„So spricht der Herr: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr.“
I. Bei einer Fortbildung vor einigen Jahren bekam ich, zusammen mit einigen Kolleginnen, folgende Aufgabe: Was sind deine wichtigsten Stärken? Notiere mindestens 40 davon! Das war unerwartet schwer. Bei 20 wusste ich nichts mehr aufzuschreiben. Es wäre mir leichter gefallen, die Stärken einer der Kolleginnen aufzuzählen. Es war nicht nur schwer, weil mir nicht genug einfiel – es war auch unangenehm. Sogar peinlich. Noch peinlicher, den anderen die eigene „Liste meiner Stärken“ vorzulesen. Das gehört sich doch nicht, das ist doch Angeberei. So dachten die meisten in unserer Gruppe. Wie oft erfülle ich die Ansprüche nicht, die an mich gestellt werden, wie oft bleiben Aufgaben unerledigt, Lösungen unvollständig, Termine nicht eingehalten. Eigentlich ein Wunder, dass ich überhaupt etwas zustande bekomme. Solche Gedanken hatte nicht nur ich. Wir merkten: Wir sind geprägt von dem Anspruch, bescheiden zu bleiben. Man lobt sich doch nicht selbst! Die Kehrseite dieser Bescheidenheit: Wir trauen uns zu wenig zu, packen Dinge nicht an, die wir doch ändern sollten. Und letztlich wollen wir eben doch gelobt werden und geschätzt für unsere Leistungen: von Eltern oder Vorgesetzten, von Freunden und Familienmitgliedern.
Im krassen Gegensatz zu dieser Erfahrung steht die Kultur der Selbstdarstellung. Ein Blick in die Zeitung oder in facebook genügt. Wer ist der Stärkste, die Klügste, der Schönste, die Reichste? Wer hier nicht laut genug „Ich“ schreit, wird gar nicht wahrgenommen. Selbst wenn wir uns in dieser Öffentlichkeit gar nicht bewegen – wir sind auch von dieser Kultur geprägt. Spätestens bei der Bewerbung um die nächste Stelle oder um eine Beförderung, als Kandidatin für ein Amt oder Vertreter in einem Gremium: Da muss gesagt werden, was ich gut kann, worin ich gut bin, was ich erreichen will.
Zwischen Minderwertigkeitsgefühl und maßloser Selbstüberschätzung - was kann ich eigentlich wirklich? Was kann ich bewirken in der Welt – in meiner unmittelbaren Umgebung und im Zusammenleben in der Familie, bei der Arbeit, in der Kirche? Und spiele ich überhaupt eine Rolle in den großen Zusammenhängen, wenn es um politische Entscheidungen geht, um Frieden und Umwelt und Gerechtigkeit? Bin ich nicht zu schwach, zu unbedeutend? Welchen Wert haben meine Fähigkeiten, meine Begabungen, mein Dasein in dieser Welt?
II. Der Prophet Jeremia erzählt von solchen Ohnmachtserfahrungen. Er ist ein Prophet des Untergangs. Er erlebt Krieg und Zerstörung, politische Dummheit und maßlose Gewalt. Er beschreibt das alles mit unbestechlichem Blick: Was geschehen ist, muss angesehen und ausgesprochen werden. Die verbrannten Häuser und die vergewaltigten Frauen. Die geschleiften Stadtmauern Jerusalems und die Leichen, die in den Straßen liegen.
Wenn ich im Buch des Propheten Jeremias lese, graust mir. So wie bei den Erzählungen und Bildern der Kriege späterer Zeiten. Eine alte Frau erzählt mir, wie sie das Ende des zweiten Weltkrieges in Göttingen erlebte: hungrig, auf der Flucht vor Tieffliegern, im Luftschutzbunker. Bilder, die sich eingebrannt haben, die ein Leben lang bedrohlich geblieben sind. Ein Beispiel von unzähligen. Eine Erfahrung, die Menschen täglich machen, heute wie vor 73 Jahren, wie zur Zeit Jeremias.
