Trinitatis-Christentum: Diskret, distanziert, aber nicht gleichgültig!
Der Predigttext für das heutige Fest der Dreieinigkeit, für den Sonntag Trinitatis, steht im Johannesevangelium, Kapitel 3, die Verse 1-8:
„Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden. (2) Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. (3) Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. (4) Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? (5) Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. (6) Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist. (7) Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von neuem geboren werden. (8) Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.
Unanschaulich,
liebe Gemeinde,
das Trinitatisfest steht im Ruf, genau dies zu sein: Unanschaulich.
Wer könne sich schon konkret vorstellen, was das bedeute: Gott als Drei in Einem?
Und was habe diese Lehre von der Dreieinigkeit Gottes mit dem menschlichen Leben, mit unserem Alltag zu tun?
Trinitatis – das sei ein „Ideenfest“, weit weg vom Alltag, vom Lebens des „normalen“ Menschen, wer auch immer das sei.
Trinitatis – das sei eine Kirchenjahrs-Spezialität für Theologen.
Ganz anders als Weihnachten, wo das kleine Kind uns alle daran erinnert, wie unser Leben ist:
geschenkt, nicht gemacht;
angewiesen auf Vertrauen und Liebe;
gefährdet, aber bewahrt.
Weihnachten hat Bilder, die an die Tiefen unsere Seele rühren:
ein Kind in der Krippe,
eine sorgende Mutter,
eine Familie auf der Flucht,
der offene Himmel über dem Hirtenfeld,
der Glanz einer anderen Welt,
der Engel, der Mut macht: Fürchtet euch nicht! Friede ist da!
Oder Ostern, wo der gekreuzigte und auferstandene Christus uns an die Bedingungen und Hoffnungen unseres Lebens erinnert:
Ein sinnloses Leiden und Sterben, aber genau darin die Hoffnung eines ungeheuerlichen Trostes, ohne den wir nicht zu leben vermögen, jedenfalls nicht, ohne zynisch zu werden – Gott hält die Sinnlosigkeit bis zum Ende mit uns aus.
Ein einsamer, verzweifelter Tod, inmitten von Verrätern, Mitläufern und Gaffern, aber darin die Kraft und die Spuren einer ganz und gar unfassbaren Liebe – Gott trägt sie alle und uns mit, hin zu einem neuen Anfang.
Auch Ostern hat Bilder, die an die Tiefen unsere Seele rühren:
der leidende Mensch,
der verzweifelte Schrei,
eine weinende Mutter,
doch eben auch der dritte Tag,
ein neuer Anfang,
das offene Grab,
der offene Himmel am Ort des Todes,
der Glanz einer anderen Welt,
der Engel, der Mut macht: Fürchtet euch nicht! Jesus ist auferstanden!
Ja, und auch Himmelfahrt und Pfingsten verbinden sich mit unserer Lebenserfahrung und erinnern uns an das, was wir zum Leben benötigen:
nämlich mehr als das Irdische – den Blick zum offenen Himmel;
mehr als das, was aus uns selbst kommt – die Inspiration und den Elan einer anderen Welt;
mehr als unsere kleine Kraft – die Kraft des himmlischen Geistes.
Auch Himmelfahrt und Pfingsten haben Bilder, die an die Tiefen unserer Seele rühren:
die Bewegung des Geistes,
die Energie von Feuerflammen,
die Dynamik von Wind,
die Gemeinschaft von Fremden mit Fremden,
der offene Himmel beim Abschied Jesu von seinen Jüngern,
der Glanz einer anderen Welt,
und auch hier der Engel, der Mut macht: Fürchtet euch nicht! Christus bleibt bei Euch, auch wenn ihr in nicht mehr seht.
Weihnachten, Ostern, Pfingsten – alle Feste des Kirchenjahres drücken elementare Erfahrungen und Hoffnungen unseres Lebens aus und haben Bilder, die uns Menschen unmittelbar und in unseren Gefühlen zugänglich sind.
Trinitatis aber scheint unanschaulich, spröde, unzugänglich.
Es gibt kein Brauch, der sich mit diesem Fest verbindet.
Es gibt keine großen Bilder, mit denen sich dieses Fest verknüpft hat.
Und dennoch, so behaupte ich, dennoch hat dieses Fest enorm viel mit unserem Alltag und mit unserem Glauben zu tun. Gerade weil es vordergründig so unanschaulich, so unaufgeregt, so spröde ist.
Mit Nikodemus, von dem der Predigttext erzählt, hat das Trinitatisfest ein Gesicht, und wir sehen hier das Gesicht eines höchst modernen Christentums. In Nikodemus begegnen wir einer zeitgenössischen, modernen Form des christlichen Glaubens, die uns vermutlich allen vertraut ist und die vielleicht auch unseren Glaubensalltag bestimmt. In Nikodemus begegnen wir unserem Glauben jenseits der großen Feste des Glaubens.
Was ist das Besondere an Nikodemus? Wofür steht seine Form des christlichen Glaubens, gewissermaßen sein „Trinitatis-Christentum“?
Ich glaube, es ist ein Doppeltes:
Der Glaube des Nikodemus ist diskret, distanziert, aber nicht gleichgültig.
