Über den eigenen Schatten springen
Liebe Gemeinde,
ist es Ihnen schon jemals gelungen, über Ihren eigenen Schatten zu springen?
Im wörtlich sportlichen Sinne wird uns das wohl schwerlich gelingen, selbst wenn wir noch so kühne Verrenkungen machen und womöglich einen Sturz riskieren.
Im übertragenen Sinne könnte es uns aber durchaus einmal gelingen – oder ist es uns womöglich schon einmal gelungen?!
Es lohnt sich, darüber nachzudenken.
Was aber bedeutet es, über den eigenen Schatten zu springen? Es bedeutet, sich einen kräftigen Ruck zu geben, ungewöhnlich und einmal ganz anders zu handeln, als es sonst unserer Überzeugung, unserer Gewohnheit oder unserem Charakter entspricht. Ja, das kann auch heißen: für eine richtige Sache sogar einmal einen eigenen strengen Grundsatz zu ignorieren. Dazu gehört Mut, denn man betritt einen bisher unbekannten unsicheren Weg – wie eine schwankende Brücke. Man kann jedoch auf diesem Weg überraschend zu neuen schönen Ufern gelangen. Und es können sich dabei freundliche befreiende Horizonte auftun, die unser Bewusstsein erweitern. Genau das geschieht in unserem heutigen Predigttext:
Die Hauptpersonen sind zwei ganz unterschiedliche Männer:
Da ist einerseits Petrus, der uns bekannte Jünger, der mit Jesu eng verbunden und mit ihm unterwegs war, und der auch nach dessen Tod und Auferstehung die Botschaft Jesu verkündigt.
Da ist auf der anderen Seite ein Hauptmann der römischen Besatzungsmacht, ein Heide, der sich zwar sehr für den jüdischen Glauben und die Gottesdienste interessiert, der betet und sogar Almosen gibt, der aber doch ein Fremder ist und bleibt und keinesfalls richtig dazu gehört.
Und stellen wir uns einmal vor, welcher Mensch uns in unserer näheren oder weiteren Umgebung so absolut fremd wäre, dass wir mit ihm oder ihr nicht an einem Tisch sitzen wollten, dann rückt uns die damalige Situation in der Apostelgeschichte erstaunlich nahe.
Für den Juden Petrus ist es jedenfalls undenkbar, mit dem Heiden Kornelius Kontakt zu haben, denn Heiden galten als unrein, und es war nach jüdischem Gesetz sogar verboten, Umgang miteinander zu haben.
Und wer könnte oder wollte da nun über seinen eigenen Schatten springen – bis hinüber zu einem so ganz anderen fremden Menschen?!
Wo solch ein unüberwindbarer tiefer Graben die Menschen voneinander trennt, da muss Gott selbst eingreifen. Und so schickt er einen Engel zu Kornelius um ihm zu sagen, er solle Petrus zu sich einladen. Wenn aber ein Engel kommt, dann folgt man natürlich dessen Anweisungen. Und so schickt Kornelius sofort zwei Vertraute zu Petrus.
Aber auch Petrus muss zuerst von einer göttlichen Eingebung bewegt werden: Während er oben auf seinem Hausdach, dem Himmel nahe, sein Gebet spricht, bekommt er eine seltsame Vision: der Himmel tut sich auf, und es kommt ein
großes leinenes Tuch vom Himmel, an vier Zipfeln wird es niedergelassen. Darin befinden sich vielerlei kriechende krabbelnde Tiere und Vögel. Eine himmlische Stimme fordert Petrus nun auf, diese Tiere zu schlachten und zu essen. Petrus aber widerspricht vehement und angeekelt, hat er doch noch nie etwas Verbotenes Unreines gegessen. Die Stimme aber weist ihn zurecht: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht verboten!“ Dreimal muss der Engel kommen. Und wir erinnern uns: dreimal hat er, der doch zuverlässig wie ein Fels sein sollte, seinen Herrn verraten. Dreimal musste er wieder einen neuen Auftrag bekommen: „Weide meine Schafe!“ Petrus ist ratlos, was dies nun wieder für ihn bedeuten soll. Es folgt eine weitere himmlische Anweisung, er solle die drei Männer begleiten, die ihn jetzt gleich besuchen werden, denn Gott selbst habe sie geschickt. Und dann heißt es in unserem Predigttext:
Da stieg Petrus hinab zu den Männern und sprach: siehe, ich bin´s, den ihr sucht, warum seid ihr hier? Sie aber sprachen: Der Hauptmann Kornelius, ein frommer und gottesfürchtiger Mann mit gutem Ruf bei dem ganzen Volk der Juden, hat Befehl empfangen von einem heiligen Engel, dass er dich sollte holen lassen in sein Haus und hören, was du zu sagen hast. Da rief er sie herein und beherbergte sie.
Drei wildfremde Männer zu beherbergen, das ist zwar im Judentum durchaus Sitte und göttliches Gebot, aber hier auch ein erster Schritt, um dem himmlischen Auftrag Folge zu leisten und dabei über den eigenen Schatten zu springen.
