Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn, Jesus Christus. Amen.
Predigttext: Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfangt. Denn er spricht (Jes 49,8): »Ich habe dich zur willkommenen Zeit erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit dieser Dienst nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben. (Luther 2017)
Liebe Gemeinde,
„als wir ihre Wohnung betraten, fanden wir überall die gelben „Post-It“ Zettelchen“, erzählt der Neffe. Er spricht von der Wohnung seiner Tante. Die ist sehr alt geworden und war ohne eigene Kinder geblieben, „aber wir, Neffen und Nichten, sind immer für sie da.“ Die Tante musste jetzt doch noch in das Pflegeheim, „Demenz“. Seine Schwester und er sollen ihre Wohnung auflösen.
„Es war ganz still, sogar die große Standuhr war verstummt“, sagt er. Sie fangen an, die Dinge zu sichten, nach wenigen Minuten lesen sie sich gegenseitig diese gelben Zettelchen vor und geben der alten Tante ihre Stimme zurück. „Telefon“, steht am Telefonhörer, „Waschmaschine“ klebt an der Waschmaschine, „Schlüssel nicht vergessen“ neben der Haustür und „Nachbarn grüßen“. Diese scharfsinnige Frau, die über Jahrzehnte das Gedächtnis der Familie war, vertraute ihr schwindendes Gedächtnis den kleinen Post-Its an. Neben dem Spiegel im Badezimmer steht „lächeln“ und am Radio „Musik“ und „Mitsingen“. „Wichtig“ klebt an den Fotoalben.
Jeder Zettel wirkt wie ein Widerstand gegen schwindende Erinnerung, wie ein Überlebenszeichen im Meer des Vergessen. Die Tante wollte nicht in der Gedankenleere versinken, sondern in ihrem vertrauten Leben bleiben. Der Apostel Paulus ruft trotzig: „In Nöten, in Ängsten, … und siehe, wir leben“. Die Tante behauptete sich ebenso trotzig gegen den Verlust ihrer Geschichten, der Namen und des höflichen Umgangs. Das mühevolle Festhalten an allem, was Alltag und Erinnerung ist, lebt von der Einsicht „und siehe, wir leben“. Wie ein gelbes Post-It, das auf allem, was untergehen könnte, wie ein gelbes Fähnchen flattert: „Und siehe, wir leben“. So der Apostel: „als die Sterbenden, und siehe, wir leben“, und das gleichzeitig in Angst und mit Mut, in Schuld und doch durch Vergebung, zugleich sterben und leben dürfen. Heute müssten solche Zettelchen an jeder Ecke im Wind flattern: Es ist Krieg, es herrscht Gewalt, es zieht Untergang auf, und auch durch unsere Gedanken weht es kühl, aber Paulus heftet ein „in Nöten, in Ängsten, … und siehe, wir leben“ an unseren Tag.
Während die beiden, Nichte und Neffe versuchen, die Dinge zu sortieren, lesen sie sich immer wieder fest. Er im Kochbuch seiner Großmutter. „Kochen im Krieg“ hatte Großmutter in das Kochbuch hineingeschrieben: „Graupensuppe“, „Kaffeeersatz herstellen“, „Steckrübensuppe mit Kümmel“ liest er laut vor. Erinnerungen an das Wenige, aus dem sie etwas machen mussten. Und die Nichte ist bei dem „wichtig“ Post-It, blättert im Fotoalbum. Jemand hatte einen Stapel alter Aufnahmen zwischen die Seiten gelegt, schwarz-weiße Fotos, unsortiert. Sie erkennt Bilder aus dem Krieg, Menschen rennen, hinter ihnen brennen Hütten. „Am Dnjepr“, steht auf einer Rückseite. Tote Pferde im Schnee. Menschen in Lumpen gekleidet, Arme über den Köpfen verschränkt. Krieg. Allein das Wort hatte den Blick der Tante finster werden lassen. Jetzt liegen die Fotos wie ein Kartenspiel auf dem Tisch. Neffe und Nichte erkennen einen Mann, er könnte ihr Großvater sein. Der trägt eine Uniform. Davon war in ihrer Familie nie die Rede gewesen. Ukraine, Dnjepr, Kriegswinter, diese Worte waren nie gefallen. „War Opa dabei?“ „Wichtig“, dieser Post-It hatte diesen Fotos gegolten.
Sie suchen den Dnjepr auf der Karte im Handy, sie landen in der Ukraine. Das Damals und die Bilder von Heute verschwimmen vor ihren Augen. Krieg, ist nicht Tantes Zeit. Krieg heute? Sie hatten ausgeschlossen, dass es das je wieder geben würde. Die Tante hatte den Krieg erlebt. Sie hätte hartnäckiger fragen sollen, mehr reden mit den Alten. Jetzt ist es zu spät.
