"Traditionen machen fit für die Zukunft" - Predigt über 2. Mose 12, 1.3-4.6-7.11-14 von Lucie Panzer
12,1
Traditionen machen fit für die Zukunft
Am Gründonnerstag soll man was Grünes essen, hat meine Mutter jedes Jahr gesagt und nicht lange gefackelt: Es gab Spinat mit Spiegelei, manchmal auch Kartoffeln mit grüner Soße. Widerrede war da zwecklos. Das ist Tradition, hat sie gesagt. Heute ist Gründonnerstag. Außerdem ist es gesund. Damit war für sie alles geklärt. Genau wie an Rosenmontag, wenn es Fasnetsküchle gab. Und am Gründonnerstag hatte sie für uns Kinder sogar eine Tradition mit Fitnessfaktor. Eine Tradition, die fit macht für den Frühling gewissermaßen. Wie hätte man da widersprechen können! Zum Glück mochte ich Spinat gern.
Inzwischen habe ich gelernt: Mit den Traditionen ist das so eine Sache. Gründonnerstag kommt gar nicht von Grün. Eigentlich kommt das Wort von greinen. Greinen, das sagt man heute nicht mehr, das ist aus der Mode gekommen. Greinen, das heißt weinen, klagen. Gründonnerstag also der Donnerstag, an dem geweint wird, oder an dem einem nach Weinen zu Mute ist. Der Tag liegt ja auch mitten in der Karwoche. Da erinnern  wir Christen uns an Jesu Verhaftung und sein Verhör, wir erinnern uns, wie sie ihn gefoltert haben und schließlich hingerichtet. Schlimme Dinge sind damals in Jerusalem passiert. Und schlimmer vielleicht: solche Dinge passieren bis heute. Bis heute müssen Menschen leiden und sterben. Bis heute werden Unschuldige verraten, verhaftet und gefoltert. Bis heute haben Menschen Angst vor dem was kommt: Angst vor dem aufgebrachten Mob, der sie bedroht, im Internet oder ganz real. Menschen haben Angst davor, zu Opfern zu werden. Menschen haben Angst davor, zu scheitern, Angst vor einer Leidenszeit, vor dem Sterben. Zum Weinen ist das. Und wie oft würde man gern helfen und man kann gar nichts tun. Man könnte anfangen zu greinen, zu klagen, zu weinen – so wie Jesus und seine Jünger damals, am ersten Gründonnerstag in Jerusalem vor fast 2000 Jahren.
Dabei haben sie genau das damals nicht getan. Sie haben nicht geweint und nicht geklagt. Sie haben ein Fest gefeiert, denn: Es war Pessach, das wichtigste jüdische Fest. Für die Juden bis heute so wichtig, wie für uns Weihnachten. Da trifft sich die Familie, da kommen Freunde, da spürt man die Zusammengehörigkeit. Man isst und trinkt miteinander. Auch eine Tradition. Eine Tradition, an die man sich halten kann und die einen hält. Die die Menschen zusammenhält. Die alten Leute erzählen einem, wie man auch in ganz schlimmen Zeiten, im Krieg und gleich nach dem Krieg alles daran gesetzt hat, irgendwie Weihnachten zu feiern. Wenigstens für ein paar Stunden zu spüren, dass das Leben auch ganz anders sein kann. Das ist in Notzeiten vielleicht noch wichtiger, als wenn es einem gut geht. So ein Fest in schlimmer Zeit – da kann man sich gewissermaßen ausruhen. Entspannen von der Angst ringsherum. Das gibt neue Kraft. Und es macht Hoffnung auf eine andere, eine bessere, eine friedlichere Welt.