Der Prophet sieht solche Bilder, erlebt solche Gräuel, und er sagt, was er sieht. Er mutet uns zu, genau wie er hinzusehen: In die Geschichte und in unsere Welt heute. Er mutet uns zu, seine Worte auf uns zu beziehen: Diese Erfahrungen sind nicht so weit weg, wie es uns oft scheint. Krieg und Gewalt betreffen uns hier, in Mitteleuropa, heute zwar meistens nicht unmittelbar – darüber können wir froh sein. Aber wir sind Teil der großen Zusammenhänge. Es ist eine Zumutung, sich das klar zu machen. Der Prophet Jeremias konfrontiert uns genau damit: Seht hin, auch wenn das Leiden weit weg zu sein scheint. Duckt euch nicht weg, auch wenn ihr meint, ihr könnt gar nichts tun.
III. „Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.“
Es ist eben nicht weit her mit unserer Weisheit und Stärke. Und unser Reichtum ist eher Grund zur Scham als Grund zum Selbstlob. Jeremia stellt menschliche Weisheit und Stärke radikal infrage. Er sieht im Streben nach materiellem Reichtum einen Grund für Krieg und Gewalt. Er ist einer der Ohnmächtigen, über die die Geschichte hinwegfegt. Das Jeremiabuch erzählt seine Lebensgeschichte als Spiegelbild der Geschichte des Gottesvolkes: Er soll Unheil verkündigen und gleichzeitig Hoffnung predigen. Er sieht unmäßige Gewalttaten und wird selbst mit dem Tod bedroht. Einsam und ohne Familie lebt er am Rande der Gesellschaft. Sein Reden bleibt erfolglos, er kommt ins Gefängnis, wird gefoltert, am Ende deportiert und getötet. Ohnmacht und Entsetzen sind der Lohn seiner Treue zu Gott und seinem Auftrag. Hat Jeremia umsonst gelebt?
IV. „Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr.“
Jeremia zeigt uns die Grenzen menschlicher Weisheit und Stärke, die Grenzen unseres Reichtums. Es ist nicht weit her damit – außer, dass wir uns für kurze Zeit in Sicherheit wiegen: „Ein Glück, dass es uns nicht getroffen hat!“ Jeremia schreckt uns auf aus solcher trügerischen Sicherheit. Und er fragt: Woher kommt eure Weisheit? Worin wurzelt eure Stärke? Woher habt ihr euren Reichtum? Und was fangt ihr damit an? Seht auf das, was in der Welt passiert – und seht auf Gott. Eure Weisheit ist dumm ohne seine Barmherzigkeit. Eure Stärke ist brüchig ohne sein Recht. Euer Reichtum tötet ohne seine Gerechtigkeit.
So reden Radikale. Jeremia ist ein Radikaler. Er ist ein radikaler Verfechter des Anspruches Gottes auf seine Menschen. Gottes Barmherzigkeit, sein Recht und seine Gerechtigkeit bleiben nicht verborgen. Gott will damit wirken in der Welt. Und er will uns dafür in Anspruch nehmen. Wie er das tut, erzählt uns das Matthäusevangelium im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg: Keiner arbeitet hier umsonst. Gott nimmt uns in Anspruch mit dem, was wir haben und was wir können. Auch die, die erst spät anfangen, auch die, die nur wenig Kraft haben: alle haben ihre Aufgabe, alle können etwas tun. Alle erleben Gottes Barmherzigkeit. Seine Gerechtigkeit rechnet nicht wie wir. Gott gibt, was er versprochen hat.
V. Worauf gründet unsere Weisheit? Was macht uns stark? Woran sind wir reich?
Jeremia fordert uns auf: Erkennt, dass alles, was ihr habt und könnt, von Gott kommt. Durch eure Fähigkeiten und Stärken will er in der Welt wirken. Durch eure Weisheit soll seine Barmherzigkeit erkennbar werde. Eure Stärke soll Gottes Recht zeigen. Euer Reichtum soll Gottes Gerechtigkeit dienen.
Wir könnten versuchen, die Übung, von der ich am Anfang erzählte, unter diesem Anspruch noch einmal zu machen: Zehn Weisheiten und Einsichten, die uns einleuchten. Zehn Fähigkeiten, die wir wirklich gut können. Zehn Dinge, an denen wir reich sind. Das alles ist kein Grund zum Selbstlob – es sind Güter aus Gottes Güte. Stellen wir sie unter seine Barmherzigkeit, unter sein Recht und seine Gerechtigkeit. Gott will wirken durch das, was er uns zutraut. Nichts ist umsonst.
Und der Frieden Gottes, der höher ist als all unser Denken und Tun, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.