I. Tränen
»Tröstet, tröstet mein Volk!«, spricht euer Gott.
Redet herzlich mit Jerusalem, sagt über die Stadt: »Ihre Leidenszeit ist zu Ende, ihre Schuld ist restlos abgezahlt. Denn für all ihre Vergehen wurde sie vom Herrn doppelt bestraft.«
Nimm sie in den Arm, Gott. Nimm sie in den Arm und halte sie fest. Die Mütter und Töchter in Teheran, in Saqqez und Shiraz und Zahedan. Erschossen, weil sie ihre Haare frei wehen lassen. Die Eltern der 16jährigen Mahak Hashemi, die ihre Tochter nur schweigend begraben durften. Die Großmutter von der 7jährigen Hasti Naroui: Sie ging mit ihr zum Freitagsgebet und konnte sie nach einem Tränengasangriff nur noch tot im Schoß wiegen.
Nimm sie in den Arm, Gott, und halte sie. Und sage zu ihnen: Eure Leidenszeit ist zu Ende.
Nimm sie in den Arm, die Mütter und Töchter aus Kiew und Charkiw und Mariupol. Die die Massengräber öffneten und ihre Söhne und Väter und Töchter identifizierten. Die sich versteckten und doch gefunden wurden von den Folterern. Die ihre Heimat verließen und nun hier um ihre Liebsten bangen.
Nimm sie in den Arm, Gott, und halte sie. Sage zu ihnen: Eure Leidenszeit ist zu Ende.
Ist sie zu Ende?
Nichts wünscht du dir sehnlicher.
Dass Gott auch zu dir herzlich spricht und dich in den Arm nimmt.
Weil auch du manchmal nicht weißt, wohin mit deiner Not.
Weil dich die Tränen der Frauen und Mädchen im Iran und in der Ukraine berühren.
Weil du mit der Großmutter von Hasti weinst.
Und weil deine ganze verdammte Ohnmacht dich erdrückt.
Und vielleicht singst du mit mir:
Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal. (EG 7,4)
II. Wüstenbahn
Eine Stimme ruft: »Bahnt in der Wüste einen Weg für den Herrn! Ebnet unserem Gott in der Steppe eine Straße! Alle Täler sollen aufgefüllt werden, Berge und Hügel abgetragen. Das wellige Gelände soll eben werden und das hügelige Land flach. Der Herr wird in seiner Herrlichkeit erscheinen, alle Menschen miteinander werden es sehen. Denn der Herr selbst hat es gesagt.«
Eine Stimme ruft: Gott kommt und verändert die Welt. Gott kommt und alles gerät in Bewegung. Oder alles stoppt. Jedenfalls ist alles anders.
Gott stellt sich vor die russischen Panzer. Gott nimmt ihren Hijab ab und tanzt auf der Straße. Gott singt „Baraye“, aber verweigert die Nationalhymne eines Terrorregimes.
Gott ist da – gerade dort, wo du ihn nicht vermutest. In der Wüste, im Stall, am Kreuz. Gott steht am Fließband bei Amazon. Putzt die Schultoilette. Friert auf der Parkbank. Trinkt müde einen Kaffee in der Cafeteria der Klinik, bevor es zur nächsten OP geht.
Gott kommt. Gott ist da. Und Gott sei Dank kann das niemand verhindern.
Ich höre diese Stimme. Du auch? Ich möchte dieser Stimme glauben. Mehr denn je.
Und auch wenn es mir schwer fällt, so singe ich leise (und du vielleicht mit):
Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt. Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt. Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht. Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht. (EG 16,5)
III. Kraftlosigkeit
Eine Stimme spricht: »Verkünde!«
Manchmal ist sie zu laut, diese Stimme vom Advent. Manchmal will ich nichts als Stille. Alles scheint so vergeblich.
Ich fragte: »Was soll ich verkünden? Alle Menschen sind doch wie Gras. In ihrer ganzen Schönheit gleichen sie den Blumen auf dem Feld. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, wenn der Wind des Herrn darüber weht. Nichts als Gras ist das Volk!«
Ich teile die Worte der Iranerinnen im Netz. Aber wird es ihnen helfen? Ist das Regime nicht doch stärker?
Ich habe Decken für die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine zum Diakoniepunkt gebracht. Aber was nützt das ihren Verwandten?
Ich sehe, wie viel zu viele Menschen zu viel arbeiten.
Ich selber arbeite zu viel. Will Hoffungsworte verkünden und mühe mich mit ihnen ab. Brauche selbst dafür zu viel Kraft.
Kennst du das?
Mich macht das müde. Und sprachlos. Mir fehlen die Worte.
Und es tut mir gut, auch dieses Fehlen in der Bibel zu finden.
(Melodie von „Peacechild“)
IV. Stimme der Hoffnung
»Ja, das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt für alle Zeit.« Steig auf einen hohen Berg, du Freudenbotin für die Stadt Zion! Verkünde deine Botschaft mit kraftvoller Stimme, du Freudenbotin für Jerusalem! Verkünde sie, hab keine Angst! Sprich zu den Städten Judas: »Seht, da kommt euer Gott!