Beginnen wir mit dem ersten:
Der Glaube des Nikodemus ist diskret, distanziert.
Er kommt bei Nacht zu Jesus.
Nun kann man sagen: In seiner Position, ein Pharisäer, einer von der gegnerischen Seite, der hatte einfach schlicht Angst.
Man kann das aber auch anders sehen:
Manche Menschen benötigen für den Glauben Diskretion, die Möglichkeit zur Distanz.
Nicht jeder will immer und überall über seine innersten religiösen Gefühle reden.
Nicht jeder will immer und überall ein öffentliches Bekenntnis ablegen.
Denn nicht jeder ist in Glaubensfragen immer ganz klar, völlig entschieden und eindeutig.
Manche brauchen für ihren Glauben ein gewisses Maß an Distanz.
Weil sie eher tastend, eher fragend, eher suchend unterwegs sind.
Weil Gefühle, zumal religiöse Gefühle sie beschämen und sie immer ein bisschen sprachlos machen.
Weil sie nicht richtig wissen, wie das geht: glauben und welche Worte passend sind.
Weil sie aber auch nicht immer belehrt werden wollen, darüber wie Glaube geht.
Weil sie selbst entscheiden wollen, wann sie über den Glauben reden, was genau sie dann reden wollen, wann sie welche Konsequenzen aus ihrem Glauben ziehen, wie stark sie sich in Institutionen einbinden lassen, wieviel Gemeinschaft sie brauchen und welche Gestalt sie ihrem Glauben geben. Der Glaube selbst ist immer auch der Diskretion bedürftig.
Für diese Form des diskreten, immer leicht distanzierten Christentums steht Nikodemus.
Er kommt in der Nacht.
Er geht in die Nacht.
Später wird er in einem Streit der Pharisäer, wie denn mit diesem Jesus zu verfahren sei, ein vermittelndes Wort für Jesus einlegen, dabei immer die Distanz wahren (7, 50-52).
Und nach Jesu Tod wird er helfen, Jesu Leichnam zu balsamieren, wieder im Verborgenen, wieder im Schutz des Unerkannten (19, 39f.).
Nikodemus bleibt in der Distanz.
Er wahrt diskret Abstand.
Dass er aber trotzdem einen dreifachen Platz im Evangelium hat, das erinnert alle, die im Glauben hochmotiviert und der Kirche engverbunden sind, daran: Distanz ist erlaubt. Diskretion zulässig. Distanzierter, diskreter Glaube ist kein minderwertiger Glaube. Daran erinnert Nikodemus am Trinitatis-Fest. Er rechtfertig die, die immer ein bisschen Abstand halten und mahnt die, die diesen Abstand gerne weg-bekehren möchten, den Anderen doch ihren Freiraum zu lassen und nicht immer vorzuschreiben, wie „richtiger“ Glaube geht.
Aber es gibt noch ein Zweites:
Nikodemus bleibt in der Nähe Jesu.
Sein Glaube ist diskret, distanziert, aber er ist nicht gleichgültig.
Manchmal wächst ja aus der Distanz die Gleichgültigkeit.
Da hat man den Glauben scheinbar lange nicht benötigt. Die Kirche schon gleich gar nicht. Und um kein Geld zu verlieren, tritt man sicherheitshalber aus. Und plötzlich merkt man: Auf die Dauer ist einem mehr abhanden gekommen als nur ein paar Euro. Es fehlt Orientierung, eine innere Heimat, ein Set an Bildern und Gedanken, die einem helfen, das Leben zu verstehen. Es fehlt Gott. Und jetzt weiß man nicht, wo und wie er zu finden ist. Man hat den Glauben verloren und jetzt weiß man nicht mehr, wie er geht.
Aus Gleichgültigkeit wird Ahnungslosigkeit, aus Ahnungslosigkeit Ratlosigkeit, aus Ratlosigkeit dann vielleicht Orientierungslosigkeit und im schlimmsten Fall Hoffnungslosigkeit.
Nikodemus aber scheint zu wissen:
Zum guten Leben gehört Religion, gehört der Glaube.
Und der Glaube, der bedarf der Pflege.
Man muss mit den Gegenständen, den Fragen und Inhalten des Glaubens im Gespräch bleiben, sie umtreiben, sonst verlernt man das.
Woher komme ich?
Wohin gehe ich?
Worauf hoffe ich?
Wofür stehe ich?
Das sind nämlich die Fragen, die Nikodemus mit Jesus diskutiert:
Komme ich als Mensch aus mir selbst oder aus Gott?
Wie kann ich als Mensch mit Gottes Kraft in Verbindung kommen?
Wie kann ich so „neu“ werden, dass diese göttliche Kraft mein Leben prägt?
Und wie kann ich Jesus, den Gott in Menschengestalt verstehen?
Wer ist dieser Jesus für mich?
Diese Fragen treiben Nikodemus zu Jesus.
Und er gibt sich nicht mit vordergründigen Antworten zufrieden.
„Zeichen“ genügen ihm nicht.
Er will verstehen.
Er will es nachvollziehen können.
