Bei unserer diesjährigen Urlaubsfahrt durch Frankreich fielen mir einmal mehr die vielen Kriegsdenkmäler auf. In beinahe jedem Dorf, manchmal sogar in kleinen Weilern, lässt sich ein solches finden. Viele von ihnen erinnern an die Gefallenen im ersten Weltkrieg. Allein aus der ohnehin nicht allzu sehr besiedelten Bretagne – unserem diesjährigen Urlaubsziel – fielen 250.000 Männer. Was für ein schrecklicher Blutzoll! Bei unserer Fahrt durch die Champagne stimmten mich die viele Hinweistafeln auf die Schlachtfelder von Verdun, auf Weltkriegsmuseen und Gedenkstätten sehr nachdenklich. Verdun - hier lieferten sich Franzosen und Deutsche 1916 einen unerbittlichen, brutalen und besonders verlustreichen Stellungskrieg. Alleine auf deutscher Seite wurden weit über eine Million Soldaten durch die „Hölle von Verdun“ geschickt; bei den Franzosen verhielt es sich ähnlich.
Mit Verdun verbinde ich aber auch noch ein anderes Bild. Ein ganz gegenteiliges: 22. September 1984. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Staatspräsident François Mitterrand treffen sich auf dem Gelände eines riesigen Soldatenfriedhofs nördlich von Verdun. Ein Meer von 16.000 weißen Kreuzen ist zu sehen. Außerdem ein riesiges Beinhaus. Hier lagern die sterblichen Überreste von 130.000 unbekannten Kriegstoten. Es ist ein trüber Septembertag. Nieselregen geht nieder. Kohl und Mitterrand stehen nebeneinander mit Blick auf das Beinhaus. Kränze wurden niedergelegt. Jetzt werden die Nationalhymnen gespielt. Die französische Militärkapelle spielt zuerst die deutsche, danach die deutsche Kapelle die Marseillaise. In dem Moment, in dem die ersten Töne der französischen Hymne erklingen, passiert das Unerwartete: Mitterand streckt spontan seine Hand seitlich in Richtung Helmut Kohl aus. Kohl erfasst sie und die beiden Staatsmänner verharren in dieser Haltung bis zum Ende der Marseillaise. Das Bild macht Geschichte. Nicht, dass damit die deutsch-französische Freundschaft begründet worden wäre. Das Verdienst der Umkehr aus jahrhundertelanger Feindschaft hin zu Freundschaft und Vertrauen kommt den deutsch-französischen Politikergenerationen vor Kohl und Mitterand zu. Mitte der 1980er Jahre, als Kohl und Mitterand in Verdun stehen, ist die deutsch-französische Freundschaft längst Teil der Staatsräson beider ehemals verfeindeter Staaten. Dennoch war und ist der Händedruck von Verdun bedeutsam. Er gab und gibt dem in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg neu gewachsenen Vertrauen einen starken, treffenden Ausdruck. Er ist auch Ausdruck dafür, dass Umkehr selbst aus schlimmsten Verstrickungen und Irrtümern heraus möglich ist. Dass auch aus dem Bösesten – wenn alle es wollen – Gutes entstehen kann. Dass es einen Weg gibt vom Tod zum Leben. Dieser Weg führt über Umkehr und Vergebung.
Umkehr – das ist auch das Thema im heutigen Predigttext. Jesus befindet sich in Jerusalem. Im Tempel kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit den Hohenpriestern und Schriftgelehrten, also den religiösen Führern. Jesus erscheint einigermaßen erbost. Schließlich fragt er:
Was meint ihr aber? Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh hin und arbeite heute im Weinberg. Er antwortete aber und sprach: Nein, ich will nicht. Danach reute es ihn und er ging hin. Und der Vater ging zum zweiten Sohn und sagte dasselbe. Der aber antwortete und sprach: Ja, Herr!, und ging nicht hin. Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan? Sie antworteten: Der erste. Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr. Denn Johannes kam zu euch und lehrte euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und obwohl ihr's saht, tatet ihr dennoch nicht Buße, sodass ihr ihm dann auch geglaubt hättet. (Mt 21,28-32)
Jesus übt hier eine harsche Kritik an den religiösen Führern seiner Zeit. Wie er, so hatten doch auch sie die deutlichen Predigten von Johannes dem Täufer gehört. Zur Lebensänderung, zu Schuldbekenntnis und persönlicher Umkehr hatte er aufgerufen. Viele hatte sein Bußruf angesprochen. Sie kamen zu ihm an den Jordan und ließen sich von ihm taufen. Er sprach ihnen Vergebung und Gottes Nähe zu. Unter denen, die die Botschaft von Johannes ganz ernst nahmen, waren auch Zöllner und Prostituierte gewesen. Sie stellt Jesus nun als besonders vorbildlich heraus. Die religiösen Führer seiner Zeit finden offenbar keine Gnade vor seinen Augen. Zu sicher scheinen sie ihm in ihrem religiösen System, das sie sich geschaffen haben. „Ja, ja!“, sagen sie und wähnen sich auf der richtigen Seite des Glaubens. Für Jesus aber sind da zu viele Gesetze, die peinlich genau befolgt werden sollen, jedoch fehlt Barmherzigkeit. Da sind so viele Reglungen – alle gut gemeint, sicher. Aber die Liebe bleibt zu oft auf der Strecke. Besonders zu den Armen, Kranken, Schwachen, zu den Witwen und Waisen. Umkehr wäre nötig. Hinwendung zu dem, was wesentlich ist. Hinwendung zum Nächsten. „Barmherzigkeit will ich und keine Opfer!“ – so predigten es schon die Propheten. So redet auch Jesus. Bei den religiösen Führern sieht er zu viel religiösen Betrieb und zu wenig echtes Fragen nach dem Willen Gottes. Das macht ihn wütend. Deshalb dieses harsche Wort. Umkehr wäre nötig. Weg auch vom religiösen Betrieb, hin zu mehr persönlichem Glauben, zu mehr Gebet. „Der Tempel soll ein Bethaus sein!“, hatte Jesus kurz zuvor den konsternierten Priestern und Leviten entgegenrufen.