Hab keine Angst, sagt die Stimme.
Sei eine Freudenbotin. Verstumme nicht.
Wenn du kannst, sei laut.
Aber auch deine leise Stimme ist wichtig.
Vielleicht ist sie brüchig, heiser, zitternd.
Es ist deine Stimme, mit der du zu Gott betest.
Es ist deine Stimme, mit der du ein kleines gutes Wort sagst in einer Welt, die diese guten kleinen Worte so nötig hat.
Es ist deine Stimme, die die Zwischentöne einbringt.
Hab keine Angst, sagt die Stimme.
Hörst du die Stimmen, die rufen: Frauen. Leben. Freiheit!?
Hast du die andere Stimme gehört, die einst rief: Ich habe einen Traum. I have a dream.
Vor 60 Jahren.
Die schwarze Stimme eines Predigers in der Wüste einer rassistischen Welt.
Martin Luther King:
Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauhen Orte werden geglättet und die unebenen Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen.
Das ist unsere Hoffnung. Mit diesem Glauben kehre ich in den Süden zurück.
Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen.
Sei Freudenbote. Sei Freudenbotin.
Hau einen Stein der Hoffnung aus dem Berg der Verzweiflung.
Das Wort unseres Gottes lässt sich nicht aufhalten.
Dass jeder Mensch ein Kind Gottes ist und unvergleichlich ist und niemand niemand niemand das Recht hat, das anzuzweifeln – das ist stärker als jede Verzweiflung, jedes Verstummen, jede Patrone.
Ein großes Wort. Ein kleines Wort.
Stark genug, um ewig zu sein und eine Welt zu verwandeln.
Licht in der Nacht.
Stimmst du mit ein?
Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht, es hat Hoffnung und Zukunft gebracht; es gibt Trost, es gibt Halt in Bedrängnis, Not und Ängsten, ist wie ein Stern in der Dunkelheit.
IV. Weitergehen
Tröste, tröste sie, Gott.
Nimm die Frauen und Töchter in den Arm, die in Teheran und Shiraz, in Mariupol und Charkiw. Nimm Sabine in den Arm, die um ihre Mutter weint. Und Frida, deren Opa zum Schluss niemanden mehr erkannte.
Trockne ihre Tränen. Schreie mit ihnen.
Tröste, tröste mich, Gott.
Gib mir meine Stimme zurück. Hilf mir, sie zu erheben. Für sie. Für die Welt. Für dich.
Seht, Gott, der Herr! Er kommt mit aller Macht und herrscht mit starker Hand. Seht, mit ihm kommt sein Volk! Die er befreit hat, ziehen vor ihm her. Wie ein Hirte weidet er seine Herde: Die Lämmer nimmt er auf seinen Arm und trägt sie an seiner Brust. Die Muttertiere führt er sicher.«
Darauf hoffe ich, Gott.
Mit dir zünde ich die 3. Kerze heute an.
Mit dir gehe ich durch die Wüste.
Mit dir flüstere ich das kleine, unscheinbare Wort, das so viel Kraft hat.
Mit dir haue ich die Steine der Hoffnung aus dem Berg der Verzweiflung.
Mit dir träume ich von einer Welt, die Platz hat für wehende Haare in Teheran, Frieden in der Ukraine und sichere Häfen für alle.
Von einer Welt, in der auch die kleine, leise Stimme gehört wird.
Und mit dir stimme ich an:
Peacechild, in the sleep of the night, in the dark before light you come, in the silence of stars, in the violence of wars – Savior, your name.
Amen.
Lied: Peacechild / Friedenskind
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe erschöpfte Menschen vor Augen und die, die mit der derzeitigen Nachrichtenlage überfordert sind – und Menschen, die sich vielleicht mit dem Motiv der „Sprachlosigkeit“ identifizieren können und dennoch auf ein „gutes Wort“ warten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Dass Martin Luther King in seiner berühmten Rede „I have a dream“ den 4. Vers von Jesaja 40 zitierte und aktualisierte (und damit auch kontextualisierte) inspirierte mich dazu, auch die restlichen Verse – ähnlich wie Strophen eines Liedes – zu aktualisieren und direkt in die aktuelle politische Situation sprechen zu lassen. Und: diese Aufteilung in „Strophen“ brachte mich dazu, Liedstrophen dazu zu nehmen….
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Große Worte müssen manchmal auch in ihrer Größe ausgehalten werden. Sie übersteigen – jedenfalls momentan – meinen eigenen Glauben. Diese Ambivalenz wird in Jesaja 40 schön sichtbar – und das darf auch in der Predigt Platz finden.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach hat mir geholfen, etwas von der Schwere, die vorher übermächtig war, wegzunehmen, und ermutigte mich zu Umstellungen meiner Predigtteile, die den einzelnen Strophen zu mehr Kontur verhalfen.