"Transformation" - Predigt über Lukas 18, 31-34 von Klaus Pantle
18,31

"Transformation" - Predigt über Lukas 18, 31-34 von Klaus Pantle

Transformation
Er nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird übergeben werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.
Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.
Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte. Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei. Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.
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Bereits mit Anfang 30 wurde sie berentet. Seither ist sie krank, über 40 Jahre schon. Sie redet über fast nichts anderes. Sie beschäftigt sich für fast nichts anderes. Für andere Menschen, so sie sich nicht auf sie beziehen, interessiert sie sich kaum. Mit ihrer Krankengeschichte und ihrem demonstrativ zur Schau gestellten Leiden gewinnt sie  Aufmerksamkeit und findet immer wieder Menschen, die sich um sie kümmern. Sie sieht diese an, aber sie sieht nicht sie, sondern sie spiegelt sich nur in ihrem Blick. Böse Zungen sagen, sie sei seit 40 Jahren von Beruf krank. Was sie verdiene an Aufmerksamkeit und Zuwendung, das erarbeite sie sich über ihre Krankheit. Würde sie über Nacht plötzlich geheilt – nicht auszudenken, was von ihr übrig bliebe.
Der Blinde an der Straße vor Jericho ist anders gestrickt. Wie lange er schon blind ist und durch Betteln sein Auskommen verdient, wird nicht erzählt. Das spielt auch keine Rolle. Er will, dass sich etwas ändert. Unbedingt sofort. Als er mitbekommt, dass der als Arzt bekannte Jesus mit seiner Entourage vorüberzieht, schreit er. Nach Verwandlung schreit er, wie verrückt, so dass die, die ihn zur Raison bringen wollen, machtlos sind.
Ein Blinder will sehen. Er will heraus aus seinem Eingeschlossensein in die dunkle Welt des ausschließlichen Selbstbezugs. Man kann sich als Nicht-Blinder nicht vorstellen, wie das ist, wenn man das Gesicht eines anderen Menschen nicht sehen und seinem Gegenüber nicht in die Augen blicken kann. Natürlich entwickeln Blinde andere Sensibilitäten als Sehende. Aber wir Menschen sind Gesichtssucher. Wenn wir uns begegnen, blicken wir uns an – von Angesicht zu Angesicht. Die Vis-à-vis-Beziehung zwischen Mutter und Kind steht am Anfang jeden Lebens und begründet die Fähigkeit, zwischenmenschliche Beziehungen aufzunehmen. Die wesentliche Kommunikation läuft über das Gesicht, schon zwischen Baby und Mutter. Eine Unmenge an Informationen wird über diesen Blickkontakt ausgetauscht, und das Unterbewusste, vor allem das des Kindes, wird davon geprägt. Von Angesicht zu Angesicht erkenne ich den Anderen, seine Liebe, seine Freude, seine Trauer, seine Wut. „Dein blaues Auge hält so still, Ich blicke bis zum Grund. Du fragst mich, was ich sehen will? Ich sehe mich gesund.“ Eines der schönsten Liebeslieder von Johannes Brahms fasst in so Poesie, wie Liebe ist. Aber auch das Gegenteil vermittelt sich über den Blick von Angesicht zu Angesicht: das Nicht-Verstehen, die Ablehnung, die Zurückweisung. Die Vis-à-vis-Szene ist die Ur-Szene zwischenmenschlicher Interaktion. Wem die Möglichkeit, daran teilzunehmen fehlt, dem fehlt Wesentliches.
Der Dokumentarfilm „Marina Abramović – The Artist is Present“ („Die Künstlerin ist anwesend“) handelt von einer Performance im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA). Über 90 Tage, sechs Tage in der Woche, sieben Stunden lang, sitzt Marina Abramović auf einem Holzstuhl in der Lobby des Museums. Die 62-jährige Künstlerin verharrt dort ohne Pause, ohne zu essen, zu trinken, aufzustehen oder zu sprechen. Überwiegend reglos sieht man sie da sitzen, eine ungewöhnlich kraftvolle Frau mit markantem Gesicht und kräftigen schwarzen Haaren, anfangs in eine blaue, später in eine weiße und am Ende in eine rote Robe gehüllt. Ihr gegenüber steht ein zweiter Stuhl, auf den sich jeder setzen kann, der will. 750.000 Besucher kommen in das Museum in den drei Monaten. Jeden Morgen wird die Schlange länger. Die Menschen stammen aus New York, kommen bald aus der ganzen Welt, sie übernachten auf der Straße vor dem Museum, stehen stundenlang Schlange. Mehr als 15.000 gelingt es, ihr gegenüber auf dem Stuhl zu sitzen.