Was könnte eine solche Umkehr befördern? Auch in meinem Leben? Was hilft mir, selbstkritisch und ehrlich werden zu können – vor mir selbst, vor anderen, vor Gott? Ich glaube, ich brauche dafür ein Klima ohne Angst. Offene Arme, die mich freundlich empfangen, helfen mir. Wohlwollen, das mir entgegengebracht wird. Es würde mir die Umkehr erleichtern, wenn ich wüsste, dass ich nicht kleingemacht werde mit hämischen oder besserwisserischen Worten, wie: „Siehst du, ich hab es dir ja gleich gesagt!“, oder so etwas Ähnlichem. So etwas turnt ab. Mich motiviert ein Wort wie dieses: „Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht der Herr, und nicht vielmehr, daran, dass er umkehre von seinem Weg und lebe?“ Das hat der Prophet Hesekiel einmal gesagt (Hes 18,23). An anderer Stelle sagt Jesus: „Im Himmel ist Freude über einen Sünder, der umkehrt, mehr als über 99 Gerechte.“(Lk 15,7.10) Und Jesus erzählt die Geschichte von dem Sohn, der sich von seiner Familie losgesagt hatte, unter die Räder kam und schließlich reumütig zurückkehrte. Dem hält der Vater keine Moralpredigt, als er zurückkommt. Vielmehr hatte der Vater tagtäglich vor der Haustür gesessen und sehnsuchtsvoll auf die Rückkehr des Sohnes gewartet. Nun, da er seinen Sohn am Horizont auftauchen sieht, springt er auf, läuft ihm entgegen und schließt ihn voller Freude in die Arme.(Lk 15) „So ist Gott!“, will Jesus sagen. Gnädig und barmherzig, geduldig und von großer Güte! (Ps 103) Umkehr ist möglich. Versöhnung kann dort gelingen, wo beide Seiten dazu bereit sind.
In seinem Buch „Das Wesen des Judentums“ schreibt der 1956 verstorbene Rabbiner Leo Beck: „Der Mensch … kann umkehren. Er kann zum Gebot und zum Ursprung seines Lebens … zurückgelangen und damit zu Gott immer wiederkehren. Er kann, wenn er gesündigt hat, immer wieder anders werden… Er kann sich immer wieder entscheiden, immer wieder beginnen. Dem Leben des Menschen wird der Anfang immer neu gewährt, der Anfang bleibt ihm die stete … Möglichkeit. … (In der Umkehr) kann sich das Leben des Menschen immer erneuern.“(61960, S.178f)
Bis auf den heutigen Tag begehen Juden in aller Welt in den Monaten August und September ihren Monat Elul. Das bedeutet 40 Tage lang ein kritisches Nachdenken über das eigene Verhältnis zu sich selbst, zum Mitmenschen und zu Gott. Die christliche Fastenzeit vor Ostern hat hier ihr Vorbild. Der Monat Elul bedeutet eine Zeit der Buße. Diese soll sich auch in ganz konkreten Handlungen gegenüber den Mitmenschen zeigen. Das können ganz einfache Dinge sein. Z.B. der Besuch bei einem kranken Nachbarn. Die Unterstützung eines sozialen Projektes. Hilfe für einen bedürftigen Menschen. Die 40 Tage des Monats Elul stehen unter dem Motto: »Wachet auf, ihr Schlafenden, lasst euch erwecken aus eurem Schlummer, überprüfet eure Taten und kehret reuig zurück.«(Maimonides).
Umkehr ist möglich. Jeden Tag. Auch für mich: Umkehr zum Leben.
Und der Friede Gottes…
Amen.