Am nächsten Tag machte er sich auf und zog mit ihnen, und einige Brüder aus Joppe gingen mit ihm.
Petrus nimmt den Weg zu dem Fremden auf sich, ohne auf den Gedanken zu kommen, diesen stattdessen zu sich her zu bestellen. So weiß er sich ganz im Auftrag Gottes unterwegs und zögert nicht, sich auf einen Grenzen überschreitenden Weg zu machen. Ob wir das so ohne weiteres tun würden?
Und am folgenden Tag kam er nach Cäsarea. Kornelius aber wartete auf sie und hatte seine Verwandten und nächsten Freunde zusammengerufen.
Und als Petrus hereinkam, ging ihm Kornelius entgegen und fiel ihm zu Füßen und betete ihn an. Petrus aber richtete ihn auf und sprach: Steh auf, ich bin auch nur ein Mensch.
Welch´ ein befreiender Satz! Keiner muss sich vor dem anderen beugen. Keiner ist geringer als der Andere. Der Einheimische will auf Augenhöhe mit dem Fremden sein. Ein provozierender Gedanke, mitten hinein gesprochen in unsere Klassengesellschaft, wo manche gesellschaftliche Schicht mit der anderen schon fast keine Berührungspunkte mehr hat. Hier aber stehen sich zwei Menschen auf Augenhöhe gegenüber. Und wer sich auf Augenhöhe begegnet, der sieht mehr, sieht tiefer, sieht im Gegenüber den Menschen, das geliebte Geschöpf Gottes. Und allein mit einem solchen Blick beginnt schon ohne Worte eine bewegende Kommunikation. Denn mit einem Blick in die Augen eines Menschen, ist der Fremde mit einem Mal nicht mehr befremdend oder gar bedrohlich, sondern da erkennt man womöglich einen Menschen mit Gefühlen, mit Ängsten, mit Hoffnungen, mit Sorgen und auch mit Humor, mit Heimweh und einer Familie, die er liebt. Mit einem Glauben, der ihm kostbar ist. Und mit einem Mal entdecke ich im Gegenüber einen Menschen, der mich unglaublich bereichern kann, dem ich zuhören kann, den ich verstehen kann, der meinen Horizont erweitert und sich auch für mich und mein Leben interessiert, und mit dem ich mich über unsere Verschiedenheit und über die Vielfalt der Geschöpfe Gottes von Herzen freuen kann!
Und während Petrus mit Kornelius redete, ging er hinein und fand viele, die zusammengekommen waren. Und er sprach zu ihnen: ihr wisst, dass es einem jüdischen Mann nicht erlaubt ist, mit einem Fremden umzugehen oder zu ihm zu kommen; aber Gott hat mir gezeigt, dass ich keinen Menschen meiden oder unrein nennen soll. Darum habe ich mich nicht geweigert zu kommen, als ich geholt wurde.
Keinen Menschen meiden oder ihn unrein nennen – das ist eine Lektion Gottes, die selbstverständlich sein sollte, die wir aber alle immer wieder von neuem zu lernen haben. Wir würden es freilich nie zugeben, dass wir manchen Menschen aus dem Weg gehen und nichts mit ihnen zu tun haben wollen. Weil sie uns im besten Falle einfach gleichgültig sind, oder weil sie uns nicht ebenbürtig oder zu fremd scheinen in ihrem Verhalten, ihren Neigungen, ihrem Glauben, ihrem Aussehen. Dass Gott hier den Petrus sogar veranlasst, ein ganz altes Verbot zu überspringen, das ist in der Tat bemerkenswert! Und wohl dem, der noch ein offenes Ohr hat für Gottes Weisung und für die Fingerzeige seiner Boten. Wohl dem, der noch Freude hat, auch an den unkonventionellen Wegen Gottes!
So frage ich euch nun, warum ihr mich habt holen lassen.
Kornelius sprach: Vor vier Tagen um diese Zeit betete ich um die neunte Stunde in meinem Hause. Und sieh, da stand ein Mann vor mir in einem leuchtenden Gewand und sprach: Kornelius, dein Gebet ist erhört und deiner Almosen ist gedacht worden vor Gott. So sende nun nach Joppe und lass herrufen Simon mit dem Beinamen Petrus, der zu Gast ist im Hause des Gerbers Simon am Meer. Da sandte ich sofort zu dir, und du hast recht getan, dass du gekommen bist. Nun sind wir alle hier vor Gott zugegen, um alles zu hören, was dir vom Herrn befohlen ist.
Gott erhört also auch Gebete Fremder, wenn sie von Herzen kommen. Er nimmt auch den wahr, der anders ist. Er sieht tief ins Herz und erkennt, wie ernst es einem betenden suchenden Menschen ist.
Petrus aber tat seinen Mund auf und sprach: Nun erfahre ich in Wahrheit, dass Gott die Person nicht ansieht, sondern in jedem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.