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Dem Blinden gelingt, was er will. Jesus hört ihn, lässt ihn zu sich führen, sieht und spricht ihn an: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ „Herr, dass ich sehen kann.“ – „Sehen! Dich! Menschen! Gesichter! Die Welt! Das Schöne! Und auch das Hässliche.“ Das scheint mitentscheidend zu sein: Dass da einer kommt, der dieses Aufbäumen auslöst. Und der sich dann auch kümmert, indem er verharrt, den Blinden ansieht, von Angesicht zu Angesicht, und ihn anspricht. Der sich da kümmert, hat Übung im sich kümmern. An anderer Stelle im Lukasevangelium heißt es, dass er vielen Blinden das Gesicht geschenkt habe (7, 22).
Marina Abramović hebt dann, wenn sich ihr jemand gegenüber gesetzt hat, ihr Gesicht. Der Filmbetrachter sieht dieses Gesicht aus der Perspektive desjenigen, der sich ihr gegenüber gesetzt hat. Man blickt in ein Gesicht mit markanter Nase und grau-grünen Augen und hat das Gefühl, noch nie einen solchen Blick gesehen zu haben und noch nie von irgendjemandem so angeschaut worden zu sein. Konzentriert blickt sie ihrem Gegenüber ins Gesicht. Dabei  öffnet sie sich geradezu osmotisch für ihr Gegenüber. Alles scheint für die Dauer dieses Augenblicks möglich. Die gefilmten Bilder von diesem Spiel zwischen den Blicken wirken so anrührend, weil sie unsere elementaren Bedürfnisse treffen, Bedürfnisse, die in unserer Welt medial vermittelter Kontakte nicht mehr erfüllt werden und weil sie diese Bedürfnisse so bewusst machen: Die Hoffnung, im Angesicht eines Anderen etwas zu erfahren, was das Innerste, was das Wesen des Menschen ausmacht; die Sehnsucht, als Individuum ernst genommen, persönlich gemeint und zugleich der eigenen Würde versichert zu werden.
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„Sei sehend“, sagt Jesus zum Blinden. „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Der Schrei nach Transformation und das Kümmern desjenigen, der diesen Schrei hört, führen zur Ermächtigung des Kranken und zu seiner Verwandlung. Er geht weg und bricht auf ins Offene. Der, von dem es heißt, dass er vielen Blinden das Gesicht geschenkt hat, ist der, der die Welt der Blindheit und des In-Sich-Verschlossen-Seins aufsprengt. Das Offene ist das, was er Reich Gottes nennt und es spiegelt sich in seinem Antlitz. Wer mit offenen Augen sieht, der entdeckt in jedem Gesicht Spuren einer Welt und einer Lebenswirklichkeit, die betroffen machen, die begeistern und einen infizieren mit Energie und Liebe. Die neu erlangte Fähigkeit zur Kommunikation vis-à-vis entwickelt eine ungekannte Dynamik und zugleich eine Intensität und eine Intimität, die so vorher nicht da waren. Das reißt den Verwandelten wie die, die das Geschehen beobachten, hin zum Gotteslob. Sie können gar nicht anders.
