürger_innen erleben Ohnmacht – und viele fordern jetzt die Macht, die Stärke, die Härte unseres Staates. Menschen wollen heraus aus der Ohnmacht, aus der empfundenen Wehrlosigkeit, sie wollen in einem mächtigen und wehrhaften Staat leben. Dass dabei im privaten Kreis und öffentlich nicht so differenziert argumentiert wird, wie es wohl nötig wäre, ist verständlich. Wer sich bedroht fühlt, sich in Gefahr wähnt, will diese Gefühle schnell überwinden. Und da liegt es nahe, die eigene Stärke aufzurufen. Wir sind denen nicht ausgeliefert, wir können uns doch schützen, sie besiegen (und bestrafen). Unser Staat muss seine polizeilichen Möglichkeiten entschieden anwenden, neue Möglichkeiten durch neue Gesetze schaffen. Zimperlich war gestern!
Ich verstehe diese Reaktion, den Wunsch nach Stärke, ich bin auch nicht frei von solchen Gedanken. Zugleich weiß ich, dass das alles sehr kompliziert ist. Einfache Antworten auf Gewalt und Bedrohung gibt es wohl nicht. Um diese Antworten wird bei uns sehr gestritten. Und weil die Lage ernst ist, hält jeder seine Antwort für richtig, die Argumente der anderen für gefährlichen Unfug. Das hat der Terror schon einmal geschafft: Unfrieden in unsere Gesellschaft zu bringen.
Der gesellschaftliche Streit wird im nächsten Jahr weitergehen, so wie er dieses Jahr vergiftet hat. Auch das kann wohl gar nicht anders sein: Wenn wir Menschen in unsere Zukunft blicken, dann ertragen wir nicht, bedroht zu sein, Angst haben zu müssen. Eine Zukunft in Ohnmacht und Gefahr macht uns Angst. 2017 als Jahr von Ohnmacht und Gefahr wird uns keinen Spaß machen, ganz gleich, was da sonst noch stattfindet.

So spricht Gott, der Herr, der Heilige Israels: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. (Jes 30,15)

Diese Worte in unsere Zeit hinein gehört – aber nicht als politisches Patentrezept. Das wäre ein Missbrauch von Gottes Wort. Es ist ja keine Parole, sondern will uns verändern, uns machen zu Menschen nach Gottes Geschmack und Willen. Und bloßes Stillesein könnte ein Verstummen sein, nach Resignation klingen. Aber ich frage danach, was in diesem Prophetenwort überschießend ist, überraschend. Was ist hier gesagt, was wir sonst nicht hören? Das Stillesein wird zur Stärke, weil in ihm eine Hoffnung keimt. Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.
Jesajas Leute lehnen das ab, sie wollen nicht stille sein, ihnen fehlt die Hoffnung. Sie wollen laut sein und stark und sich ihrer selbst vergewissern. Geschimpft wird auf die da oben, den Fremden Verächtliches entgegengeschleudert, einander durch laute Sprechchöre Mut und Wut gemacht. Auf Schlachtrössern in den Kampf reiten wollen sie. Mit und auf den starken Rössern träumen sie von sich selbst als siegreichen Reitern. Diesen Traum wendet Jesaja mit Sprachspielen in einen Alptraum: Statt kraftstrotzend dahin zu fliehen, werdet ihr fliehen, statt auf Rennpferden zu reiten, werdet ihr wie die Hasen davonrennen. Statt der Gefahr zu entkommen, geratet ihr unentrinnbar hinein. Und glaubt nur ja nicht dem Augenschein, den Zahlen und Statistiken! Auch wenn ihr tausend seid – ein Feind genügt, um euch zu schlagen (das hören wir heute mit den verheerenden Möglichkeiten eines einzelnen mit Grausen). Er muss nur brüllen und ihr flieht. Eine Handvoll Feinde werden das ganze Volk vertreiben. Und das Ende eurer Fantasien von Stärke? Eine halb umgerissene Stange, daran flattert im Wind ein zerfetztes Tuch, ringsumher zerwühlter Boden und zerstörte Waffen und das, was von Menschen und Tieren übrigbleibt und nicht bleibt. Eine grausiges Bild, das wir einhundert Jahre nach der Schlacht an der Somme aus den History-Sendungen im Fernsehen kennen. Vor hundert Jahren wurde auch taktiert und paktiert und gelogen wie zu Jesajas Zeiten und – wer weiß? – schlimmer noch.

Stillesein und Hoffen: Für das alte und das neue Jahr, für alle Zeit vertrauen wir, dass Gott ein gutes Ende denkt, dass er Sinn sieht. Das nimmt uns nicht die Sorgen vor dem kommenden Jahr und das bedeutet nicht, dass dessen Tage und unser Tun darin nicht auch schwierig oder sogar leidvoll sein können. Beides im Herzen zu haben, darin liegt Stärke. Stark ist, wer hofft, dass nichts so bleiben muss, wie es ist. Und ich selbst schon gar nicht. Ich kann im neuen Jahr auch neu werden. Ich kann stille werden: aussteigen aus dem Dauergeplapper unserer Zeit und unserer Medien. Damit werde ich eine Zumutung für andere. Ich kann stille werden: Ich muss mich nicht ständig äußern, sondern kann an mich halten, bei mir sein, mich konzentrieren. Ich kann stille werden: Mir bewusst werden, in welchen Grenzen ich lebe. Ich kann stille werden und Gott gelegentlich mehr zutrauen als mir selbst. Ich werde stille – und freue mich auf das nächste Jahr.
Amen.

Perikope
31.12.2016
30,8-17