Auf diese Erkenntnis läuft alles hinaus! Gott sieht die Person nicht an. Er fragt nicht, woher einer kommt, welche Geschichte oder Heimat eine hat, ob er arm oder reich, fromm oder zweifelnd ist. Was hier beginnt mit der Überwindung der Grenzen zwischen Judenchristen und Heidenchristen, ist der Weg des Evangeliums, der frohen Botschaft von der Grenzen überwindenden Liebe Christi, die allem Volk widerfahren wird. Der Apostel Paulus drückt es mit anderen Worten aus: „Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus. …Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt eins in Christus Jesu. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.“
Anschließend erzählt Petrus allen Versammelten von Jesu Taufe durch den Heiligen Geist, von seinen Heilungen, Begegnungen und Taten, und schließlich von Jesu Tod und seiner Auferstehung. Zuletzt gibt er den Auftrag zum Verkündigen weiter. Und dann müssen wiederum manche ganz kräftig über ihren eigenen Schatten springen, denn am Ende der Ausführungen geschieht noch einmal Unvorstellbares:
Der Heilige Geist wird gleichermaßen über Judenchristen wie über Heidenchristen ausgegossen. Die Judenchristen sind darüber entsetzt, aber Petrus erkennt und spricht: Kann auch jemand denen das Wasser zur Taufe verwehren, die den Heiligen Geist empfangen haben ebenso wie wir? Und er befahl, sie zu taufen in dem Namen Jesu Christi.
Ja, woher wollen wir es denn so genau wissen, über wen der Geist Gottes ausgegossen ist! Wer wirklich zu den Kindern Gottes gehört und von ihm gebraucht wird, um seine Liebe in diese Welt zu tragen und die Menschen zu einem friedvollen Zusammenleben zu bringen, an dem Gott seine wahre Freude hat?! Sind nicht alle Gottes Geschöpfe, von ihm geschaffen, gewollt und unendlich geliebt?
Die Hiesigen und die „Reigschmeckten“, die Früh- und die Spätaussiedler, die Gastarbeiter und die vielen, die wir so dringend als Fachkräfte und Mitmenschen in unserem Land brauchen. Unsere Urgroßväter und Urgroßmütter, die einst ausgewandert sind, um dem Hunger zu entfliehen und über dem Teich Glück und Wohlstand zu finden. Die Kinder der ehemaligen Gastarbeiter, die inzwischen nicht nur Klassensprecher in unseren Schulklassen werden, sondern selbstverständlich auch Ministerinnen und Minister! Die Menschen, die eine bittere Fluchtgeschichte hinter sich haben, die sie bis heute prägt und mitunter auch traumatisch einholt. Und ebenso die Menschen, deren Hoffnungen mit ihren Familienangehörigen in überfüllten Booten ertrunken sind. Die Asylsuchenden vor unseren Kommunen, denen eine Riesenwelle aus Angst, Misstrauen und Überforderung entgegen schlägt. Wer weiß, was Gott uns Christenmenschen zu sagen hätte, wenn er erneut einen Engel zu uns senden würde? Vielleicht eben doch, dass auch wir über unsere Schatten springen sollen, weil sein lebendiger Geist unsere engen Denkmuster durchwehen und den Horizont unseres Geistes und unserer Herzen weit machen will? Wer weiß?! Gott hat seine ganz eigene Weise, um unsere Welt göttlicher und dadurch menschlicher zu machen und sie mit seiner grenzenlosen Liebe zu füllen! Schotten wir uns also nicht ängstlich ab, und verbarrikadieren wir nicht unseren Verstand mit Vorurteilen. Sondern öffnen wir weit unsere Herzen und Sinne dem lebendigen Geist, denn wer weiß, was für Gott noch alles möglich ist, wenn wir Menschen seinen Engeln nicht das Wort verbieten?!
Hanns Dieter Hüsch hat in seinem „Segen für Versöhnung“ gesagt:
„Im übrigen meine ich, dass Gott uns alle schützen möge auf unserem langen Weg zur Versöhnung mit allen Menschen und mit allen Völkern….
Er möge von seiner Heiterkeit ein Quentchen in uns hineinpflanzen, auf dass sie bei uns wachse, blühe und gedeihe, und wir unseren Alltag leichter bestehen. ... und dass er uns fähig mache, weiterhin zu glauben an seine Welt, die nicht von unserer Welt ist…Er möge … uns beflügeln, Freiheit und Phantasie zu nutzen, um Feinde in Freunde zu verwandeln. Er lösche langsam in uns jedes Vorurteil, langsam, denn wir stecken bis über beide Ohren voll davon. Er schenke uns von seiner Vielfalt ein Stückchen Großmut und führe uns nicht in Haarspaltereien, Gedankenenge und Geistesnot.
Er erhalte uns unseren Eigensinn, …und gebe uns … die Kraft, am Ende aufzustehen für einen neuen Anfang. …
Darum bitten wir ihn um seinen Trost, um seine Hilfe, um seinen Verstand und um seine Gnade…, dass alle sich mit allen versöhnen. Dass der Hass die Welt verlasse und die Liebe in allen Menschen wohne, um uns von Gottes Zukunft zu erzählen. Amen.“
(Hanns Dieter Hüsch, in: „Das Schwere leicht gesagt“, S. 146f)