Aus den Gesichtern der Menschen, die Marina Abramović gegenüber sitzen, kann man vieles lesen: Angst, Glück, Trauer, Hoffnung, alles, was man sich vorstellen kann – aber niemals Gleichgültigkeit. Menschen fangen an zu weinen, wie Pilger an einem Wallfahrtsort, die sich danach sehnen, geheilt zu werden. Frauen halten die Hand auf’s Herz. Andere lächeln verklärt. Einer Mutter kommen die Tränen, als ihr Kind, ein Zehn- oder Zwölfjähriger von seiner Sitzung zurückkommt. Eine Frau bricht weinend zusammen, als hätte sie soeben eine letzte Wahrheit erfahren. Manche berichten danach von einer lebensverändernden Erfahrung. Was geschieht bei dieser wortlosen Art von Kommunikation? „Energie-Transfer“ nennt Marina Abramović das, was bei diesen Sitzungen geschieht. Ihr Gegenüber empfängt im Museum etwas, woran es ihm im Leben mangelt: Stille, eine meditative Stimmung, einen anderen Bewusstseinszustand als im Alltag; ungeteilte Aufmerksamkeit und was diese bewirken kann; einen Blick, der allein ihm gilt. „Bedingungslose Liebe“, sagt Marina Abramović hinterher. Das habe sie empfunden für jede Person, die ihr gegenüber saß, selbst für diejenigen, die abgekoppelt blieben, was es auch gab. Das Innehalten ohne jede Möglichkeit der Ablenkung  lasse die Alltagsfassaden, in denen man sich eingemauert habe, in sich zusammen brechen. Deshalb rännen so viele Tränen über die Gesichter. Alte Frauen weinen, halbwüchsige Jungs, Männer in Anzügen, junge Mädchen. „Ich sah so viel Schmerz, so viel Leiden“, sagt Marina Abramović. „Sie leiden am Mangel an Liebe. Am Mangel an menschlicher Berührung.“ Am Mangel an face-to-face-Kommunikation. Wer sich ihr gegenüber setzt, setzt sich einer solchen aus. Der oder die riskiert etwas und erfährt eine Verwandlung. „Wenn Du nichts riskierst, dann bedeutet das, dass du immer dasselbe tust.“
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Nun ist die Erzählung vom Blinden, der sehend wird, aber nur die eine Hälfte der Geschichte. Vor der Heilung spricht Jesus zu seinen Jüngern von seinem Schicksal. Er, der Arzt, der, in dessen vis-à-vis-Kommunikation das Gottesreich aufscheint, wird leiden.„Denn er wird übergeben werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.“Was hat das Leiden mit dem Heilen zu tun? Jericho, wo die Szene spielt, liegt nur noch 26 Kilometer von Jerusalem entfernt. Jerusalem ist Jesu Ziel. „Dort wird alles vollendet werden.“ Nicht nur einzelne Blinde und Lahme, die ganze Welt wird dann geheilt sein. Was im Kleinen schon vollzogen, wird im Großen noch geschehen. Das wird ein schwerer und schmerzhafter Prozess. Jesus wird sich aussetzen und „dahingegeben“ werden. Hingabe braucht es schon für weniger als die Rettung der Welt. Und sie kann schmerzhaft sein. Der Weg durch die Passion ist Teil der Transformation.
 „Es sieht einfach aus“, sagt Marina Abramović über ihre Performance. „Ich sitze einfach da, aber ich erleide höllische Schmerzen.“ Man betrachtet sie und erkennt in ihr mit zunehmender Dauer einen Märtyrerkörper, man sieht eine Mater dolorosa mit rotgeränderten Augen, aber empfänglichem Geist. Es ist für sie ein Durchleben und Erleben von Extremen. Durch das „Tor des Schmerzes“, sagt sie, gelange sie in einen anderen Bewusstseinszustand, der die radikale Offenheit für das Gegenüber erst ermögliche. Wie man dazu kommt, solche Aktionen zu machen? „Meine Mutter hat mich nie geküsst, nie im Arm gehalten“, erinnert sich Marina Abramović. „Meine (jugoslawische) Kindheit bestand aus Drill und Pünktlichkeit. Ich wurde zum Soldaten erzogen, ohne Liebe, aber ich hatte eine liebevolle Großmutter, die sehr gläubig war. Ich wuchs also auf mit dieser seltsamen Mischung aus kommunistischer Disziplin und Spiritualität. Das machte mich zu dem, was ich heute bin.“ Am Ende ihres Sitzungstages sieht man sie erschöpft in die Yoga-„Haltung des Kindes“ zu Boden fallen. Man begleitet sie ins Umkleidezimmer und erlebt mit, wie sie ihre Gliederschmerzen herausstöhnt. „Es geht bei diesem Stück um Liebe“, sagt sie. „Wenn du dein Herz öffnest, tut es weh. Ich wusste nie, dass das Herz wehtun kann vor Liebe, vor selbstloser Liebe.“ „Bedingungslose Liebe zu jemandem, den du noch nie getroffen hast, ist ein direktes Gefühl, das überwältigend und erfüllend ist. Es ist nicht leicht, das zu tun. Ich versuchte einen Raum zu gestalten, wo ich wirklich leer war. Ich bin Empfänger und Sender zugleich. Dann kann ich mich öffnen und verletzbar sein und diese andere Person kann sich in diesem Moment komfortabel fühlen und loszulassen, all ihre Schmerzen und ihr Herumirren, und fühlen, dass ich bedingungslos liebe und dass ich nichts daraus herausziehen will.“
Sich auf solche Prozesse einzulassen oder ihnen zuzusehen oder auch nur davon zu lesen oder zu hören, fordert heraus zur Nachfolge. Denn: „Christ ist jemand, der glaubt, dass Unempfindlichkeit oder Gleichgültigkeit das Schlimmste ist, was passieren kann.“ (Klaas Huizing). Amen.