Unnahbar nah - Predigt zu Jesaja 6,1-8 von Martina Janßen
6,1-8

I. Als Kind habe ich es geliebt, auf einer Wiese zu liegen und nach oben in den Himmel zu sehen. Wie eine riesige blaue Leinwand erschien mir damals der Himmel, und die Wolken erzählten Geschichten von Burgen, die sanft auseinanderfielen, von Schafen und Nebelfeen und von Dinosauriern, die langsam dem Horizont entgegen wanderten. Inmitten all dieser Bilder war sie dann plötzlich da, eine kleine Schleierwolke. Wie der Zipfel eines langen weißen Bartes sah sie aus und ich war mir sicher: Da ist der liebe Gott, so nah, dass ich ihn fast berühren und ihn vorsichtig am Bart zupfen kann. Nur ein kurzer Moment an einem ganz normalen Juninachmittag. Dann hatte der Wind die Wolken zerstoben und der liebe Gott war wieder in seinem Versteck irgendwo im unendlichen Blau des Sommerhimmels verborgen. Aber ich habe ihn gesehen, Gott war da, unnahbar nah. Mein kleines Kindergeheimnis. Manchmal ertappe ich mich noch heute dabei, ihn zwischen den Wolken zu suchen.

II. Möchten Sie ihn auch mal sehen? So ganz in echt? Nicht nur auf Gemälden oder Bildern, die die Fantasie malt, sondern von Angesicht zu Angesicht? Dann sind Sie nicht allein. Schon Mose wollte Gott sehen: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen! [...] Und Gott sprach: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ (Ex 33,18-20). Das ist wohl als ein „Nein“ zu verstehen. Nein, du darfst mich nicht sehen, Mose. Aber eines darf Mose dann doch: „Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, stelle ich dich in den Felsspalt und halte meine Hand über dich, bis ich vorüber bin. Dann ziehe ich meine Hand zurück und du wirst meinen Rücken sehen.“ (Ex 33,22f).  Wenn Gott an Mose vorübergezogen ist, dann darf Mose sich umdrehen und Gott nach sehen, darf Gott hinterher sehen, ihn von hinten sehen. Immerhin. Manche haben mehr als Mose gesehen, mehr als nur Gottes Spuren im Vorübergehen. Jesaja war einer von ihnen.

Jesaja 6,1-8: „In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch. Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei. Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!

Jesaja blickt nicht nur durchs Schlüsselloch in ferne Welten, er steht mitten im himmlischen Thronsaal. Dort sieht er mehr als er ertragen kann: Einen Saum, der den Tempel füllt, himmlische Heerscharen, Rauch und Hymnen, bebende Schwellen – und Gott selbst, „heilig, heilig, heilig“. Jesaja hält seine Vision kaum aus, und die Wahrheit, die dahinter steht, noch viel weniger. Gott zu sehen, ihm zu begegnen, ist nicht ohne. „Wer darf auf des HERRN Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist… (Psalm 24,3f). Wer hat das schon, immer und überall? Wer kann dem Heiligen schon in die Augen sehen? Die Seraphim, jene gewaltigen Engelswesen, die in der Hierarchie der himmlischen Heerscharen nicht gerade unten stehen, jedenfalls nicht. „Mit zwei Flügeln bedeckten sie ihr Antlitz.“ Zu blendend die Herrlichkeit, zu gleißend das Licht, zu hell ist Gott. Wer direkt in die Sonne sieht, wird geblendet, blind, die Netzhaut verbrennt. Wenn es zu hell wird, muss man sich schützen, sei es mit einer Sonnenbrille, sei es mit bloßen Händen oder auch mit Flügeln. Nicht anders ist es mit Gottes Herrlichkeit. Sehenden Auges erträgt man sie nicht. Und Jesaja, der Visionär, der Seher? Er schaut Gott doch – ohne Schirm und Schutz, Auge in Auge, von Angesicht zu Angesicht. Das bleibt nicht folgenlos: „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.“  Da sind so viel Größe, Licht und Herrlichkeit und und da ist Jesaja – so klein, so schuldig, so unwürdig. Das kann nicht gutgehen.  „Denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ (Ex 33,20). Eine Begegnung auf Augenhöhe sieht anders aus. Und doch: Jesaja sieht Gott, aber er vergeht nicht. Seine Schuld wird durch Engelshand gesühnt. Nur so geht es. Des Engels Hand an des Sünders Lippen. Christi Blut für dich vergossen. Gottes Schutz und Schirm, sein Schatten, „dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.“ (Psalm 121,6).