Denn er weiß: So einfach ist das alles nicht. Auch nicht so einfach, wie manche Profis des Glaubens behaupten. „Neu“ zu werden, das ist schwierig. Alle sind wir eingebunden in unser Leben, in unsere Welt. Wir sind Teil dieser Welt. „Fleisch“ bleibt „Fleisch“. Wir kommen da nicht raus und der sonntägliche Kanzelappell, jetzt endlich „neu“ zu werden, ist auf die Dauer auch anstrengend.
Weil er es für sich selbst und sein Leben verstehen will, will Nikodemus mit Jesus im Gespräch bleiben.
Und zwar, ohne am Ende ein Bekenntnis abzulegen.
Nikodemus wird nicht bekehrt.
Er gibt die Distanz nicht auf.
Distanz halten, Fragen stellen, hier und dort Antworten ahnen, eine Geste des Glaubens wagen – das ist der Glaube des Nikodemus.
Hier begegnet uns kein unerschütterlicher Bekennermut.
Auch kein missionarisches Sendungsbewusstsein.
Die unbedingte Nachfolge der Jünger sieht anders aus.
Hier begegnet uns eine religiöse Mittellage,
ein Glaube der leisen, fragenden Töne.
Hier begegnet uns also womöglich der Alltag auch unseres Glaubens.
Denn – Hand aufs Herz:
Wer dreht schon jeden Tag am ganz großen Rad des Glaubens?
Wir leben alle einverwoben in unsere Zeit – angepasst und abgesichert, ein bisschen lauwarm.
Wir haben oft auch andere Sorgen als den Glauben: Die Kinder müssen in die Kita, das Auto in die Werkstatt, die Oma zum Arzt und man selbst ins „Meeting“.
Irgendwie sind wir alle Teil des Systems und für die großen religiösen Gefühle, für die Bilder, die unsere Seele in der Tiefe berühren, für die ganz großen Fragen, da haben wir an Weihnachten, Ostern und Pfingsten Zeit. Aber dazwischen und danach – da gibt es Alltag. Da fahren wir auf Distanz, bewältigen unser Pensum und hoffen, den Anschluss nicht zu verlieren.
Mit dem heutigen Sonntag endet die Festzeit des Kirchenjahrs, bis zum Ersten Advent.
Das Festjahr der Kirche schaltet auf Alltag.
Es entlässt uns gewissermaßen.
Jetzt wird es nüchtern, spröde, ohne große Bilder, irgendwie unanschaulich und unaufgeregt.
So wie unser Alltag eben ist, eingespannt zwischen Kita, Werkstatt, Meeting, Pflichten und Verpflichtungen, Sorgen und Banalitäten, Hetze und Anspannung, unser Leben wie es eben ist.
Dass wir in diesem Leben Gott und den Glauben nicht aus dem Blick verlieren, dass wir auf Sicht bleiben, auch daran erinnert Nikodemus.
Dass wir das Fragen nicht aufhören,
dass wir uns nicht zu sehr einrichten im Alltag,
dass wir uns nicht verlieren im Klein-Klein,
auch dafür steht Nikodemus an Trinitatis.
Er rechtfertigt also auch jene, die sagen: Das Leben ist mehr als Alltag und als Money, Money, Money. Das Leben ist größer. Die Fragen nach dem Geist, nach dem Reich Gottes, nach dem offenen Himmel, diese Fragen dürfen nicht verstummen. Wo Menschen oder eine ganze Gesellschaft gegenüber diesen Fragen gleichgültig werden, da verliert sie mehr als ein paar Euro. Da verliert sie Orientierung, eine innere Heimat, ein Set an Bildern und Gedanken, die einem helfen, das Leben zu verstehen. Irgendwann fehlt Gott, eine Hoffnung, die das eigene Leben in die Ewigkeit der Liebe und des Geistes einbindet.
Liebe Gemeinde,
so also ist das mit dem scheinbarbar unanschaulichen Trinitatisfest. Es erzählt von unserem Glauben jenseits der großen Festtage, von unserem Alltagsglauben. Und das ist doch oft ein Glaube, der Distanz nimmt, der auf Diskretion setzt, eine mittlere Tonlage pflegt. Dieser Glaube aber ist nicht gleichgültig, sondern bleibt unsicher und fragend mit Jesus im Gespräch, fährt gewissermaßen auf Sicht. Distanziert, diskret, aber nicht gleichgültig – das ist das Trinitatis-Christentum. Und dann erfahren wir plötzlich in der Tiefe unsere Selle, dass es eben doch stimmt: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren wird“. Wir wissen nicht, woher es kommt, aber es ist da. Unanschaulich, aber es ist Gott. Er ist da. In unserem Leben. Diese Erfahrung gebe er uns, der dreieinige Gott, Trinitatis-Christen, die wir ab heute sind.
Amen.
Anregungen fand ich bei Johann Hinrich Claussen, Religion ohne Gewissheit. Eine zeitdiagnostisch-systematische Problemanzeige, in: PTh 94 (2005), 439-454 und bei Kristian Fechtner, Diskretes Christentum: Volkskirche im Übergang, in: Zeitzeichen 12/H.10 (2011), 22-24.