Was ist, wenn wichtige Erinnerungen in Vergessenheit geraten? Die Tante beschrieb Post-Its, klebte sie überall hin. Sie hatte die Wohnung zum Ort der Erinnerung gemacht. Jetzt besitzen sie diese Erbschaft, die die Erinnerungen an damals aufweckt, an diese Zeit voller Schuld. Sie aber lebte für Frieden und Versöhnung, sie war gegen den „Nato-Doppelbeschluss“, beim ersten Golfkrieg ging sie demonstrieren, am 11. September 2001 ging sie in die Kirche, betete für den Frieden. Jetzt ahnen die beiden, welch schwere Erinnerungen auf ihr lasteten und zugleich steht ihnen diese scharfsinnige und kämpferische Frau vor Augen. Sie lebte in zwei Welten. Wie Paulus es schreibt „und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen“. Das ist wahr, die Tante war ihr Vorbild.
Ab heute ist Passionszeit, die Jahreszeit, in der wir unser Erinnerungsvermögen an Jesu Leben stärken. Sein Leiden und Sterben und gleichzeitig die Vorfreude auf Ostern rücken in den Blick. Jetzt ist vieles gleichzeitig: dieser Krieg, all die Not, die Ängste, die Schläge, die Enge, der Aufruhr, die Mühen, das lange Wachen. Alles lebt gleichzeitig in einem auf: Angst, Entsetzen, Hoffen, Suchen und all die Gebete. Selten sind die Ohren so hellwach und dankbar für das: „Und siehe, wir leben“-Signal.
„Und siehe, wir leben!“ Diese Botschaft klebt auf kleinen, häufig unsichtbaren Post-Its überall. Der Schatten des Krieges legt sich schlagartig über uns und das „Und siehe, wir leben“ bringt Licht in die Finsternis. Der Tag des Heils wirkt von den Nöten und der Bedrängnis vielleicht gebremst, aber er wird nicht ausgebremst. Und mit der Passion kommt die Auferstehung in den Blick. Manchmal wirkt es so, als lebten wir gleichzeitig in unterschiedlichen Zeitzonen, es gibt Krieg, Leid, Geschrei und ein kraftvolles „Und siehe, wir leben“.
Das Wichtigste nehmen die beiden an sich. Auch die schwarz-weiß Fotos mit dem Album, das Kochbuch und bringen es zur Tante. Die nimmt die Fotos zur Hand, fährt mit ihren Fingern liebevoll über das Bild, auf dem der Großvater zu sehen ist. „Nie wieder“, murmelt sie. Dann lacht sie auf und sagt es laut: „Nie wieder Krieg“. Das klingt energisch, als wäre sie Demonstrantin, wie damals.
Wenn der innere Halt sich auflöst und die Zusammenhänge des Lebens auseinanderfallen, dann gewinnt alles, was die Erinnerung aufhellt, an Bedeutung. Jedes Zettelchen entfaltet eine eigene Tragkraft, jede Hoffnung, die ein Mensch wachhält, hilft den anderen.
Und da kleben all diese Post-It-Zettelchen und flattern gelb im Wind: „Dienerin Gottes: in großer Geduld“, „Diener Gottes: in Bedrängnissen“, „Dienerin Gottes: in Nöten“, „Diener Gottes: in Ängsten“, „Dienerin und Diener, und siehe, wir leben“ und die alte Tante würde – wenn sie es noch könnte – ein „Lächeln“, ein „wichtig“, ein „Nachbarn grüßen“ dazu kleben.
Und der Friede Gottes, der höher ist, als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Fürbitte: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Matthäus 5,9
Mache mich zu deinem Kind, großer Gott, dass ich Frieden stifte und dem Krieg widerstehe, dem Kleinkrieg zuhause, im Hausflur, am Gartenzaun, in der Gemeinde, in mir selbst.
Lass mich Frieden stiften.
Mache uns zu deinen Kindern, großer Gott, dass von unserem Boden Frieden ausgehe, der alle erreicht, die im Schussfeld stehen, Frieden, der alle ermutigt, die sich vor die Panzer stellen, Frieden, der die beflügelt, die den Frieden wieder zum Ernstfall machen.
Lass uns Frieden stiften.
Wir sind deine Kinder, großer Gott, lege Frieden in unser Leben, ermutige die Bedrängten, tröste die Verzweifelten, bringe zurecht, die verwirrten Geistes sind, reiche du den Flüchtenden unsere helfenden Hände, lege Frieden in deine Welt, du großer Gott.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Kurortgemeinde, erste Sonnenhungrige kommen auf die Insel, Berliner*innen zum Ausspannen und die Gäste der nahen Kurklinik. Die Gemeinde vor Ort rüstet sich für die anlaufende Saison. Wirtschaftlich muss 2022 ein erfolgreiches Jahr werden. Die Nähe zu Polen, die Reaktionen in der Nachbarstadt Swinemünde steigern die Sorgen, die durch den Krieg geweckt sind.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Poesie der Lutherübersetzung und der Text, der sich dem Predigen widersetzt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Idee von René Enzenauer (16. Februar 2018) in der Facebook-Gruppe „Predigtkultur“. Er eröffnet mit folgendem Satz eine kurze, zielführende Diskussion: „Mich erinnert der 2. Kor 6,1-10 irgendwie an Schrödingers Katze. Mit gleichzeitig tot und lebendig und so - bis einer nachmisst.“
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Coachin hat für die nötige Konzentration gesorgt. Danke für die Geduld auch bei der aktuellen Überarbeitung, die aktuelle Situation hat es verlangt.