Genauso haben Jesus und seine Jünger damals Pessach gefeiert am Tag vor seiner Hinrichtung. Das war ihre Tradition. Dazu waren sie ja eigentlich nach Jerusalem gekommen. Pessach konnte man richtig nur in Jerusalem feiern. (So wie manche meinen, Weihnachten kann man nur unter dem Weihnachtsbaum bei Mutter feiern oder Sylvester nur am Brandenburger Tor in Berlin).Das war auch so eine Tradition. Gar nicht anders denkbar, egal wie die Umstände waren. Ich kann mir vorstellen, wie den Jüngern damals dabei zu Mute war. Wie ihnen das Greinen, die Tränen bis zum Hals standen. Wie sie dem nicht nachgeben wollten: Manchmal muss man die Tränen ja mit aller Kraft runterschlucken, weil man spürt: Wenn ich sie jetzt kommen lasse: Dann gibt es kein Halten mehr. Dann versinke und ertrinke ich darin. Und das wollten sie für diesen Abend beim Pessachmahl nicht. Sie wollten feiern. Die Welt da draußen vergessen. Manchmal ist das nötig, damit man wenigstens kurz durchatmen kann, Kraft schöpfen, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht. Spüren, dass es mehr gibt als Tränen und Sorgen. Das stärkt die Hoffnung, dass es wieder anders werden kann. Und natürlich: Sie wollten einfach noch einmal beieinander sein. Es tut gut, mit Freunden zusammen zu sein, wenn man sich Sorgen macht. Spüren, dass man nicht allein ist: das hilft und tröstet, auch wenn die anderen eigentlich gar nichts tun und nichts ändern können. Aber: ich bin nicht allein. Den anderen geht es wie mir. Sie verstehen mich. Das tut gut, wenn Angst und Sorgen einem das Herz schwer machen.
Beim Pessachfest wird Lamm gegessen. Lamm mit einer Art grüner Soße aus Kräutern. Noch so eine Tradition. Mit diesem Festessen erinnern die Juden sich bis heute an die Befreiung aus der Gefangenschaft in Ägypten. Eine Erfahrung, die noch viel länger zurückliegt als der erste Gründonnerstag. Aber bis heute essen sie dasselbe wie damals, in jener Nacht, als sie befreit wurden. Damit kann jeder schmecken und sehen und erleben, wie das war. Mitfeiern, mitessen, mittrinken, als sei er selbst damals dabei gewesen. Erleben, wie das ist, auf dem Sprung in die Freiheit.
Die Bibel erzählt, wie es war, in der Nacht, als sie bereit waren für den Aufbruch:
Predigttext aus Exodus 12
1Der HERR aber sprach zu Mose und Aaron in Ägyptenland:
3Sagt der ganzen Gemeinde Israel: Am zehnten Tage dieses Monats nehme jeder Hausvater ein Lamm, je ein Lamm für ein Haus.
4Wenn aber in einem Hause für ein Lamm zu wenige sind, so nehme er's mit seinem Nachbarn, der seinem Hause am nächsten wohnt, bis es so viele sind, dass sie das Lamm aufessen können.
6und sollt es verwahren bis zum vierzehnten Tag des Monats. Da soll es die ganze Gemeinde Israel schlachten gegen Abend.
7Und sie sollen von seinem Blut nehmen und beide Pfosten an der Tür und die obere Schwelle damit bestreichen an den Häusern, in denen sie's essen,
11So sollt ihr's aber essen: Um eure Lenden sollt ihr gegürtet sein und eure Schuhe an euren Füßen haben und den Stab in der Hand und sollt es essen als die, die hinwegeilen; es ist des HERRN Passa.
12Denn ich will in derselben Nacht durch Ägyptenland gehen und alle Erstgeburt schlagen in Ägyptenland unter Mensch und Vieh und will Strafgericht halten über alle Götter der Ägypter, ich, der HERR.
13Dann aber soll das Blut euer Zeichen sein an den Häusern, in denen ihr seid: Wo ich das Blut sehe, will ich an euch vorübergehen und die Plage soll euch nicht widerfahren, die das Verderben bringt, wenn ich Ägyptenland schlage.
14Ihr sollt diesen Tag als Gedenktag haben und sollt ihn feiern als ein Fest für den HERRN, ihr und alle eure Nachkommen, als ewige Ordnung.