III. Als ich größer wurde, wollte ich mehr über Gott wissen und habe Theologie studiert. Wenn ich Gott mit meinen Augen schon nicht sehen kann, kann ich ihn dann mit meinem Verstand begreifen? Anders gefragt: Wer ist Gott und wenn ja wie viele? Die altkirchlichen Theologen hatten darauf eine Antwort. Aller guten Dinge sind drei. Auch Gott: Vater, Sohn, Heiliger Geist, heilig, heilig, heilig. Die „drei“ steht für Vollkommenheit, für drei Facetten, drei Personen, drei Rollen: Schöpfer, Erlöser, Tröster. Wie ein Vorhang, der drei Falten wirft und doch einer ist. Vater, Bruder, Kraft. Das alles ist Gott – und er ist doch noch so viel mehr. Vielleicht ist ja auch die Dreifaltigkeit letztlich nur ein kleines Gedankenspiel großer Theologen, um das Unbegreifliche begreifbar zu machen? Denn Gott ist immer mehr als das, was wir denken, definieren und deklarieren; immer bleibt etwas verborgen in ihm, immer bleibt etwas unbegreiflich. Martin Luther nannte das den deus absconditus, den verborgenen Gott, den, den weder Herz noch Verstand fassen können, fern und drohend, finster und dunkel, den Gott, der tobt und tötet, prüft und peinigt, den Gott, der diese Welt loslässt und uns allein lässt. Auch das ist Gott. Nicht nur helle Facetten, auch dunkle Seiten, Tabu- und Todeszonen. Da sagen wir nicht wie Jesaja: „Hier bin ich!“, sondern fragen: „Wo bist du – Vater, Sohn, Heiliger Geist? „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2). Da verstummen dann „Heilig, Heilig, Heilig“, „Hallelujah“ und all die Hymnen. Was bleibt ist Schweigen. Und doch – irgendwo am Saum des Schweigens in der Finsternis der Gottverlassenheit erhebt sich Gottes Wort aufs Neue. „Es werde Licht.“ (Gen 1,3). Nie verstehen wir ganz, wir sehen nie klar, immer nur schemenhafte Schatten, flüchtige Bilder, halbfertige Skizzen. So viel wir von Gott auch zu sehen und zu verstehen glauben, wir stochern doch am Ende nur im Nebel. Vielleicht wissen die am meisten von Gott, die nichts wissen. „Negative Theologie“ nennt man das. Gottes Gestalt – so ein anonymer Theologe aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert – „kann weder ein Verstand verstehen, noch wird ein Wort ihn vermitteln können, noch wird ein Auge ihn sehen können, noch wird ein Körper ihn ergreifen können, wegen seiner unergründbaren Größe und seiner unbegreifbaren Tiefe und seiner unmessbaren Höhe und seines unerfassbaren Willens.“ (Tractatus Tripartitus [NHC 1,5] 54,15-24). Auch so geht es von Gott zu reden: Ich sehe ein, dass ich dich nicht sehen kann; ich weiß, Gott, dass ich nichts weiß, dass ich nichts von dir weiß. Und doch preise ich dich. „Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth.“ Klingt paradox, ist aber wahr. Gott ist da, unnahbar nah.

IV. Wir brauchen sie, die großen Visionen der kleinen Propheten, die naiven Kinderbilder und die komplexen Gedankenkonstruktionen, wir brauchen all die Versuche, Gott zu sehen mit den Augen des Leibes und mit den Augen des Verstandes. Das ging schon Jesu Jüngern so. Thomas konnte erst an den Auferstandenen glauben, als er seine Wundmale gesehen und sie ertastet hatte. Erst dann ging es ihm über die Lippen zu sagen, wer Gott ist. „Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ (Joh 20,28f). Wir brauchen Bilder und Gedanken, um uns an Gott heranzutasten, ihn nahbar zu machen. Das ist menschlich, allzu menschlich. Aber das kann nicht alles, das kann nicht das Entscheidende sein. Gott ist anders und immer mehr. All unser Sehen und Verstehen gerät bei Gott an Grenzen. Am Ende kommt es auf den Glauben an, auf das blinde Vertrauen in den, der zu uns gesagt hat: Ich bin da. „Glauben ist das Finden eines du, das mich trägt.“ (Joseph Ratzinger). Von all den klugen Sätzen, die ich gelesen habe, hat sich dieser Satz mir besonders eingeprägt. Getragen von Gott gehe ich durch mein Leben und auch wenn ich meine zu fallen – da ist einer, „welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält“ (Rainer Maria Rilke). Es ist dieser Glaube, der mich auf Gottes Spur setzt, in diesem Glauben finde ich ihn, seine Spuren im Vorübergehen – sei im Spiel der Schleierwolken, sei in einer Berührung, die meine Lippen heilt, sei in den aparten Abstraktionen und grandiosen Gedankengängen der Theologen. Er ist da, unnahbar nah. Im Schatten seiner Herrlichkeit lebe ich und falle nicht. „Hier bin ich, Herr, sende mich.“ (Jes 6,8).

Amen

Das Zitat aus dem Tractatus Tripartitus (NHC 1,5) ist entnommen aus Gerd Lüdemann/Martina Janßen, Unterdrückte Gebete. Gnostische Spiritualität im frühen Christentum, Stuttgart 1997, S. 95.

Perikope
04.06.2023
6,1-8