So hat die Tradition des Pessachfestes angefangen: Gott wird euch befreien, hatte Mose ihnen versprochen. Er wird euch in eine gute Zukunft führen, er wird euch den Weg zeigen und neues Leben eröffnen. Und bevor es losgeht, sollt ihr noch einmal gut essen und trinken. Schlachtet ein Lamm. Das sollt ihr essen. Und sein Blut, das sollt ihr an eure Türpfosten streichen. Dann wird euch nichts passieren, wenn es heute Nacht schlimm zugeht. Keine Angst: Ihr werdet leben. Das Blut an den Pfosten wird euch schützen. Dann könnt ihr gehen. Dann werdet ihr frei sein.-
Eine uralte, archaische Geschichte. Aber jedes Jahr erinnern die Juden sich am Passahfest mit Lammbraten: Gott hat uns wirklich befreit. Er hat uns ein neues Leben geschenkt. Jetzt können wir frei und ohne Zwang leben. Und jeder, der dabei ist und mitisst, kann erleben: So schmeckt es, wenn die Freiheit beginnt. So schmeckt es, wenn man noch einen weiten Weg vor sich hat, wenn noch längst nicht klar ist, wie es wird und ob man es schafft. Aber wer beim Pessachfest Lammbraten isst und Kräutersoße und Brot, der weiß  ja auch: Damals ist nach langen Jahren, nach Rückschlägen und Irrtümern, alles gut geworden. Deshalb kann man mit diesem Festmahl auch erschmecken: So schmeckt es, wenn Gott einen auf den Weg schickt. So schmeckt es, wenn Gott einen befreit. So hat er meine Vorfahren befreit. Und damit hat er auch mich befreit. Gott ist einer, der seine Menschen frei macht. Die damals. Und mich heute. Er sorgt dafür, dass das anders wird, was nicht bleiben kann, wie es ist. Jedes Mal, wenn es Lammbraten gibt und grüne Soße, kann man das schmecken, wenn man die Geschichte dazu kennt. Bis heute.
Dieses Fest hat auch Jesus gefeiert, am Gründonnerstag, in Todesgefahr, einen Tag vor seiner Hinrichtung. Da wollte er noch einmal schmecken und sehen, dass Gott freundlich ist zu denen, die Angst haben. Dass er sie schützt. Dass er sie befreit, damit sie keine Angst mehr haben müssen. Und zu seinen Jüngern hat Jesus gesagt: Macht das auch weiterhin. Und erinnert euch dabei an mich. So ist bei den Christen eine neue Tradition entstanden. Das Abendmahl.
Nach seinem Tod haben die Jünger, die mit ihm gefeiert haben, von seiner Auferstehung gehört. Sie sind dem Auferstandenen begegnet. Sie haben erlebt: Es ist wahr. Gott hat ihn nicht im Stich gelassen. Er hat ihn auferweckt. Gott ist stärker als die Machthaber, die ihn hinrichten ließen. Gott ist stärker als der Tod. Deshalb haben sie dann bald gesagt: Er ist für uns gestorben, damit wir befreit und ohne Angst vor dem Tod leben können. Er zeigt uns die Hoffnung, die auch wir haben können. Wir brauchen uns nicht zu fürchten. Er ist sozusagen unser Lamm. Auch wenn wir irgendwann alle sterben müssen: Er befreit uns von der Todesangst. Er hilft uns, angstfrei zu leben. Wie damals dieses Lamm mit seinem Blut die Menschen in ihrer Angst geschützt hat.
Bis heute feiern wir Christen deshalb das Abendmahl. Das ist unsere Tradition. Da steckt von allem etwas drin, so ist das oft bei Traditionen. Da kommt vielerlei zusammen. Beim Abendmahl ist es die Erinnerung an Jesus. Die Erinnerung an die Befreiung durch Gott. Und das Gott die, die Angst haben und sich Sorgen machen schmecken lässt: Ich schütze euch. Ich gehe mit euch. Ich bin bei euch, bis ihr ankommt im Land der Freiheit. Da, wo man keine Angst mehr zu haben braucht. Daran erinnern wir uns bis heute Jahr für Jahr. Nicht nur am Gründonnerstag. Aber da besonders.
Wir feiern das Abendmahl ohne Lamm. Aber mit Brot und Wein. Wie das geworden ist, das ist ein anderes Thema für eine andere Predigt, eine andere Tradition. Wir feiern das Abendmahl, damit alle sehen und schmecken können, dass sie frei sein können. Frei von Angst. Und damit wir spüren können, dass wir zusammen gehören. Auch wenn wir noch Angst haben. Darum heißt es ganz traditionell beim Abendmahl: Kommt, es ist alles bereit. Sehet und schmecket, wie freundlich der Herr ist.
Und der Spinat? Und die grüne Soße? Die sind auch nicht schlecht. Wenn man‘s mag. Spinat soll ja gesund sein. Aber das ist schon wieder eine andere Tradition.
Perikope
28.03.2013
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